Rz. 1

Die Regelung des § 32b EStG[1] hängt im Prinzip eng mit dem Aufbau des Steuertarifs zusammen. Nach § 32a EStG beginnt der Steuertarif, nach dem unbesteuerten Grundfreibetrag, um dann progressiv bis zu dem Spitzensteuersatz anzusteigen.[2] Aktuell (Vz 2022) gilt für zu versteuernde Einkommen von 58.597 EUR bis 277.826 EUR ein Steuersatz von 42 % unter Abzug eines Betrags von 9.267,53 EUR, ab 277.826 EUR ein Steuersatz von 45 % unter Abzug eines Betrags von 17.602,28 EUR vom ermittelten Steuerbetrag.[3]

Soweit sich das zu versteuernde Einkommen in der Progressionszone bewegt, hat die Befreiung einzelner Einkunftsteile von der Steuer nicht nur die Steuerbefreiung dieser Einkunftsteile zur Folge, sondern auch eine Steuerminderung für die nicht von der ESt befreiten Einkommensteile. Innerhalb der Progressionszone wird nämlich nicht nur jeder zusätzliche Einkommensteil selbst mit der Steuer belastet, sondern treibt das gesamte zu versteuernde Einkommen in eine höhere Progressionsstufe und erhöht damit die Durchschnittsbelastung für das gesamte zu versteuernde Einkommen. Wird daher ein Einkommensteil von der ESt befreit, hat dies nicht nur die beabsichtigte Wirkung, genau diesen Einkommensteil von der Steuer freizustellen, sondern auch die unbeabsichtigte Wirkung, die durchschnittliche Steuerbelastung für das gesamte (nicht freigestellte) zu versteuernde Einkommen zu mindern. Der Stpfl. wäre damit stärker entlastet, als es dem Gesetzeszweck entspräche; er würde nicht nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert.

Der Progressionsvorbehalt des § 32b EStG hat den Zweck, dieses unerwünschte Ergebnis einer verminderten Durchschnittssteuerbelastung infolge der verminderten Progression zu vermeiden.[4] Zwar soll die Steuerfreiheit des Einkommensteils selbst erhalten bleiben, die Wirkung dieser Steuerfreiheit soll jedoch auf diesen Einkommensteil beschränkt bleiben, die mittelbaren Wirkungen auf das (übrige) zu versteuernde Einkommen infolge der verminderten Progression sollen vermieden werden.

Zu diesem Zweck ordnet § 32b EStG an, dass die Steuer für das zu versteuernde Einkommen nach der Progressionsstufe zu berechnen ist, die bestünde, wenn der steuerbefreite Einkommensteil in die Steuerberechnung einbezogen worden wäre. Damit bleibt der steuerfreie Einkommensteil steuerfrei, die Entlastung des (nicht befreiten) zu versteuernden Einkommens von der Progressionswirkung tritt jedoch nicht ein. Damit wird durch § 32b EStG das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit abgesichert.[5]

Der Progressionsvorbehalt macht damit die Steuerfreiheit der steuerbefreiten Einnahmen nicht rückgängig. Besteuert werden nicht die steuerbefreiten (z. B. ausl.) Einkünfte, sondern die stpfl. Einkünfte. Die Anwendung eines besonderen Steuersatzes auf die stpfl. Einkünfte berührt die Freistellung der steuerbefreiten Einkünfte nicht, auch wenn der besondere Steuersatz sachlich auf die steuerbefreiten Einkünfte zurückgeht.[6]

Im Ergebnis ordnet § 32b EStG an, dass die Steuer für das zu versteuernde Einkommen nicht nach § 32a EStG zu berechnen ist, sondern aufgrund bestimmter Regeln nach einem besonderen Steuersatz. § 32b EStG ist daher eine Tarifvorschrift und systematisch richtig in den Abschnitt über den Steuertarif eingeordnet.

Die Anwendung des Progressionsvorbehalts verstößt nicht gegen Art. 3 GG.[7]

 

Rz. 2

Aus dem Begriff "Progressionsvorbehalt" und dem Zweck dieser Vorschrift könnte geschlossen werden, dass § 32b EStG nur anwendbar ist, wenn sich das zu versteuernde Einkommen zuzüglich der steuerfreien Teile in der Progressionszone bewegt. Dies wäre jedoch eine nicht durch das Gesetz gedeckte Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 32b EStG. Das Gesetz erwähnt die Progression in § 32b EStG nicht, sondern gibt nur Regeln für die Errechnung eines besonderen Steuersatzes, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen. § 32b EStG ist daher immer dann anzuwenden, wenn diese Voraussetzungen (zu denen die Progression trotz der Paragrafenüberschrift, nicht gehört) vorliegen. Auch in der Proportionalzone oberhalb der Progressionszone hat die Anwendung des § 32b EStG Auswirkungen. Da der Durchschnittssteuersatz nie die Höhe des Spitzensteuersatzes erreicht, sondern sich immer nur diesem annähert (Hinweis auf die vom ermittelten Steuerbetrag abzuziehenden Beträge ; s. Rz. 1), bedeutet die Einbeziehung steuerfreier Einkommensteile in eine Berechnung eines besonderen Steuersatzes nach § 32b EStG, dass eine größere Annäherung des Durchschnittssteuersatzes an den Spitzensteuersatz eintritt, der Durchschnittssteuersatz für das zu versteuernde Einkommen also steigt und damit eine höhere Steuerbelastung eintritt.

Die Bezeichnung "Progressionsvorbehalt" für § 32b EStG ist also irreführend; richtiger wäre eine Bezeichnung als "Steuersatzvorbehalt" o. Ä. Da das Gesetz die Bezeichnung "Progressionsvorbehalt" jedoch beibehalten hat, wird diese Bezeichnung auch hier weiter verwendet.

 

Rz. 3

Die geschilderte progressionsdämpfende Wirkung von Steuerb...

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