Leitsatz

Hebt das FA aufgrund einer mit dem Steuerpflichtigen getroffenen Verständigung über die einvernehmliche Beendigung des Finanzrechtsstreits einen Steuerbescheid in der mündlichen Verhandlung vor dem FG auf und erklärt den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, ist es nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Verbot des "venire contra factum proprium") daran gehindert, erneut einen inhaltsgleichen Steuerbescheid zu erlassen, wenn der Steuerpflichtige in Einhaltung dieser Absprache über einen verfahrensrechtlichen Besitzstand disponiert hat. Letzteres ist der Fall, wenn er seinen Einspruch zurückgenommen und ebenfalls die Hauptsache für erledigt erklärt hat (Fortentwicklung der Senatsrechtsprechung, s. Urteil vom 29. Oktober 1987, X R 1/80, BFHE 151, 118, BStBl II 1988, 121).

 

Normenkette

§ 173 Abs. 1 Nr. 1, § 4 AO

 

Sachverhalt

Die Klägerin betrieb eine Gaststätte. Im Klageverfahren gegen die Gewinnfeststellungen fand im Anschluss an die Erörterung der Streitsache eine Zwischenberatung des Gerichts statt, die dazu führte, dass dem Vertreter des FA vom FG empfohlen wurde, die Klägerin dadurch klaglos zu stellen, dass der Feststellungsbescheid aufgehoben werde. Die Klägerin erklärte daraufhin die Rücknahme des Einspruchs.

Nachdem das FA den Feststellungsbescheid aufgehoben hatte, erlies es sechs Wochen später einen inhaltlich identischen Änderungsbescheid, der nun auf den bisher nicht herangezogenen § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt wurde.

Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das FG war der Auffassung, die Voraussetzungen dieser Änderungsvorschrift seien nicht erfüllt (Niedersächsisches FG, Urteil vom 4.3.2013, 12 K 279/12, Haufe-Index 7051554).

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision des FA zurück. Dieses sei aufgrund seiner Erklärungen in der mündlichen Verhandlung nach dem Grundsatz von Treu und Glauben daran gehindert gewesen, einen inhaltsgleichen Änderungsbescheid zu erlassen.

 

Hinweis

1. Der Grundsatz von Treu und Glauben ist im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt. Er gebietet, dass im Steuerrechtsverhältnis jeder Beteiligte auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich zu seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt (Verbot des "venire contra factum proprium").

Er bringt keine Steueransprüche und -schulden zum Entstehen oder Erlöschen, sondern kann allenfalls ein bestehendes konkretes Steuerrechtsverhältnis dahin gehend modifizieren, dass eine Forderung nicht mehr geltend gemacht bzw. ein Recht nicht mehr ausgeübt werden kann.

2. Hierzu verlangt der Grundsatz von Treu und Glauben einen Vertrauenstatbestand, aufgrund dessen der Steuerpflichtige disponiert hat. Erforderlich ist eine bestimmte Position oder ein bestimmtes Verhalten des einen Teils, aufgrund dessen der andere Teil bei objektiver Beurteilung annehmen konnte, jener werde an seiner Position oder seinem Verhalten konsequent und auf Dauer festhalten. Ein schützenswertes nachhaltiges Vertrauen in den Fortbestand der früheren Auffassung ist demzufolge nur dann und solange gegeben, wie der Steuerpflichtige nicht mit ihrer Änderung rechnen musste oder ihm zumindest Zweifel hätten kommen müssen.

3. Hebt das FA in der mündlichen Verhandlung mit Zustimmung des Steuerpflichtigen einen Steuerbescheid auf und erklärt den Rechtsstreit ohne jede Einschränkung oder Bedingung in der Hauptsache für erledigt, wird aufseiten des Steuerpflichtigen ein Vertrauenstatbestand geschaffen. Wird demzufolge der Einspruch zurückgenommen und der Rechtsstreit unwiderruflich in der Hauptsache für erledigt erklärt, liegt hierin eine wirtschaftliche Disposition des Steuerpflichtigen in Gestalt der Aufgabe eines verfahrensrechtlichen Besitzstandes.

Dies ist ein tauglicher Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Vertrauensschutz, da der Steuerpflichtige aufgrund dieser Disposition auf ein in Rechtskraft erwachsendes Sachurteil verzichtet, dessen Bindungswirkung den künftigen Korrekturrahmen nach Maßgabe der Änderungssperre des § 110 Abs. 2 FGO eingeschränkt hätte.

4. Ein erneuter Erlass eines inhaltsgleichen Steuerbescheids durch das FA verstößt demzufolge nach Auffassung des X. Senats gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

Das Urteil ergänzt die Senatsrechtsprechung, wonach ein Steuerpflichtiger den Rechtsstreit mit dem Antrag fortsetzen kann, das FA zum Erlass des Änderungsbescheides zu verpflichten, wenn das FA dessen Erlass trotz anderslautender Zusage in der mündlichen Verhandlung ablehnt (vgl. BFH, Urteil vom 29.10.1987, X R 1/80, BStBl II 1988, 121).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 6.7.2016 – X R 57/13

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