Rz. 68

Liegt eine nachteilige Ungleichbehandlung vor, ist schließlich zu fragen, ob die Beeinträchtigung der Grundfreiheit gerechtfertigt ist.

 

Rz. 69

Dies ist dann der Fall, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einem steuerlichen Vorteil und dem Ausgleich dieses Vorteils durch eine bestimmte steuerliche Belastung besteht ("Kohärenz").[1] Der Ausgleich des steuerlichen "Vorteils" des Gebietsansässigen sollte auch durch besondere Bindungen des Heimatstaats, die mit dem Vorteil in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, aufgewogen werden können. So können nach Auffassung des EuGH etwa Ziele wie die Weiterführung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe und die Aufrechterhaltung der Arbeitsplätze in diesen Betrieben im Erbfall in bestimmten Situationen und unter bestimmten Bedingungen an sich im Allgemeininteresse liegen und grundsätzlich Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen.[2] Eine rechtfertigende Kohärenz ergibt sich regelmäßig dann, wenn die Mitgliedstaaten ein DBA abgeschlossen haben.

 

Rz. 70

Gerechtfertigt ist die Ungleichbehandlung auch dann, wenn sie Folge einer zum Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit zwischen den Mitgliedstaaten getroffenen Unterscheidung ist. Dies gilt auch dann, wenn in Bezug auf ein gleiches Vermögen die steuerliche Ungleichbehandlung allein davon abhängt, ob der Erblasser seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat hatte.[3] Die Befugnis hierzu ergibt sich nämlich in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen aus der Befugnis der Mitgliedstaaten, die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen.[4] Laut EuGH ist es für die Mitgliedstaaten nicht sachfremd, sich zum Zwecke der Aufteilung der Steuerhoheit an der internationalen Praxis und den von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erarbeiteten Musterabkommen zu orientieren.[5]

 

Rz. 71

Die Ungleichbehandlung ist weiter dann gerechtfertigt, wenn es um Maßnahmen der Steueraufsicht geht, die der Bekämpfung von Missbrauch, Steuerflucht oder der Steuerumgehung dienen.

 

Rz. 72

Der Finanzbedarf[6] eines Staats wie auch bloße verwaltungstechnische Erwägungen[7] können die Ungleichbehandlung dagegen nicht rechtfertigen. Bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Spenden darf ein Mitgliedstaat inländische und in anderen Mitgliedstaaten ansässige, als gemeinnützig anerkannte Einrichtungen unterschiedlich behandeln, wenn diese andere Ziele als die in seinem eigenen Regelungsstatut vorgegeben verfolgen. Bei gleicher Zielsetzung ist eine Ungleichbehandlung aber nicht gerechtfertigt, die sich allein darauf stützt, die Spenden an Einrichtungen in einem anderen Mitgliedstaat könnten nicht zu einem Haushaltsausgleich führen. Nach st. Rspr. zählt nämlich das Erfordernis, einen Rückgang der Steuereinnahmen zu vermeiden, weder zu den in Art. 65 AEUV genannten Zielen noch zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung einer vom Vertrag eingeräumten Freiheit rechtfertigen können.[8] Dennoch darf ein Mitgliedstaat, bevor er eine Steuerbefreiung gewährt, Maßnahmen anwenden, mit denen er klar und genau nachprüfen kann, ob auch für eine ausländische Einrichtung die nach nationalem Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Befreiung erfüllt sind. Auch darf er die tatsächliche Geschäftsführung der Einrichtung, z. B. auf der Grundlage der Vorlage des Jahresabschlusses und eines Tätigkeitsberichts, kontrollieren.[9] Im Ergebnis gilt Gleiches für die Steuerbefreiung von Einkünften gemeinnütziger Stiftungen, die davon abhängen soll, ob die Stiftung eine inländische oder eine ausländische ist.[10]

 

Rz. 73

Eine Rechtfertigung ergibt sich für den Wohnsitzstaat nicht daraus, einem Bürger einen steuerlichen Vorteil zu nehmen, der ihm nach den in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnstaat geltenden Vorschriften legal zusteht. Ein Mitgliedstaat kann sich nämlich nicht auf das Bestehen eines von einem anderen Mitgliedstaat einseitig gewährten Vorteils berufen, um seinen Verpflichtungen aus dem AEUV, insbesondere denen aus den Vorschriften über den freien Kapitalverkehr, zu entgehen.[11]

 

Rz. 74

Auch soweit eine Rechtfertigung angenommen werden könnte, ist der Rechtfertigungsgrund schließlich am Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu messen. Die steuerliche Maßnahme muss zur Erreichung des vom Besteuerungsstaat angestrebten Ziels geeignet sein; es darf keine milderes, gleich wirksames Mittel zur Verfügung stehen (Erforderlichkeit) und die Beeinträchtigung der Grundfreiheit darf auch nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne).[12]

 

Rz. 75–80

einstweilen frei

[1] EuGH v. 28.2.2008, C-293/06 (Deutsche Shell), BFH/NV Beilage 2008, 188; die "Kohärenz" wurde vom EuGH als Rechtfertigungsgrund eingeführt in der "Bachmann"-Entscheidung, EuGH v. 28.1.1992, C-204/90 (Bachmann), EuGHE 1992, I-249; EuGH v. 22.4.2010, C-510/08 (Mattner); vgl. dazu eingehend Kokott/O...

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