rechtskräftig

 

Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehinderter erwachsener Bruder als Pflegekind. familienähnliches Band

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Bei der Beurteilung, ob ein Pflegekindschaftsverhältnis gegeben ist, bedarf es der Feststellung eines „familienähnlichen Bands” auch dann, wenn ein „familiäres Band” besteht.

2. Die Erbringung umfänglicher Pflege- und Unterstützungsleistungen und ein damit verbundenes hohes Maß an persönlicher Zuwendung gegenüber dem behinderten Menschen genügt für die Annahme eines familienähnlichen Bandes nicht.

3. Im Streitfall ging das Gericht nach den Gesamtumständen des Falles davon aus, dass zwischen der Klägerin und ihrem schwerbehinderten Bruder, dessen geistiger Zustand dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person entsprach, ein familienähnliches Band bestanden hat und der Schwester daher Kindergeld für ihren Bruder als Pflegekind zustand.

4. Der Umstand, dass es mittlerweile nicht mehr dem wissenschaftlichen Standard im Umgang mit behinderten erwachsenen Menschen entspricht, diese – wie Kinder – „zu erziehen”, steht des Annahme eines „familienähnlichen Bands” im Sinne von § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 1 Nr. 2

 

Tenor

Der Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 wird aufgehoben und der Klägerin Kindergeld ab Juni 2017 bewilligt.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit leistet.

 

Tatbestand

Das Verfahren befindet sich im zweiten Rechtszug. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob zwischen der Klägerin und ihrem Bruder ein Pflegekindschaftsverhältnis i.S.d. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG bestand.

Die Klägerin war die Schwester des am XX.XX.1950 geborenen und am XX.XX.2018 verstorbenen C. C war von Geburt an schwerbehindert (100 GdB). Er litt zudem an epileptischen Anfällen. Aufgrund der mit seiner geistigen Behinderung einhergehenden Lernschwäche war C Analphabet. In seinem Schwerbehindertenausweis waren unter anderem die Merkzeichen „G” und „H” eingetragen. Es war ferner vermerkt, dass die Notwendigkeit ständiger Begleitung besteht. C bezog Eingliederungshilfe sowie eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Höhe von 742,05 EUR monatlich (Bl. 13 KiG).

C wurde von seiner Mutter, die für ihn Kindergeld bezog, bis zu deren Tod im Mai 2017, seit einer schweren Erkrankung der Mutter 2004 zunehmend auch von der Klägerin, betreut. Die Klägerin übernahm nach dem Tod der Mutter die Betreuung von C. Am XX.08.2017 wurde sie vom Amtsgericht D auch zur gesetzlichen Betreuerin von C für die Aufgabenkreise Gesundheitsvorsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Geltendmachung von Ansprüchen auf Altersversorgung und Sozialhilfe und Geltendmachung von Ansprüchen auf Unterhalt bestellt (Bl. 27).

C lebte ab 2004 zunächst in einer stationären Wohneinrichtung für geistig behinderte Menschen und später in einem Wohnprojekt des E e.V. dort zunächst in einer Wohngruppe und zuletzt in einer eigenen Wohnung. Er bedurfte zusätzlich ambulanter Betreuung, die durchschnittlich neun Stunden pro Woche durch den E e.V. erbracht wurde.

Der Klägerin oblag die Fürsorge für C, sie trug die Verantwortung für sein materielles Wohl: Sie telefonierte täglich mit C, erledigte Arztbesuche oder Einkäufe mit ihm zusammen, übernahm regelmäßig seine Wäsche und organisierte und bezahlte eine Putzhilfe für seine Wohnung. Bei der Klägerin verfügte C über ein eigenes Zimmer und lebte im Streitzeitraum an allen Wochenenden, Feiertagen und zu Familienfeiern im Haushalt und in der Familiengemeinschaft mit der Klägerin.

Am 16. Juni 2017 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihren Bruder ab dem Monat Juni 2017, dessen Gewährung die Beklagte mit Bescheid vom 20. Juni 2017 ablehnte (Bl. 26 KiG). Den Einspruch der Klägerin vom 12. Juli 2017 (Bl. 29 KiG) wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 (Bl. 32 KiG) als unbegründet zurück.

Am 8. August 2017 hat die Klägerin Klage erhoben (Bl. 1, 2 K 1254/17). Mit Urteil vom 13. Dezember 2018 hat der Senat den Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Kindergeld ab Juni 2017 zu bewilligen.

Auf die Revision der Beklagten hat der BFH mit Gerichtsbescheid vom 17. März 2020 (III R 9/19, BFH/NV 2021, 4) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Im zweiten Rechtsgang sei die Art der Behinderung aufzuklären, insbesondere, ob die Behinderung so schwer war, dass der Zustand von C dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person entsprach. Im Rahmen dessen sei auch der Umstand zu würdigen, dass C in einer eigenen Wohnung mit anscheinend nur geringer Hilfeleistung eige...

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