Leitsatz

Die Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt – auch hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung – allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU benötigt der Unionsbürger gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz, will er sich weiterhin legal in Deutschland aufhalten und Kindergeld beanspruchen.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 2 EStG, § 2, § 11 Abs. 2 FreizügG/EU, Art. 21 Abs. 1 AEUV

 

Sachverhalt

Der Kläger ist bulgarischer Staatsbürger und wohnt seit März 2010 mit seiner 2004 geborenen Tochter und dem 2011 geborenen Sohn in Deutschland. Im Kindergeldantrag teilte er mit, er sei weder unselbstständig noch selbstständig erwerbstätig und in Deutschland auch nicht sozialversichert. Die Familienkasse erbat daraufhin ohne Erfolg Auskunft, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreite. Nach erneuter Nachfrage teilte seine Ehefrau mit, dass ihre Schwiegermutter für den Unterhalt der Familie sorge. Die Schwiegermutter betreibe ein Gewerbe als Raumpflegerin. Der Kläger, sie – seine Ehefrau –, die beiden Kinder sowie die Mutter des Klägers wohnten zu fünft in einer Einzimmerwohnung mit ca. 37 qm Wohnfläche, deren Hauptmieterin die Mutter des Klägers sei.

Im Mai 2012 erhielt der Kläger eine Freizügigkeitsbescheinigung (§ 5 FreizügG/EU a.F.). Die Familienkasse setzte daraufhin für beide Kinder Kindergeld ab Mai 2012 fest und lehnte zugleich den Antrag für die Tochter und den Sohn bis April 2012 ab.

Das FG wies die Klage – im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen – ab, weil die tatsächlichen Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG zweifelhaft waren und der bulgarische Kläger seine Mitwirkungspflicht verletzt hatte (FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22.4.2015, 12 K 12140/13, Haufe-Index 8131793, EFG 2015, 1457).

 

Entscheidung

Der BFH gab der Klage statt, weil die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit von Unionsbürgern allein den Ausländerbehörden obliegt.

 

Hinweis

Nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer unterliegen den Einschränkungen des § 62 Abs. 2 EStG; ihre Kindergeldberechtigung hängt von ihrem Aufenthaltstitel und ihrer Integration in den Arbeitsmarkt ab. Der BFH betrachtet diese Regelung als verfassungsgemäß, obwohl das BVerfG wortgleiche Regelungen im BEEG und BErzG wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG für nichtig erklärt hat. Eine Vorlage dazu ist seit drei Jahren beim BVerfG anhängig.

1. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Bürgern nachträglich beigetretener Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft ist in der Vergangenheit mehrfach für eine Übergangszeit beschränkt worden. Für bulgarische und rumänische Staatsangehörige hat die Bundesregierung eine Beschäftigung bis Ende 2013 von einer Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit abhängig gemacht (§ 284 SGB III); nur bei vorliegender Genehmigung findet das FreizügG/EU Anwendung.

Darüber hinaus besteht auch nach deutschem Recht Freizügigkeit für zahlreiche andere Gruppen von Unionsbürgern, z.B. niedergelassene selbstständige Erwerbstätige, Empfänger von Dienstleistungen, Familienangehörige usw. (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 ff.). Das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht nicht erwerbstätiger Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen setzt jedoch voraus, dass sie über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen (§ 4 FreizügG/EU).

2. Für Angehörige eines Mitgliedstaates gilt gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV ein von der Arbeitnehmer-Freizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt und aus dem sich ein Aufenthaltsrecht ergibt. Dieses unmittelbar anwendbare subjektiv-öffentliche Recht steht Unionsbürgern, und zwar auch den Angehörigen der Beitrittsstaaten, die hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt Beschränkungen unterlagen, unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zu.

Das Aufenthaltsrecht entfällt – auch bei Angehörigen der zum 1.1.2007 beigetretenen Mitgliedstaaten Bulgarien und Rumänien – nur durch einen Verwaltungsakt nach § 5 Abs. 5, § 6 und § 7 FreizügG/EU. Die förmliche Feststellung der fehlenden Freizügigkeit obliegt dabei allein den Ausländerbehörden und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch den Familienkassen. Das Besprechungsurteil steht insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des BSG.

Erst nach einer Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fände gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU das Aufenthaltsgesetz Anwendung, sodass der Unionsbürger einen Aufenthaltstitel nach dem Aufenthaltsgesetz benötigt; dann wäre auch § 62 Abs. 2 EStG einschlägig.

Da die Ausländerbehörden aber offenbar bundesweit davon absehen, die Freizügigkeit zu versagen, ist § 62 Abs. 2 EStG auf Unionsbürger faktisch nicht anzuwenden.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 15.3.2017 – III R 32/15

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