Revision eingelegt (BFH III R 58/20)

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld: Anwendung der Wohnsitzfiktion bei gemeinsamen Wohnsitz beider Elternteile im EU-Ausland Verhältnis zwischen steuerrechtlichen und sozialrechtlichen Kindergeldanspruch

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Wohnsitzfiktion aus Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 findet auch in den Fällen Anwendung, in denen beide Elternteile ihren gemeinsamen Wohnsitz im EU-Ausland haben.

2. Der steuerrechtliche Kindergeldanspruch des vorrangig kindergeldberechtigten Elternteils wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass der andere Elternteil die Voraussetzungen des§ 1 Abs. 1 BKGG für die Gewährung eines sozialrechtlichen Kindergeldanspruchs erfüllt.

3. Die öffentliche Bekanntgabe eines Aufhebungsbescheids ist unwirksam, wenn die Familienkasse zuvor weder einen Bekanntgabeversuch an die ihr bekannte letzte inländische Anschrift des betroffenen Elternteils unternommen noch geeignete Nachforschungen zur Ermittlung der Anschrift im EU-Ausland angestellt hat.

 

Normenkette

EStG § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 S. 1; BKGG § 1 Abs. 1; VwZG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; EGVO-883/2004 Art. 12, 16, 67 S. 1; EGVO 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin für ihre drei Kinder für den Zeitraum von Oktober 2017 bis Juli 2018.

Die Klägerin ist die Mutter der Kinder A (geboren am xx.xx.2006), C (geboren am xx.xx.2010) und E (geboren am xx.xx.2012). Die Kinder lebten im Streitzeitraum im gemeinsamen Haushalt ihrer Eltern. Vater der Kinder ist der Ehemann der Klägerin, der seit dem 1. September 2015 in Brüssel tätig ist. Die Klägerin zog im August 2015 mit ihrem Ehemann und den drei Kindern von G nach Brüssel. Die von der Klägerin und ihrer Familie bewohnte Eigentumswohnung in der F-Straße 4 in G wurde nach dem Umzug befristet vermietet.

Der Ehemann der Klägerin wurde von seinem im Inland ansässigen Arbeitgeber zunächst vom 1. August 2015 bis zum 31. Juli 2017 in dessen Büro nach Brüssel entsandt. Anlässlich der Verlängerung der Entsendung wurde eine Ausnahmevereinbarung gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 883/2004) abgeschlossen, nach der für den Ehemann der Klägerin für den Zeitraum vom 1. August 2017 bis zum 31. Juli 2019 weiterhin die deutschen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit galten.

Auf den Kindergeldantrag der Klägerin vom 31. August 2012, in dem der Ehemann der Klägerin sich mit der Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin einverstanden erklärte, zahlte die Familienkasse I (Familienkasse) das Kindergeld für die drei Kinder an die Klägerin. Im Kindergeldantrag gab die Klägerin ihre Anschrift mit K-Straße 9 in G an.

Nachdem die Familienkasse im September 2017 Kenntnis vom Umzug der Klägerin nach Belgien erhalten hatte, stellte sie die Zahlung des Kindergeldes ein. Nach einer Abfrage der Familienkasse zu den Stammdaten der Klägerin vom 14. November 2017 hatte die Klägerin ihre Anschrift bis zum 13. Oktober 2013 in der K-Straße 9 in G und ab dem 14. Oktober 2013 in der F-Straße 4 in G. Ab dem 12. August 2015 war die Anschrift mit "Belgien" angegeben.

Mit Bescheid vom 16. November 2017 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes für A, C und E gegenüber der Klägerin gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab September 2015 auf und forderte das für den Zeitraum von September 2015 bis September 2017 gezahlte Kindergeld in Höhe von … € zurück. Die Klägerin habe ab September 2015 keinen inländischen Wohnsitz mehr gehabt. Der Bescheid wurde von der Familienkasse öffentlich zugestellt. Die Benachrichtigung gemäß § 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) wurde vom 29. November 2017 bis zum 9. Januar 2018 bei der Familienkasse ausgehängt.

Mit Schreiben vom 15. April 2019 übersandte die Familienkasse den Bescheid vom 16. November 2017 an die von der Klägerin zuvor mitgeteilte Anschrift in Brüssel, nachdem ein vorheriger Zustellversuch aufgrund unvollständiger Angabe der Anschrift gescheitert war. Im Text des Schreibens wies die Familienkasse darauf hin, dass das Original des Bescheids übersandt werde. Dem Schreiben war der als "Entwurf" gekennzeichnete Bescheid vom 16. November 2017 beigefügt, an dessen Ende sich ein Verfügungsteil befand.

Mit Schreiben vom 2. Mai 2019 legte die Klägerin Einspruch gegen den Bescheid vom 16. November 2017 ein. Im Einspruchsverfahren ging die Zuständigkeit für die Gewährung von Kindergeld an die Klägerin aus organisatorischen Gründen von der Familienkasse auf die Beklagte über.

Mit Einspruchsentscheidung vom 16. Juli 2019 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG für einen Anspruch auf Kindergeld seien im Streitfall nicht erfüllt. Die Klägerin habe im streitigen Zeitraum weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthal...

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