Rz. 16

Der Begriff "Veranlagung" ist nicht eindeutig. Er entstammt der Verwaltungsrechtslehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts[1], die zwischen Veranlagungssteuern (bei denen der Steueranspruch erst mit der Festsetzung entstand) und Fälligkeitssteuern (bei denen die Zahlungspflicht sich ohne Konkretisierung durch Verwaltungsakt unmittelbar aus dem Gesetz ergab) unterschied. Schon die RAO machte indes die Entstehung aller Steuern von der Tatbestandsverwirklichung abhängig, sodass der Sinn der Unterscheidung entfiel.[2] Entscheidendes Moment ist nunmehr die Steuerfestsetzung.[3]

 

Rz. 17

Als Veranlagung bezeichnet man daher heute i. d. R. jede nach Einreichung einer Steuererklärung erfolgte Steuerfestsetzung (§ 155 AO) gegen den Steuerschuldner durch förmlichen Verwaltungsakt aufgrund eines vorangegangenen Verwaltungsverfahrens.[4] Wenn – wie z. B. bei der Feststellung von Einheitswerten – nur Besteuerungsgrundlagen festgesetzt werden, oder bei Festsetzungen gegenüber Haftenden[5] oder bei Maßnahmen im Erhebungs- und Vollstreckungsverfahren wird dagegen nicht von einer Veranlagung gesprochen. Gleiches gilt für die Festsetzung von Vorauszahlungen oder einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung. Das Gesetz benutzt den Ausdruck nur bei den laufend veranlagten Steuern, allerdings nicht bei allen (z. B. nicht bei der GewSt und der USt). Die Praxis spricht auch bei einmaligen Steuern davon, dass diese veranlagt werden. Eine einheitliche Terminologie besteht nicht. Für die ESt ist Veranlagung gleichzusetzen mit Steuerfestsetzung i. S. v. §§ 155ff. AO.

 

Rz. 18

§ 25 Abs. 1 EStG ist seit dem EStG 1934 praktisch unverändert geblieben. Dies hat zu einer fehlerhaften Abstimmung der Terminologie mit den Vorschriften geführt, die weiterentwickelt worden sind. So wird heute nicht – wie noch nach dem EStG 1934 – das "Einkommen" als Bemessungsgrundlage besteuert, sondern das "zu versteuernde Einkommen" (§ 2 Abs. 5 EStG), ohne dass man dem bei § 25 Abs. 1 EStG Rechnung getragen hat. Auch der Hinweis auf das "bezogene" Einkommen hat keine eigenständige Bedeutung, sondern stellt nur eine generelle Verweisung auf die im Bemessungszeitraum zu berücksichtigenden Umstände des materiellen ESt-Rechts dar. Bezogen ist das Einkommen, wenn es dem Kj. zeitlich zuzuordnen ist. § 25 Abs. 1 EStG hat mithin nicht die Aufgabe, die Bemessungsgrundlage der ESt in irgendeiner Weise zu bestimmen. Sie wird vorausgesetzt; Abs. 1 knüpft an sie an.

 

Rz. 19

Zu unterscheiden ist sonach zwischen Bemessungs-, Ermittlungs- und Veranlagungszeitraum. Bemessungszeitraum ist die dem materiellen ESt-Recht entsprechende zeitliche Dimension der Bemessungsgrundlage, auf deren Grundlage das zu versteuernde Einkommen ermittelt werden muss, d. h. der Zeitraum, für den das bezogene Einkommen die Besteuerungsgrundlage für die tarifliche ESt bildet; die ESt ist eine Jahressteuer (§ 2 Abs. 7 S. 1 EStG). Berücksichtigt werden alle Zuflüsse und Abzüge, die im Kj. anfallen, gleichgültig, ob es sich um einmalige oder laufende Beträge handelt. Ermittlungszeitraum ist der bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen als Ergebnis einzelner Einkünfte relevante Zeitraum.[6] Für die Besteuerungsgrundlage sind ggf. zeitraumübergreifende Ermittlungen vorzunehmen, so z. B. bei einem abweichenden Wirtschaftsjahr (§ 4a EStG), beim Verlustabzug (§ 10d EStG) oder bei regelmäßig wiederkehrenden Einnahmen und Ausgaben (§ 11 EStG). Ermittelt werden die im Kj. zu berücksichtigenden Zu- und Abgänge.

 

Rz. 20

Der Begriff "Veranlagungszeitraum" (Vz) wurde in § 25 Abs. 1 EStG durch das EStG 1939 eingefügt und sollte zum Ausdruck bringen, dass die ESt auf das Kj. zu ermitteln sei. Diese Aussage findet sich heute – systematisch richtig – in § 2 Abs. 7 S. 2 EStG, sodass § 25 Abs. 1 EStG von dieser Funktion entlastet ist. Wenn aber, heute, Bemessungszeitraum für die ESt das Kj. ist und die Steuer auch jährlich nach den Verhältnissen des vergangenen Kj. erhoben wird, bedarf es an sich systematisch nicht der Annahme eines vom Bemessungszeitraum zu unterscheidenden Vz. Denn der Vz ist lediglich die verfahrensrechtliche Kehrseite des materiellen Bemessungszeitraums, sodass der Vz notwendig ebenso lang sein muss wie der Bemessungszeitraum. Der beim Tod eines Stpfl. verkürzte Ermittlungszeitraum nach § 2 Abs. 7 S. 3 EStG a. F. ändert daher nichts daran, dass Vz das Kj. bleibt.[7] Würde die ESt nur alle 2 oder 3 Jahre nach den Verhältnissen eines Kj. veranlagt und jährlich nach diesen Verhältnissen erhoben, erschiene eine Unterscheidung zwischen dem Bemessungszeitraum und dem Vz möglicherweise sinnvoll. In einem solchen Fall könnte auch von einer Verlängerung der Abgabefrist ausgegangen werden, je nachdem, wie der Gesetzgeber die Vorschrift ausgestaltet. Nach derzeitiger Rechtslage könnte man auf einen besonderen "Vz" ohne Weiteres verzichten.

[1] Mayer, O., Deutsches Verwaltungsrecht I, 3. Aufl., 1924, 318, 319; Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1948, 397.
[2] § 97 RAO; § 3 Abs. 1 StAnpG 1934; jetzt § 3...

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