Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör. Wahrung der Schriftsatzfrist

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

 

Leitsatz (redaktionell)

Wird der Zeitpunkt, bis zu dem unter Benennung aller Beweismittel zur Sache schriftlich vorgetragen werden kann und der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht, nach § 128 Abs. 3 Satz 2 ZPO auf einen Sonntag festgesetzt, so ist eine Klageerwiderung, die am folgenden Werktag und damit gem. § 222 Abs. 2 ZPO noch rechtzeitig bei Gericht eingeht, zu berücksichtigen. Das Amtsgericht hat das rechtliche Gehör verletzt, weil es die Klageerwiderung nicht bei Erlaß des angegriffenen Urteils berücksichtigt hat. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an.

 

Normenkette

ZPO § 128 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1976-12-03, § 222 Abs. 2 Fassung: 1965-08-10; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

AG Böblingen (Urteil vom 23.12.1981; Aktenzeichen 2 C 2277/81)

 

Gründe

I.

Der Beschwerdeführer unterlag in einem Zivilrechtsstreit mit einem Betrag von 60,46 DM nebst 15 % Zinsen hieraus seit 30. Juni 1981.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens verlangte vom Beschwerdeführer diesen Betrag sowie Zinsen und Mahnauslagen wegen Anmietung eines Kraftfahrzeugs. Sie begründete ihre Forderung damit, daß der Beschwerdeführer das Fahrzeug fest reserviert habe; er müsse die Miete dafür bezahlen, auch wenn er es nicht zum vorgesehenen Termin abgeholt habe.

Das angerufene Amtsgericht Böblingen ordnete daraufhin am 30. November 1981 formblattmäßig das schriftliche Verfahren gem. § 128 Abs. 3 ZPO an, bestimmte den Zeitpunkt, der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht (§ 128 Abs. 3 Satz 2 ZPO), auf den 20. Dezember 1981 – einen Sonntag – und gab den Parteien auf, bis zu diesem Zeitpunkt unter Benennung aller Beweismittel zur Sache schriftlich vorzutragen. Termin zur Verkündung einer Entscheidung bestimmte es zugleich auf Mittwoch, den 23. Dezember 1981.

Der Beschwerdeführer beantragte mit Schriftsatz vom 21. Dezember 1981 Klagabweisung und trug unter Beweisangebot vor, daß ein Mietvertrag nicht zustande gekommen sei; er habe bei der Klägerin lediglich Erkundigungen eingezogen. Der Schriftsatz wurde ausweislich des Eingangsstempels am 21. Dezember 1981 beim Amtsgericht Böblingen eingereicht. Er befand sich nach der dienstlichen Stellungnahme des erkennenden Richters im Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch nicht bei den Akten.

Das Amtsgericht Böblingen gab durch Urteil vom 23. Dezember 1981 der Klage hinsichtlich Hauptsache sowie Zinsen statt und wies sie wegen Mahnauslagen von 10,– DM ab. Es führte aus, daß sich der Beschwerdeführer im Rechtsstreit nicht geäußert habe, und legte der Entscheidung den Sachvortrag der Klägerin zugrunde.

II.

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Amtsgericht die rechtzeitig eingegangene Klageerwiderung nicht zur Kenntnis genommen habe.

2. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Justizminister des Landes Baden-Württemberg und der Klägerin des Ausgangsverfahrens Gelegenheit gegeben, sich zu der Verfassungsbeschwerde zu äußern.

Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg hat zur Frage der Wahrung der Schriftsatzfrist nach § 128 Abs. 3 Satz 2 ZPO auf § 222 Abs. 2 ZPO hingewiesen.

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

III.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

Dem steht nicht entgegen, daß der Beschwerdeführer gegen das angegriffene Urteil keine Berufung eingelegt hat.

Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß vom 2. März 1982 – 2 BvR 869/81 –, Umdruck S. 4 f., ausgeführt:

Es ist allerdings möglich, die Berufung in entsprechender Anwendung des § 513 Abs. 2 ZPO für zulässig zu erachten. Nach dieser Vorschrift unterliegt das sogenannte zweite Versäumnisurteil – unabhängig vom Wert des Beschwerdegegenstandes – der Berufung insoweit, als sie darauf gestützt wird, daß ein Fall der Versäumung nicht vorgelegen habe. Im Schrifttum wird die analoge Anwendung des § 513 Abs. 2 ZPO für den Fall in Betracht gezogen, daß der Beklagte im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 und 3 ZPO nicht schuldhaft oder nur scheinbar den Zeitpunkt versäumt hat, der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht (vgl. Kramer, NJW 1978, S. 1411 (1416); Thomas/Putzo, ZPO, 11. Aufl., Anm. IV 4 zu § 128; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 40. Aufl., Anm. 6 zu § 511 a; Zöller, ZPO, 13. Aufl., Anm. B I 3 d zu § 128).

Von Verfassungs wegen liegt diese Lösung nahe. Schon unter dem Gesichtspunkt des wirksamen Grundrechtsschutzes ist es verfassungsrechtlich geboten, in den Fällen der Verletzung des rechtlichen Gehörs ein Rechtsmittel zuzulassen, wenn die Auslegung der einschlägigen Verfahrensvorschriften dies ermöglicht (vgl. BVerfGE 49, 252 (256)).

Im Beschluß vom 7. Juli 1982 – 2 BvR 340/81 –, Umdruck S. 3 f., wurde diese Rechtsprechung bekräftigt. Sie gilt auch, wenn – wie hier – das Gericht den Zeitpunkt, der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht, auf einen Sonntag festsetzt und einen am folgenden Werktag eingehenden Schriftsatz nicht berücksichtigt. Danach hat der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

Die Einlegung der Berufung konnte dem Beschwerdeführer jedoch nicht zugemutet werden (vgl. Beschluß vom 2. März 1982 – 2 BvR 869/81 –, Umdruck S. 5, und vom 7. Juli 1982 – 2 BvR 340/81 –, Umdruck S. 4 f.). Veröffentlichte Rechtsprechung zur entsprechenden Anwendung des § 513 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren lag, soweit ersichtlich, nicht vor. Angesichts des Gesetzeswortlauts war die Statthaftigkeit der Berufung bis zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 1982 – 2 BvR 869/81 – als zweifelhaft anzusehen. Diese Entscheidung war dem Beschwerdeführer bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde nicht bekannt.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

Die Garantie des rechtlichen Gehörs gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, daß die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozeßordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (st. Rspr., vgl. Beschluß vom 2. März 1982 – 2 BvR 869/81 –, Umdruck S. 5 f., Beschluß vom 7. Juli 1982 – 2 BvR 340/81 –, Umdruck S. 5). Wird der Zeitpunkt, bis zu dem unter Benennung aller Beweismittel zur Sache schriftlich vorgetragen werden kann und der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht, nach § 128 Abs. 3 Satz 2 ZPO auf einen Sonntag festgesetzt, so ist eine Klageerwiderung, die am folgenden Werktag und damit gem. § 222 Abs. 2 ZPO noch rechtzeitig bei Gericht eingeht, zu berücksichtigen.

Diese Pflicht hat das Amtsgericht verletzt. Es hat die Klageerwiderung, obwohl sie am Montag, dem 21. Dezember 1981 und damit gem. § 128 Abs. 3 Satz 2, § 222 Abs. 2 ZPO bis zu dem Zeitpunkt, der dem Schluß der mündlichen Verhandlung entspricht, bei Gericht eingegangen ist, nicht bei Erlaß des angegriffenen Urteils berücksichtigt. Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an (st. Rspr., vgl. BVerfGE 53, 219 (222 f.)).

Es ist auch nicht auszuschließen, daß eine Berücksichtigung des Schriftsatzes des Beschwerdeführers zu einer anderen Entscheidung des Gerichts geführt haben würde. Das angegriffene Urteil beruht demgemäß auf dem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.

Es ist daher aufzuheben; die Sache ist an das Amtsgericht Böblingen zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1621160

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