Leitsatz

1. Sind vom Steuerpflichtigen in seiner Steuererklärung angegebene Einkünfte im Einkommensteuerbescheid nicht berücksichtigt worden, weil die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich nicht eingescannt und die angegebenen Einkünfte somit nicht in das elektronische System übernommen wurden, liegt ein mechanisches Versehen und somit grundsätzlich eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO vor.

2. Ein mechanisches Versehen ist nicht mehr gegeben, sondern es liegt ein Fehler im Bereich der Sachverhaltsermittlung nach § 88 AO vor, wenn der Sachbearbeiter eine weitere Sachverhaltsermittlung unterlässt, obwohl sich ihm aufgrund der im Rahmen des Risikomanagementsystems ergangenen Prüf- und Risikohinweise eine weitere Prüfung des Falles hätte aufdrängen müssen.

 

Normenkette

§ 88, § 129 Satz 1 AO

 

Sachverhalt

Die Kläger reichten ihre Einkommensteuererklärung, mit der sie erstmals die Zusammenveranlagung beantragten, auf dem amtlichen Vordruck beim FA ein. Sie erklärten Einkünfte des Klägers aus selbstständiger Arbeit i.H.v. 128.641 EUR sowie Einnahmen der Klägerin aus nichtselbstständiger Arbeit i.H.v. 28.552 EUR. Bei der elektronischen Erfassung der Einkommensteuererklärung durch den Veranlagungsbezirk wurde die Anlage S zur Einkommensteuererklärung versehentlich nicht eingescannt, sodass die Einkünfte des Klägers aus selbstständiger Arbeit im elektronischen Veranlagungssystem des FA nicht erfasst wurden. Nach maschineller Überprüfung der eingescannten Daten im Rahmen eines Risikomanagementsystems gingen im Veranlagungsbezirk des FA folgende Prüf- und Risikohinweise ein:

„PHW 4706: Da der Ehemann/die Ehefrau Einkünfte von weniger als 4.200 EUR erzielt hat, ist zu prüfen, ob er/sie ggf. ohne eigene Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung familienversichert ist und der verringerte Höchstbetrag zu den sonstigen Vorsorgeaufwendungen ... einzugeben ist. ...

RHW 1577: ... Es wurden abweichende Erklärungswerte gespeichert. Der Fall wird daher als risikobehaftet gezählt.

RHW 5401: ... Es handelt sich um eine Zusammenveranlagung. Im Vorjahr erfolgten eine Einzelveranlagung bzw. getrennte Veranlagung. Der Risikofilter kann keine zutreffenden Vorjahresvergleiche durchführen. Der Fall ist personell zu prüfen. Ggf. unter einer anderen Steuernummer festgesetzte Vorauszahlungen sind umzubuchen.”

Die Sachbearbeiterin versah den Prüfhinweis mit dem handschriftlichen Vermerk "EM = Eink. § 18 EStG" und die Risikohinweise jeweils mit einem Haken. In der für den Kläger geführten Bilanzakte nahm sie unterhalb der Angabe "Jahresüberschuss nach Steuerrecht 128.641,00 EUR" einen weiteren handschriftlichen Vermerk zu einem Investitionsabzugsbetrag vor. Ferner trugen die Sachbearbeiterin und der Sachgebietsleiter in der "Anlage Finanzamtsdaten" geänderte Werte zu den Vorsorgeaufwendungen ein.

Die Einkünfte des Klägers aus selbstständiger Arbeit blieben im Einkommensteuerbescheid unberücksichtigt. Erst bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen für das Folgejahr stellte das FA die Nichterfassung der Einkünfte fest. Daraufhin änderte es den Einkommensteuerbescheid nach § 129 Satz 1 AO und legte die Einkünfte des Klägers der Besteuerung zugrunde. Einspruch und Klage der Kläger (FG Düsseldorf, Urteil vom 16.2.2017, 14 K 3554/14 E, Haufe-Index 10964622, EFG 2017, 1315) hatten keinen Erfolg.

 

Entscheidung

Die Revision der Kläger hatte Erfolg. Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und der Klage stattgegeben.

 

Hinweis

1. Nach dem BFH-Urteil kann aus einer offenbaren Unrichtigkeit i.S.d. § 129 Satz 1 AO ein – diese Korrekturvorschrift ausschließender – Fehler in der Sachverhaltsermittlung werden. Völlig unstreitig lag im vorliegenden Fall zunächst ein mechanisches Versehen und eine offenbare Unrichtigkeit i.S.d. § 129 Satz 1 AO vor, da das FA beim Einscannen der Einkommensteuererklärung die Anlage S des Klägers übersehen hatte, sodass dessen Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit im elektronischen System des FA nicht erfasst worden waren. Wäre es dabei geblieben, wären die Voraussetzungen des § 129 AO erfüllt und der Fehler zu korrigieren gewesen, da es sich nicht um einen Tatsachen- oder Rechtsirrtum oder einen sonstigen Denk- oder Überlegungsfehler handelte, der die Anwendung des § 129 AO ausschließt. Zu dem Sachverhalt, der eine offenbare Unrichtigkeit begründen kann, können auch elektronisch gespeicherte Daten, wie hier die im Veranlagungsprogramm erfassten Daten, gehören, sofern sie ohne Weiteres sichtbar gemacht werden können.

2. Ein mechanischer Fehler bei der Digitalisierung der Einkommensteuererklärung kann jedoch dann nicht mehr zu einer Korrektur nach § 129 AO führen, wenn sich dem Sachbearbeiter des FA beim Erlass des Steuerbescheids der Fehler aufgrund der Prüfhinweise des Risikomanagementsystems aufdrängen musste. Der BFH hat mit der vorliegenden Entscheidung der bisher sehr finanzamtsfreundlichen Rechtsprechung Grenzen gesetzt, die einer Korrektur nach § 129 AO selbst bei einer besonders oberflächlichen Behandlung...

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