Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei einstweiligem Rechtsschutz. Interessenabwägung bei Aussetzung der Vollziehung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Verfassungsbeschwerde kann schon vor Erschöpfung des Rechtswegs zulässig sein, wenn keine weitere Sachaufklärung notwendig ist und ein schwerer und unabwendbarer Nachteil droht, insbesondere wenn die gerügte Grundrechtsverletzung die Ablehnung der aufschiebenden Wirkung betrifft und im Hauptverfahren nicht mehr zureichend ausgeräumt werden könnte.

2. Der Bundesfinanzhof hat in verfassungsrechtlich unbedenklicher Auslegung und Anwendung des § 69 Abs. 3 i. V. mit Abs. 2 Satz 2 FGO aufgrund der angestellten Interessenabwägungen eine Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1984 und 1985, soweit sie die von den Beschwerdeführern in Anlehnung an die sog. Kölner Tabelle geltend gemachten Unterhaltsaufwendungen für ihre, von ihnen noch unterhaltenen vier Kinder nicht berücksichtigen, wegen überwiegender öffentlicher Interessen abgelehnt.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; BVerfGG § 90 Abs. 2 Sätze 1-2; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3; EStG § 33a

 

Verfahrensgang

BFH (Beschluss vom 06.11.1987; Aktenzeichen III B 101/86)

 

Gründe

1.Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht hier im wesentlichen schon entgegen, daß die Beschwerdeführer das Hauptsacheverfahren noch nicht abgeschlossen und sie diesen Rechtsweg somit nicht erschöpft haben (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, daß ein Beschwerdeführer über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken. Danach kann auch die Erschöpfung des Rechtsweges in der Hauptsache geboten sein, wenn nach der Art der gerügten Grundrechtsverletzung das Hauptsacheverfahren die Möglichkeit bietet, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen. Verfassungsbeschwerden sind danach ausnahmsweise dann zulässig, wenn die Entscheidung von keiner weiteren tatsächlichen Aufklärung abhängt und wenn diejenigen Voraussetzungen gegeben sind, unter denen gemäß § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann. Ein schwerer und unabwendbarer Nachteil kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die gerügte Grundrechtsverletzung spezifisch die Ablehnung der aufschiebenden Wirkung betrifft und im Hauptverfahren nicht mehr zureichend ausgeräumt werden könnte (vgl. BVerfGE 69, 233 ≪241≫).

Dies ist jedenfalls vorliegend insoweit anzunehmen, als die Beschwerdeführer das vom Bundesfinanzhof für eine Aussetzung der Vollziehung in ständiger Rechtsprechung geforderte berechtigte Interesse bei behaupteter Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Rechtsnorm rügen.

Hingegen sind die Beschwerdeführer hinsichtlich ihrer Rüge, im Steuerrecht würden Unterhaltsleistungen an Kinder in den Jahren 1984 und 1985 nur realitätsfern berücksichtigt, zunächst gehalten, das Hauptsacheverfahren durchzuführen. Für die Klärung dieser Rechtsfrage bedarf es auch tatsächlicher Feststellungen über die Notwendigkeit und Angemessenheit von Unterhaltsaufwendungen sowie einer Gesamtschau der den Unterhaltsbedarf jedenfalls entlastenden steuerlichen, sozialrechtlichen und sonstigen Maßnahmen. Insoweit ist ein schwerer, unabwendbarer und im Hauptverfahren nicht mehr zureichend auszuräumender Nachteil für die Beschwerdeführer nicht erkennbar.

2. Soweit der Bundesfinanzhof im angegriffenen Beschluß auf eine über einen längeren Zeitraum eintretende Entlastung durch die Unterhaltsfreibeträge gemäß § 33 a Abs. 1 EStG abhebt, handelt es sich erkennbar um Hilfserwägungen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) kann deshalb durch die Nichtberücksichtigung der abweichenden tatsächlichen Verhältnisse bei den Beschwerdeführern nicht verletzt sein.

3. Die Verfassungsbeschwerde hat auch im übrigen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Der Bundesfinanzhof hat in verfassungsrechtlich unbedenklicher Auslegung und Anwendung des § 69 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 FGO eine Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide 1984 und 1985, soweit sie die von den Beschwerdeführern in Anlehnung an die sog. Kölner Tabelle geltend gemachten Unterhaltsaufwendungen für ihre, von ihnen noch unterhaltenen vier Kinder nicht berücksichtigen, wegen überwiegender öffentlicher Interessen abgelehnt.

a) Der Bundesfinanzhof (BStBl. III 1967, S. 513 ≪514≫) stellt entgegen der Behauptung der Beschwerdeführer mit der Forderung nach einem berechtigten Interesse der Abgabepflichtigen an einen vorläufigen Rechtsschutz kein zusätzliches, unbestimmtes Tatbestandsmerkmal im Rahmen des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO auf. Vielmehr entnimmt der Bundesfinanzhof im Wege der Interpretation dieser gesetzlichen Bestimmung als einer Soll-Vorschrift die Notwendigkeit einer Interessenabwägung in besonderen Ausnahmefällen. Zu diesen Ausnahmefällen zählt er vor allem die behauptete Verfassungswidrigkeit der dem auszusetzenden Verwaltungsakt zugrunde liegenden Rechtsnorm (BFH, BStBl. III 1967, S. 123 f. und 513 f.; II 1968, S. 199 ff.; II 1984, S. 454 ≪457≫; II 1986, S. 782). Dieses Auslegungsverständnis des § 69 FGO wird in der Literatur ganz überwiegend gebilligt (vgl. Gräber, FGO, 2. Aufl., § 69 Anm. 90; Tipke/ Kruse, AO und FGO, 12. Aufl., § 69 Tz 5; Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, AO und FGO, § 69 FGO Anm. 42; Ziemer/ Birkholz, FGO, 3. Aufl., § 69 Anm. 34; Ziemer/Haarmann/Lohse/ Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Nr. 4136 ff. und 4151 ff.; Söhn, NJW 1970, S. 315 ≪317≫; Barth, DB 1984, S. 1649; Birk, in: Festschrift für Menger, 1985, S. 161 ≪170 f.≫; Beul/ Beul, DB 1984, S. 1493 ≪1494≫ sowie Kopp, VwGO, 7. Aufl., § 80, Anm. 37, 70 f. m.w.N. zur parallelen Vorschrift in der VwGO).

Eine solche Interessenabwägung verstößt nicht grundsätzlich gegen den aus Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anspruch auf einen umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutz, solange die Aussetzung die Regel, der sofortige Vollzug des Verwaltungsakts hingegen die Ausnahme bleibt (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪272, 274≫; ferner zu § 251 AO a. F. BVerfGE 12, 180 ≪186≫). Im Ausnahmefall können überwiegende öffentliche Belange es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen (st. Rechtsprechung; BVerfGE 37, 150 ≪153≫; 67, 43 ≪58 f.≫).

Der Bundesfinanzhof legt dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis seiner Rechtsprechung zugrunde.

b) Im konkreten Fall begegnet die Abwägung ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Bundesfinanzhof bejaht zunächst in Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 66, 214 ≪224≫; 67, 290 ≪298≫) entwickelten Grundsätze die Verfassungsmäßigkeit der Unterhaltshöchstbeträge (§ 33 a Abs. 1 EStG 1983) und der Kinderfreibeträge für die Streitjahre. Lediglich hinsichtlich der Höhe der aus Haushaltsgründen durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 gekürzten Ausbildungsfreibeträge sieht er von einer abschließenden Würdigung ab. Es kann hier offenbleiben, ob einzelne Entlastungsvorschriften verfassungsrechtlich überhaupt isoliert zu überprüfen sind oder ob sämtliche kindbedingten Entlastungen innerhalb und außerhalb des Steuerrechts in die Prüfung einzubeziehen sind. Jedenfalls ist offenkundig, daß die vom Finanzgericht ausgesprochene Aussetzung der Vollziehung der Einkommensteuerbescheide in Höhe der vom Beschwerdeführer über die gesetzlich gewährten Entlastungsmaßnahmen hinausgehenden Unterhaltsaufwendungen als – allgemeine – außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 Abs. 1 EStG faktisch die vom Bundesfinanzhof als entscheidend herausgestellte Breitenwirkung herbeiführt und in den öffentlichen Haushalten allein auf Grund von Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines Steuergesetzes zumindest zeitweise zu Einnahmeausfällen in Milliardenhöhe führen müßte. Zu Recht bewertet der Bundesfinanzhof das öffentliche Interesse an einer geordneten öffentlichen Haushaltswirtschaft in einem solchen Falle als so gewichtig, daß das Interesse der Beschwerdeführer, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine – teilweise – Aussetzung der Vollziehung ihrer Einkommensteuerfestsetzungen zu erreichen, deutlich geringer zu bewerten ist, zumal das Begehren – wie bereits angemerkt – weit über die bislang vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäbe für die Anerkennung unvermeidbarer tatsächlicher Unterhaltsaufwendungen hinausgeht.

Da bereits dieser Gesichtspunkt für sich allein die Ablehnung der teilweisen Aussetzung trägt, bedarf es keiner Würdigung der weiteren vom Bundesfinanzhof genannten Gesichtspunkte.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1556549

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