Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Vertrauen in Postlaufzeiten

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Vertrauen in die regelmäßigen Postlaufzeiten stellt kein Verschulden i. S. des § 233 ZPO dar.

2. Legt ein Gericht der Zurückweisung eines Wiedereinsetzungsantrages wegen schuldhafter Fristversäumung bzgl. des rechtzeitigen Eingangs eines Schriftsatzes, der am vorletzten Tag der Frist zur Post gegeben wird, eine zusätzliche Erkundigungspflicht bzw. die Verpflichtung zur Nutzung alternativer Beförderungsmittel (wie Eilbote, Telegramm, Telefax) zugrunde, so wird dadurch Art. 103 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO §§ 519, 233

 

Verfahrensgang

LG Siegen (Beschluss vom 17.03.1993; Aktenzeichen 3 S 38/93)

 

Tatbestand

A.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, welche Sorgfaltspflichten einen Rechtsanwalt im Zusammenhang mit der Übermittlung einer Rechtsmittelschrift durch die Post treffen.

I.

1. Der Beschwerdeführer machte gegenüber dem Beklagten des Ausgangsverfahrens Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall in Höhe von 5.970,85 DM geltend. Durch Urteil vom 20. Januar 1993 wies das Amtsgericht Olpe die Klage ab. Das Urteil wurde den früheren Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers am 25. Januar 1993 zugestellt. Am 2. Februar 1993 ließ der Beschwerdeführer durch seine jetzigen Prozeßbevollmächtigten Berufung einlegen. Mit nicht datiertem Schriftsatz, der beim Landgericht Siegen am 3. März 1993 einging, wurde die Berufung begründet. Mit Berichterstatterschreiben vom 3. März 1993 wies das Landgericht Siegen die Bevollmächtigten auf die verspätet eingegangene Berufungsbegründung hin. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 9. März 1993 – beim Landgericht am 10. März 1993 eingegangen – Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist und trug zur Begründung vor:

Der Berufungsbegründungsschriftsatz sei am 1. März 1993 in den Nachmittagsstunden gegen 17.00 Uhr unterzeichnet worden. Nach Unterzeichnung des Schriftsatzes habe der bevollmächtigte Rechtsanwalt dann den Berufungsbegründungsschriftsatz persönlich aus der Postmappe herausgenommen und der Rechtsanwalts- und Notargehilfin K … in die Hand gedrückt mit der Anweisung, dafür Sorge zu tragen, daß der Berufungsbegründungsschriftsatz noch am heutigen Tage rechtzeitig zur Post gegeben werde und somit gewährleistet sei, daß unter Berücksichtigung der üblichen Postlaufzeiten von Lennestadt nach Siegen der Schriftsatz am 2. März 1993 beim Landgericht eingehe. Die Rechtsanwaltsgehilfin habe sodann den Schriftsatz einkuvertiert, ordnungsgemäß frankiert und die Auszubildende S … angewiesen, den Briefumschlag zum Postamt Lennestadt zu bringen. Frau S … habe dann den Berufungsbegründungsschriftsatz gegen 18.00 Uhr zum Postamt Lennestadt gebracht. Briefsendungen, die bis einschließlich 19.00 Uhr im Hauptbriefkasten des Postamtes Lennestadt 1 eingeworfen würden, würden ausweislich einer einzuholenden Auskunft des Postamtes Lennestadt nach den üblichen Postlaufzeiten zwischen Lennestadt und Siegen am nächsten Tag am Bestimmungsort in Siegen ausgeliefert. Die Briefsendung an das Landgericht sei somit rechtzeitig abgesandt worden. Die Prozeßbevollmächtigten hätten davon ausgehen können, daß der rechtzeitig in den Postbetrieb gegebene Begründungsschriftsatz rechtzeitig beim Landgericht eingehen würde. Daß der Postlauf zwischen Lennestadt und Siegen im vorliegenden Fall nicht einen Tag, sondern zwei Tage gedauert habe, sei nicht von den Prozeßbevollmächtigten und somit auch nicht vom Beschwerdeführer zu vertreten. Der Bevollmächtigte legte eidesstattliche Versicherungen von Frau K … und Frau S … hinsichtlich des vorgetragenen Geschehensablaufs vor.

2. Mit Beschluß vom 17. März 1993 wies das Landgericht Siegen den Wiedereinsetzungsantrag zurück und führte zur Begründung aus: Auf die „üblichen Postlaufzeiten” zwischen Lennestadt und Siegen hätten sich die Prozeßbevollmächtigten bei der nur einen Tag vor Fristablauf angefertigten bzw. unterzeichneten Berufungsbegründung nicht verlassen dürfen. Es könne insoweit auch Abweichungen von den „üblichen Postlaufzeiten” geben. So sei beispielsweise im vorliegenden Fall die Verfügung des Berichterstatters vom 3. März 1993 am Freitag, dem 5. März 1993, geschrieben und abgesandt worden, nach dem Vortrag der Anwälte des Beschwerdeführers dort aber erst am 9. März 1993 eingegangen. Die Bevollmächtigten hätten den fristgerechten Eingang der Berufungsbegründung beim Landgericht durch geeignete Maßnahmen sicherstellen müssen. Dies hätte z. B. dadurch bewirkt werden können, daß die Berufungsbegründung unmittelbar dem Landgericht vorab per Telefax übermittelt worden wäre, wie dies nach Kenntnis der Kammer vom Büro der Bevollmächtigten auch in anderen Fällen gehandhabt worden sei. Zumindest aber hätte angesichts der nur einen Tag vor Fristablauf gefertigten Berufungsbegründungsschrift eine Eingangskontrolle bei der Geschäftsstelle des Landgerichts telefonisch vorgenommen werden müssen, was jedoch nicht geschehen sei. Es hätte dann nämlich noch die Möglichkeit bestanden, die Berufungsbegründungsfrist zu wahren, indem die Begründungsschrift per Automobil zum Nachtbriefkasten des Landgerichts hätte befördert und dort eingeworfen werden können.

3. Gegen den am 25. März 1993 eingegangenen Beschluß erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 30. März 1993 Gegenvorstellungen. Er verwies darauf, daß eine Pflicht zur Vorabübermittlung per Telefax nicht bestanden habe; auch bei der Telefaxübermittlung gebe es Unsicherheiten, weshalb teilweise Obergerichte eine Wiedereinsetzung versagt hätten, wenn das Telefaxgerät beim Prozeßgericht gestört gewesen sei. Im übrigen widerspreche die Auffassung des Landgerichts der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach sich der Absender regelmäßig auf die üblichen Postlaufzeiten verlassen dürfe.

Durch Beschluß vom 19. April 1993 wies das Landgericht die Gegenvorstellungen zurück mit der Begründung, eine Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts könne nicht erfolgen, da diese Entscheidungen zu einer Zeit ergangen seien, als die Übermittlung von fristwahrenden Schriftsätzen durch Telefax noch nicht habe erfolgen können. Darüber hinaus erachte die Kammer es für ein schuldhaftes Verhalten, wenn es der Bevollmächtigte unterlasse, sich durch eine telefonische Rückfrage beim Gericht davon zu überzeugen, daß der am vorletzten Tag der Frist abgesandte Schriftsatz auch tatsächlich am letzten Tag eingegangen sei.

II.

Mit seiner am 25. April 1993 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 103 Abs. 1 GG.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürften Verzögerungen der Briefbeförderung und Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden zugerechnet werden. Der Absender dürfe sich vielmehr darauf verlassen, daß die üblichen Postlaufzeiten eingehalten würden. Eine Vorabübermittlung per Telefax sei nicht erforderlich; auch das ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Entscheidungen stammten zwar aus einer Zeit, in der Telefaxgeräte noch nicht üblich gewesen seien. Wäre die Auffassung der Kammer im angefochtenen Beschluß jedoch zutreffend, so hätte in den zitierten Entscheidungen auch gefordert werden müssen, daß der fristwahrende Schriftsatz gegen Ende des Fristablaufs vorsorglich noch persönlich oder durch Boten beim Prozeßgericht hätte abgegeben werden müssen; dies sei jedoch in keinem Fall gefordert worden. Es sei vielmehr betont worden, daß eine Frist voll ausgeschöpft werden dürfe und Verzögerungen bei der Postbeförderung dem Rechtsmittelführer nicht zuzurechnen seien.

III.

Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem Beklagten des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

 

Entscheidungsgründe

B

Für die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung und das weitere Verfahren ist gemäß Art. 8 des Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht vom 2. August 1993 (BGBl. I S. 1442) das mit Wirkung vom 11. August 1993 in Kraft getretene neue Recht maßgeblich. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer durch die nicht tragfähige Ablehnung der Wiedereinsetzung offensichtlich im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG in seinem Grundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, das in zivilrechtlichen Streitigkeiten durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verbürgt wird (BVerfGE 85, 337 ≪345≫ m.w.N.; st. Rspr.), und zugleich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.

Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um den ersten Zugang zum Gericht oder um den Zugang zu einer weiteren von der Prozeßordnung vorgesehenen Instanz handelt (vgl. BVerfGE 53, 25 ≪28≫; 62, 216 ≪221≫; 62, 334 ≪336≫). Für die Beförderung von Briefen hat die Deutsche Bundespost das gesetzliche Monopol. Der Bürger kann grundsätzlich darauf vertrauen, daß die von der Post nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten auch eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf dies dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung nicht als Verschulden zur Last gelegt werden.

Die Annahme, daß es auch zu Abweichungen von den üblichen Postlaufzeiten kommen kann, lag dabei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig zugrunde; gleichwohl wurden im Hinblick auf eine solche nicht auszuschließende Möglichkeit keine besonderen Vorkehrungen bei Einlieferung am vorletzten Tag der Frist gefordert. Namentlich wurde auch keine besondere zusätzliche Erkundigungspflicht hinsichtlich des rechtzeitigen Eingangs aufgestellt. An dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht auch unter Berücksichtigung von Übermittlungsmöglichkeiten per Eilboten, Telegramm oder Telefax festgehalten (vgl. 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluß vom 27. Februar 1992, NJW 1992, S. 1952).

II.

1. Das Landgericht hat diese Grundsätze außer acht gelassen. Der Beschwerdeführer hatte im Wiedereinsetzungsverfahren vorgetragen, daß nach den üblichen Postlaufzeiten bei einer Einlieferung beim Postamt Lennestadt 1 vor 19.00 Uhr mit einer Zustellung am nächsten Tag in Siegen gerechnet werden konnte und hat sich zur Glaubhaftmachung auf eine Auskunft des Postamts Lennestadt berufen. Das Landgericht hat hierzu keine abweichende Feststellungen getroffen, es geht bei seiner Begründung vielmehr davon aus, daß die Angaben des Beschwerdeführers bei den üblichen Postlaufzeiten heute geltend sind.

2. Da keine Umstände ersichtlich sind, die einen Rückschluß darauf zulassen, daß eine erneute verfassungsgemäße Rechtsanwendung wiederum zum Nachteil des Beschwerdeführers ausfallen müßte (vgl. BVerfGE 35, 324 ≪344≫; 81, 142 ≪155≫), ist der angegriffene Beschluß aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Dem Beschwerdeführer sind seine notwendigen Auslagen gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.

 

Fundstellen

NJW 1994, 1854

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