Leitsatz

1. Bei der Entscheidung über die Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 EStG ist im Regelfall die Abzweigung des Unterschiedsbetrags zwischen den regelmäßigen Unterhaltsleistungen und dem Kindergeld ermessensgerecht. Ausnahmsweise kann aber auch eine hiervon abweichende Bestimmung des Abzweigungsbetrags ermessensgerecht sein.

2. Wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt leistet, setzt eine sachgerechte Ermessensentscheidung voraus, dass die vom Kindergeldberechtigten erbrachten Unterhaltsleistungen vollständig erfasst und der Höhe nach beziffert werden.

 

Normenkette

§ 74 Abs. 1 EStG

 

Sachverhalt

Die Klägerin bezog von der Familienkasse Kindergeld für ihre körperlich und geistig behinderte Tochter (GdB 100), die auf Kosten des beigeladenen Landratsamts vollstationär in einer Pflegeeinrichtung untergebracht ist. Zu den Kosten der Unterbringung entrichtete sie einen Beitrag von monatlich 26 EUR. Zusätzlich erbrachte sie für ihre Tochter weitere Unterhaltsleistungen, die sie auf rd. 1.700 EUR jährlich bezifferte. Das Landratsamt bestreitet Aufwendungen in dieser Höhe.

Die Familienkasse zweigte ab Juli 2007 Kindergeld in Höhe von 128 EUR monatlich an das Landratsamt ab und reduzierte die Abzweigung nach Einspruch der Klägerin ab Dezember 2007 auf monatlich 77 EUR. Die auf die vollständige Aufhebung der Abzweigung gerichtete Klage hatte nur insoweit Erfolg, als die Abzweigung bereits ab Juli 2007 auf 77 EUR monatlich beschränkt wurde; im Übrigen wies das FG die Klage ab (FG Baden-Württemberg, Urteil vom 7.12.2010, 5 K 419/08, Haufe-Index 3457020).

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil, den Abzweigungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf, soweit die Abzweigung den Betrag von 12,12 EUR monatlich überschreitet; insoweit hatte die Klägerin die Abzweigung im Revisionsverfahren nicht angegriffen.

Die Familienkasse hat nunmehr erneut über den Abzweigungsantrag zu entscheiden und dafür zunächst die von der Klägerin erbrachten Unterhaltsleistungen zu ermitteln.

 

Hinweis

Der BFH hat sich schon mehrfach mit der Abzweigung des Kindergelds an Sozialhilfeträger beschäftigt, die dem Kind Unterhalt gewähren, wenn der Kindergeldberechtigte seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG).

1. Eine Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht (§§ 1601ff. BGB) liegt schon dann vor, wenn die Eltern nicht auch für den krankheits- und behinderungsbedingten Mehrbedarf aufkommen (hier: laufende Kosten für die Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung), sondern z.B. nur einen Kostenbeitrag entrichten.

2. Liegen mit der Unterhaltspflichtverletzung die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach vor, hat die Familienkasse eine Ermessensentscheidung zu treffen, die gerichtlich nur auf Ermessensfehler überprüft werden kann (§ 102 FGO). Für die Ermessensentscheidung gelten folgende Grundsätze:

a) Trägt der Kindergeldberechtigte überhaupt keine Unterhaltsaufwendungen, soll das gesamte Kindergeld entweder dem Kind selbst oder demjenigen zugutekommen, der dem Kind tatsächlich Unterhalt gewährt; bei einem vollstationär auf Kosten des Sozialleistungsträgers untergebrachten Kind, also dem Sozialhilfeträger.
b) Entstehen dem Kindergeldberechtigten Unterhaltsaufwendungen mindestens in Höhe des Kindergeldes, ist allein die Auszahlung des vollen Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten ermessensgerecht. Das gilt auch dann, wenn die ­Aufwendungen des Sozialleistungsträgers die der Eltern weit übersteigen, also z.B. die Eltern monatlich 200 EUR und das Sozialamt 3.000 EUR zahlen.
c) Bei Unterhaltsleistungen der Eltern, die nicht die Höhe des Kindergeldes erreichen, ist es ermessensgerecht, das Kindergeld abzüglich ihrer Unterhaltsleistungen abzuzweigen, sodass es dem Kindergeldberechtigten in Höhe der von ihm erbrachten Leistungen verbleibt. Das gilt auch bei nur geringen Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten. In Ausnahmefällen kann eine abweichende Bestimmung des Abzweigungsbetrags ermessensgerecht sein.
d) Lässt sich die Höhe der vom Kindergeldberechtigten erbrachten Unterhaltsleistungen nicht – auch nicht durch Schätzung – ermitteln, kann das halbe Kindergeld abgezweigt werden.

3. Die Familienkasse muss, um die vorstehenden Grundsätze bei ihrer Ermessensentscheidung beachten zu können, die vom Kindergeldberechtigten erbrachten Unterhaltsleistungen ermitteln und beziffern. Aus Vereinfachungsgründen kann sie dabei für einen längeren Zeitraum eine einheitliche Quote zugrunde legen.

4. Im Rahmen der Abzweigungsentscheidung sind nur tatsächlich entstandene Kosten zu berücksichtigen. Dazu gehören neben Geld- und Sachzuwendungen auch anteilige Raumkosten für ein Zimmer, das für das Kind in der Wohnung des Kindergeldberechtigten bereitgehalten wird. Dies kann auch vollstationär untergebrachte behinderte Kinder betreffen, die sich in dem bereitgehaltenen Zimmer über reine Besuchszwecke hinweg aufhalten, soweit die Eltern hierfür nicht von dritter Seite eine Kostenerstattun...

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