Rz. 1

Die Finanzbehörden haben nach § 85 AO die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu diesem Zweck den Sachverhalt nach § 88 Abs. 1 S. 1 AO von Amts wegen zu ermitteln. Daraus ergibt sich als allgemeines Beweismaß, dass der Sachverhalt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen ist und kein vernünftiger Zweifel mehr bestehen darf.[1] Eine subjektive Beweis- oder Beweisführungslast ist damit nicht vereinbar. Im Steuerrecht bestehen lediglich objektive Beweislastregeln, die bestimmen, welche Seite die Folgen einer endgültigen und nicht zu behebenden Unbeweisbarkeit tragen müssen.[2] Andererseits lässt sich in der Praxis ein solches hohes Maß an Beweisbarkeit häufig nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreichen, sei es, dass sich die Tatsachen objektiv kaum mehr ermitteln lassen, sei es, dass der Sachverhaltsaufklärung infolge der Verletzung von Mitwirkungspflichten des Stpfl. hohe Hürden entgegenstehen. An die Stelle der Sachverhaltsfeststellung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tritt dann die Schätzung. § 162 AO ist eine notwendige Ergänzung des Grundsatzes der dem Gesetz entsprechenden Besteuerung, § 85 AO, des Amtsermittlungsprinzips, § 88 AO, der Vorschriften über die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen, §§ 92ff. AO, und eine Konkretisierung der Regeln über die objektive Beweislast. Da das Steuerrecht, wie sich aus § 88 AO ergibt, regelmäßig keine subjektive Beweislast kennt und sich die Situation ergeben kann, dass die Beweismittel der §§ 92ff. AO nicht zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen führen, muss das Gesetz dafür Vorsorge treffen, dass auch in diesen Fällen eine Steuer festgesetzt werden kann. Dabei geht die Vorschrift in ihrem Grundtatbestand des Abs. 1 nicht davon aus, dass der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten verletzt hat, sondern dass eine unverschuldete objektive Unmöglichkeit der Ermittlung besteht. Das kann insbesondere bei Bewertungsfragen und anderen Fragen, bei denen ein Beurteilungsspielraum besteht, der Fall sein.[3] Im Unterschied zu den Vorschriften über das Beweisverfahren bezieht sich § 162 AO nämlich nur auf numerische und ähnliche Verhältnisse[4], während sich §§ 92ff. AO auch auf reine Tatsachen beziehen.

 

Rz. 2

Die festgesetzte Steuer in Schätzungsfällen ist nur zufällig sachlich richtig, da eine gewisse Unsicherheit zum Wesen der Schätzung gehört. Sie ist aber gesetzmäßig festgesetzt, wenn sie sich in diesem dem Prinzip der Schätzung innewohnenden Rahmen der Abweichung von der tatsächlich entstandenen Steuer hält.[5] Die Legitimation dieser Steuer ist dann nicht ihre sachliche Richtigkeit, sondern die gesetzmäßige Anwendung der Verfahrensvorschriften, die zu ihrer Ermittlung geführt haben.

 

Rz. 3

Aus der Pflicht der Finanzbehörde, die Steuer festzusetzen[6], folgt, dass die Verwaltung erforderlichenfalls von § 162 AO Gebrauch machen muss.[7] Ein Absehen von der Steuerfestsetzung, weil sich die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln lassen, ist nicht zulässig. § 162 Abs. 1, 2 AO räumt der Finanzbehörde daher keinen Ermessensspielraum ein, und zwar weder ein Entschließungsermessen, d. h. bei der Frage, ob geschätzt werden soll, noch bei dem Auswahlermessen, d. h. der Höhe der geschätzten Besteuerungsgrundlage. Sind die Besteuerungsmerkmale in zumutbarer Weise ermittelbar, darf keine Schätzung erfolgen, und zwar weder dem Grunde noch der Höhe nach. Sind sie nicht ermittelbar, muss die Finanzbehörde schätzen. Sie kann nicht im Rahmen eines Ermessens von der Schätzung absehen. Das gilt auch für die Höhe der Schätzung. Es ist das Ergebnis mit der größten Wahrscheinlichkeit zu schätzen, liegt also nicht im Ermessen der Finanzbehörde. Da die Schätzung Rechtsanwendung, nicht Ermessensentscheidung ist, ist sie auch durch die Gerichte in vollem Umfang nachprüfbar. Erforderlichenfalls hat das FG selbst die Schätzung durchzuführen; demgemäß ist § 162 AO nach § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 FGO auch im finanzgerichtlichen Verfahren anwendbar.

 

Rz. 4

§ 162 AO ist eine Vorschrift des Steuerfestsetzungsverfahrens und bei allen Verfahren anwendbar, für die die Vorschriften der Steuerfestsetzung, §§ 155ff. AO, gelten, also neben dem Steuerfestsetzungsverfahren insbesondere für das Vergütungs- und Feststellungsverfahren. Im Haftungsverfahren ist § 162 AO unmittelbar nicht anwendbar, da die Haftung die Ermittlung der Steuer, für die gehaftet wird, voraussetzt. Die Ermittlung der der Haftung zugrunde liegenden Steuer kann aber auf Schätzung beruhen.[8] Keine Anwendung findet § 162 AO im Erhebungsverfahren. Anrechenbare Lohn- oder KapESt dürfen daher nicht nach § 162 AO geschätzt werden, da diese Faktoren im Erhebungsverfahren zu berücksichtigen sind.[9] Zur Anwendung im Strafverfahren vgl. Rz. 211.

 

Rz. 5

§ 162 AO ist erst anwendbar, wenn die Beweisvorschriften (einschließlich der Vorschriften über die objektive Beweislast) kein Ergebnis erbracht haben. Soweit der Stpfl. bei Nichtermittlung die objektive Beweislast trägt, d. h. bei ste...

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