Rn. 35

Stand: EL 139 – ET: 10/2019

Die "wirtschaftliche Betrachtungsweise" begleitet die Dogmatik des Steuerrechts allg und speziell die der Bilanzierung. In der Dogmatik des Bilanzsteuerrechtes erscheint die wirtschaftliche Betrachtungsweise regelmäßig als Kontrapart zur formalrechtlichen. Nicht die äußere Form eines Rechtsgeschäfts soll der Bilanzierung zugrunde gelegt werden, sondern der wirtschaftliche Gehalt. Die Auslegung von Vorschriften des materiellen Bilanzrechts erfolgt ebenso wie die Beurteilung abzubildender Sachverhalte in wirtschaftlicher Betrachtungsweise (zB Moxter, Bilanzlehre, Bd II, 3. Aufl 1986, 23, 26f; Moxter, StuW 1989, 232; Beisse in Festschrift Welf Müller, 2001, 739; Weber-Grellet in Schmidt, § 5 EStG Rz 59 (38. Aufl 2019)). Entsprechend des wesentlichen Bilanzwecks – zutreffende Erfassung der den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden gläubigerschutzwahrenden Ausschüttungsfähigkeit bzw der hieraus grds maßgeblichkeitsgestützt abgeleiteten steuerlichen Leistungsfähigkeit – ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise im Bilanzrecht wesentlicher Anwendungsfall teleologischer Gesetzesauslegung (BFH v 07.08.2000, GrS 2/99, BStBl II 2000, 632; Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, 1996, § 5 Rz 6; Breidert/Moxter, WPg 2007, 913ff; Arbeitskreis Bilanzrecht Hochschullehrer Rechtswissenschaft, NZG 2014, 894; Florstedt/Wüstemann/Wüstemann, StuW 2015, 374, 381). Sie ist zum einen darauf gerichtet, gesetzliche Tatbestandsmerkmale nach ihrem bilanziellen Sinn und Zweck zu erfassen (BFH v 25.05.2016, I R 17/15, BStBl II 2016, 930; Priester, DB 2016, 1025,1027), zum anderen darauf, den Gehalt eines Sachverhalts unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Vereinbarung wirtschaftlich orientiert zu beurteilen (BFH v 20.05.1992, X R 49/89, BStBl II 1992, 994: "Zwar ist an das Schuldrecht anzuknüpfen, jedoch der durch die bilanzrechtlichen Zwecke gebotenen wirtschaftlichen Betrachtungsweise Raum zu geben.").

 

Rn. 36

Stand: EL 139 – ET: 10/2019

IRd steuerlichen Gewinnermittlung hat die wirtschaftliche Betrachtungsweise ganz zentrale Bedeutung im Hinblick auf den Bilanzansatz

  • für die Aktivseite insb im Hinblick auf die Frage von der Zivilrechtslage abweichender personeller Zurechnung von WG zum sog wirtschaftlichen Eigentümer als Aktivierungsvoraussetzung etwa bei Options- u Doppeloptionsgeschäften, beim Leasing, bei Pensionsgeschäften etc u damit eng verbundene Realisationsfragen,
  • für die Passivseite im Hinblick auf die Beurteilung wirtschaftlicher Verursachung von Verpflichtungen/wirtschaftlicher Belastung als Passivierungsvoraussetzung.

Die wirtschaftliche Betrachtungsweise spielt ebenso eine wesentliche Rolle bei der Zugangs- u Folgebewertung (zB Lüdenbach, StuB 2019, 15, 16).

Dem vorausgehend ist die wirtschaftliche Betrachtungsweise auch bereits bei der Frage zu berücksichtigen, ob durch eine zivilrechtliche Gestaltung ggf ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt wird u das formal vereinbarte Geschäft bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise in ein anderes umzudeuten und der Besteuerung zugrunde zu legen ist (zB Umdeutung eines Kaufs mit – a priori bzgl aller Konditionen fixer – Rückkaufvereinbarung in ein bloßes Nutzungsrecht, eines Doppeloptionsgeschäfts in einen Kauf etc).

 

Rn. 37

Stand: EL 139 – ET: 10/2019

 

Beispiel: Verdecktes Kreditgeschäft

Wird die Rahmen eines Anschaffungsgeschäfts vereinbarte Gegenleistung erst mehr als 12 Monate nach dem Anschaffungszeitpunkt (Übergang wirtschaftlichen Eigentums) fällig, liegt ein verdecktes Kreditgeschäft vor; die vereinbarte Gegenleistung enthält neben dem Kaufpreis die kumulierten Zinsen. AK liegen nur iH des Barwerts vor, die (verdeckten) Finanzierungskosten sind keine AK-Bestandteile.

Da wirtschaftlich ein Darlehen vorliegt, führt der enthaltene rechnerische Zinsanteil zu BA (bzw WK), wenn das angeschaffte WG der Einkünfteerzielung dient (BFH v 26.01.1999, VIII R 32/96, BFH/NV 1999, 922; BFH v 10.04.1991, XI R 7, 8/84, BStBl II 1991, 791 (Stundung von Gleichstellungsgeldern als Teilentgelt bei vorweggenommener Erbfolge); BFH v 07.07.1983, IV R 47/80, BStBl II 1983, 753; BFH v 11.12.1986, IV R 222/84, BStBl II 1987, 553; BFH v 21.10.1980, VIII R 190/78, BStBl II 1981, 160; BFH v 25.02.1975, VIII R 19/70, BStBl II 1975, 647 (zur GewSt)). Da die gestundete Gegenleistung einen (wenngleich verdeckten) Zinsanteil enthält, liegt zudem gerade keine unverzinsliche Verbindlichkeit vor, die nach in § 6 Abs 1 Nr 3 EStG abzuzinsen wäre.

 

Beispiel: Kauf mit (bedingtem) Rücktrittsrecht (nach BFH v 25.01.1996, IV R 114/94, BStBl II 1997, 382)

Eine Bauträgergesellschaft verkauft rechtswirksam ein fertiggestelltes Gebäude an eine Vermarktungsgesellschaft. Im Kaufvertrag wird Letztere zum Rücktritt u Rückgabe zu unverändertem Preis innerhalb von zwei Jahren berechtigt, sofern ihr innerhalb dieses Zeitraums der Weiterverkauf oder die Finanzierung des Objektes nicht gelungen ist.

Der BFH hat der steuerlichen Behandlung entsprechend der förmlichen Vereinbarung zutreffend auch "wirtschaftlic...

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