Entscheidungsstichwort (Thema)

Unbeschränkte Steuerpflicht der Bewohner von Zollausschlußgebieten. Grenzen zulässiger Typisierung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. „Inland” i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG ist das Gebiet der BRD in seinen Hoheitsgrenzen, so daß hierzu auch solche deutschen Hoheitsgebiete gehören, die als sog. Zollausschlüsse nach § 2 Abs. 2 Satz 2 ZollG einem ausländischen Zollgebiet angeschlossen sind, mit der Folge der unbeschränkten Steuerpflicht der Bewohner solcher Gebiete (hier: Büsingen); dies läßt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht erkennen.

2. Sollte die unbeschränkte Steuerpflicht im Einzelfall zu untragbaren Härten führen, kommt ein Gleichheitsverstoß nicht in Betracht, denn es besteht die Möglichkeit, eine Billigkeitsregelung in Form eines Steuererlasses nach §§ 163, 227 AO 1977 herbeizuführen, zumal die Finanzverwaltung für die Fallgruppe „Büsinger Bürger” einen entsprechenden Steuererlaß vorsieht, dessen Umfang, sofern er den Vorstellungen des Steuerpflichtigen nicht entspricht, ggf. gerichtlich überprüft werden kann.

3. Der Steuergesetzgeber ist durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, anstelle eines ausschließlich individuellen Wirklichkeitsmaßstabes für die Besteuerung aus Gründen der Praktikabilität gewisse pauschale, an einer „Typengerechtigkeit” orientierte Maßstäbe zu wählen, weil Steuergesetze Massenvorgänge des Wirtschaftslebens erfassen und deshalb in einem hohen Maße praktikabel sein müssen; in Einzelfällen entstehende Härten oder Ungerechtigkeiten sind insoweit hinzunehmen. Die Grenzen der zulässigen Typisierung sind erst dann erreicht, wenn die mit ihr einhergehenden Vorteile der verwaltungsmäßigen Behandlung nicht mehr im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; EStG § 1 Abs. 1 S. 1; ZG § 2 Abs. 2 S. 2; AO 1977 §§ 163, 227

 

Verfahrensgang

BFH (Urteil vom 13.04.1989; Aktenzeichen IV R 196/85)

FG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.10.1984; Aktenzeichen XI 514/82)

 

Gründe

1. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG kommt insbesondere in Betracht, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obgleich zwischen diesen Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVERFGE 55, 72 ≪88≫; 78, 232 ≪247≫ m.w.N.). Auch eine für alle Betroffenen gleiche Regelung verstieße gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn sie für eine Personengruppe Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht zur Folge hätten, daß ihr gegenüber die gleichartige Behandlung nicht mehr zu rechtfertigen wäre (vgl. BVERFGE 72, 141 ≪150≫).

Allerdings ist der Steuergesetzgeber durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, anstelle eines ausschließlich individuellen Wirklichkeitsmaßstabes für die Besteuerung aus Gründen der Praktikabilität gewisse pauschale, an einer „Typengerechtigkeit” orientierte Maßstäbe zu wählen, weil Steuergesetze Massenvorgänge des Wirtschaftslebens erfassen und deshalb in einem hohen Maße praktikabel sein müssen; in Einzelfällen entstehende Härten oder Ungerechtigkeiten sind insoweit hinzunehmen (vgl. BVERFGE 79, 87 ≪100≫ m.w.N.). Die Grenzen der zulässigen Typisierung sind erst dann erreicht, wenn die mit ihr einhergehenden Vorteile der verwaltungsmäßigen Behandlung nicht mehr im rechten Verhältnis zu der mit der Typisierung notwendig verbundenen Ungleichheit der steuerlichen Belastung stehen (vgl. BVERFGE 65, 325 ≪354 f.≫). Wesentlich für die Zulässigkeit einer typisierenden Regelung ist somit, daß von der Benachteiligung nur eine kleine Zahl von Personen betroffen und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz im Einzelfall nicht sehr intensiv ist (vgl. BVERFGE 82, 60 ≪95 ff.≫ m.w.N.). Aber auch wenn die gesetzliche Typisierung in einzelnen Fällen oder Fallgruppen zu Härten führen, die auf Grund ihres Gewichts mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, kann eine solche gesetzliche Regelung gleichwohl verfassungsrechtlich Bestand haben, wenn der Gesetzgeber den Maßstab für den Regelfall sachgerecht gewählt hat und die Möglichkeit des Steuererlasses zur Milderung solcher Härten besteht (vgl. BVERFGE 43, 1 ≪12≫; 48, 102 ≪114≫ m.w.N.).

2. Hiervon ausgehend lassen sich die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht beanstanden.

§ 1 Abs. 1 Satz 1 EStG bestimmt, daß natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind. Nach – soweit ersichtlich – allgemeiner Auffassung ist mit „Inland” im Sinne dieser Vorschrift das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in ihren Hoheitsgrenzen gemeint (vgl. etwa BFH, HFR 1974, S. 231 ≪232≫), so daß zum Inland auch solche deutschen Hoheitsgebiete gehören, die als sogenannte Zollausschlüsse (§ 2 Abs. 2 Satz 2 Zollgesetz) einem ausländischen Zollgebiet angeschlossen sind (vgl. Hartmann/Böttcher/Nissen/Bordewin/, EStG-Komm., Stand: 118. Lfg., 1991, § 1 Rdnr. 47; Herrmann/Heuer/Raupach, EStG-Komm., Stand: 166. Lfg., 1991, § 1 Rdnr. 31; Schmidt/Heinicke, EStG-Komm., 9. Aufl., 1990, § 1 Rdnr. 5).

Unter Zugrundelegung dieser Auffassung haben die Finanzgerichte in den angegriffenen Entscheidungen die Gemeinde Büsingen als „Inland” im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG angesehen und damit den Beschwerdeführer als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt. Diese Auslegung der einschlägigen Vorschrift läßt einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht erkennen.

§ 1 Abs. 1 Satz 1 EStG geht in typisierender Weise davon aus, daß derjenige, der einen Wohnsitz im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland hat, einerseits im besonderen Maße die Leistungen dieses Staates in Anspruch nimmt bzw. nehmen kann, andererseits aber auch im besonderen Maße zur Deckung des öffentlichen Finanzbedarfs im Rahmen der Einkommensteuerpflicht herangezogen werden darf. Gegen diesen Anknüpfungspunkt lassen sich verfassungsrechtliche Bedenken nicht begründen, denn der Gesetzgeber hat bei der Erschließung von Steuerquellen weitgehende Gestaltungsfreiheit (vgl. BVERFGE 49, 343 ≪360≫; 50, 386 ≪392≫; 65, 325 ≪354≫).

Eine mit Art. 3 Abs. 1 GG unverträgliche Gleichbehandlung des Beschwerdeführers mit den im übrigen Bundesgebiet ansässigen Steuerpflichtigen ist nicht ersichtlich. Die in § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG zum Ausdruck kommende Besteuerungsgewalt kann durch den die Gemeinde Büsingen betreffenden Staatsvertrag mit der Schweiz nur insoweit eine Einschränkung erfahren, als der Vertrag selbst solche Einschränkungen zugunsten der Schweiz vorsieht. Da bezüglich des Rechts zur Erhebung der Einkommensteuer keine anderweitige Regelung getroffen wurde, ist nicht erkennbar, warum die Grundregel des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG, wonach für die im Bundesgebiet ihren Wohnsitz unterhaltenen Personen die unbeschränkte Steuerpflicht gilt, im Falle des Beschwerdeführers mit seinem Wohnsitz in Büsingen keine Anwendung finden soll.

Die Belastung, die der Beschwerdeführer geltend macht, stellen keine Folgen dar, die sich zwangsläufig und in jedem Fall auf Grund des abgeschlossenen Staatsvertrages einstellen. Vielmehr sind sie nur das Ergebnis einer konkreten wirtschaftlichen Situation, die durch einen Wechselkurs zwischen der DM und dem sFr geprägt ist, welcher nicht der Kaufkraft in den jeweiligen Ländern entspricht. Die sich hieraus ergebenden höheren Lebenshaltungskosten, die jedenfalls dann entstehen können, wenn der Beschwerdeführer an seinem Wohnort und im schweizerischen Umland seine Einkäufe tätigt, stehen in keinem Zusammenhang mit der Festlegung der unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG. Denn damit wird nur die Einkommensteuerpflicht dem Grunde und dem Umfang nach (Welteinkommen – § 2 Abs. 1 Satz 1 EStG) festgelegt; zur Frage, welche persönlichen Umstände bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens in Abzug gebracht werden müssen, ist eine Bestimmung nicht getroffen.

Selbst wenn man unterstellt, daß die Anknüpfung für die unbeschränkte Steuerpflicht auf Grund der Regelung des § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG zwar im Regelfall sachgerecht, im Fall des Beschwerdeführers aber zu untragbaren Härten führen würde, kommt eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Betracht, denn er hat die Möglichkeit, für sich eine Billigkeitsregelung in Form eines Steuererlasses nach den §§ 163, 227 AO herbeizuführen, zumal die Finanzverwaltung für die Fallgruppe „Büsinger Bürger” einen entsprechenden Steuererlaß vorsieht. Soweit dieser Steuererlaß den Vorstellungen des Beschwerdeführers bezüglich der angemessenen Entlastungswirkung nicht entspricht, bleibt es ihm unbenommen, die Entscheidung der Finanzverwaltung einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1513765

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