Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 27.02.1979; Aktenzeichen L 7 Ar 415/78)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. Februar 1979 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) und die Rückforderung dieser in der Zeit vom 4. Oktober bis 31. Dezember 1974 gewährten Leistung in Höhe von insgesamt 2.485,20 DM.

Der Kläger war seit 1968 als Schadenssachbearbeiter bei einer Versicherung beschäftigt. Seine Kündigungsfrist betrug sechs Wochen zum Quartals ende. Im September 1974 hatte er ein Bruttogehalt von 2.531,– DM. Am 1. Oktober 1974 wurde er fristlos entlassen. Am 25. April 1975 schloß er mit seinem früheren Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht einen Vergleich, wonach das Arbeitsverhältnis zum 30. September 1974 aufgelöst wurde und die Arbeitgeberin dem Kläger als Entschädigung für den Verlust des Arbeitsplatzes in entsprechender Anwendung der §§ 9, 10 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) eine Abfindung in Höhe von 16.451,50 DM brutto gleich netto zahlte. Diesen Betrag hat der Kläger auch erhalten.

Das Arbeitsamt hatte dem Kläger ab 4. Oktober 1974 Alg bewilligt, das ihm auch über den 31. Dezember 1974 hinaus gezahlt wurde. Nachdem das Arbeitsamt von dem Abschluß des arbeitsgerichtlichen Vergleichs erfahren hatte, hob es seine Entscheidung über die Bewilligung von Alg für die Zeit vom 4. Oktober bis 31. Dezember 1974 auf und forderte das für diese Zeit gezahlte Alg gemäß § 152 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) zurück, weil der Anspruch gemäß § 117 Abs. 2 AFG geruht habe (Bescheid vom 25. Juni 1975, Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 1975).

Mit Urteil vom 4. Januar 1977 hat das Sozialgericht (SG) Hannover die angefochtenen Bescheide mit der Begründung aufgehoben, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe mit Beschluß vom 12. Mai 1976 § 117 Abs. 2 für verfassungswidrig erklärt. Es gäbe daher keine gesetzliche Grundlage mehr für die Rückforderung des Alg bei Zahlung einer Abfindung. Das Urteil enthält die Rechtsmittelbelehrung, es könne mit der Berufung angefochten werden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Beschluß vom 20. April 1977 das Verfahren ausgesetzt, bis der Gesetzgeber die verfassungswidrige Vorschrift des § 117 Abs. 2 AFG durch eine mit der Verfassung vereinbare Regelung ersetzt habe. Mit Urteil vom 27. Februar 1979 hat es das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, hinsichtlich der geltend gemachten Rückforderung sei die Berufung gemäß § 149 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Hinsichtlich der Aufhebung der Bewilligung des Alg sei das Rechtsmittel zwar an sich gemäß §§ 147 und 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG unzulässig. Gleichwohl ergäbe sich insoweit die Zulässigkeit der Berufung aus § 150 Nr. 2 SGG, weil das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leide, den die Beklagte auch gerügt habe. Das SG hätte nicht in der Sache entscheiden dürfen. Es hätte vielmehr das Verfahren bis zum Erlaß einer verfassungskonformen Ruhensregelung aussetzen müssen. Die Berufung sei auch begründet. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Alg-Bewilligung und die Rückforderung sei nunmehr § 117 AFG in der Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 12. Dezember 1977 (4. AFGÄndG), die im Einklang mit dem Grundgesetz (GG) stehe. Allerdings sei zu berücksichtigen, daß nach Art. 6 Nr. 3 Satz 2 dieses Gesetzes § 117 Abs. 2 AFG in der bisherigen Fassung weiter anzuwenden sei, soweit er nicht durch § 117 Abs. 3 AFG neu geregelt worden sei. Nach § 117 Abs. 2 AFG aF habe der Anspruch des Klägers auf Alg zumindest bis zum 31. Dezember 1974 geruht. Der vom Kläger vertretenen Auffassung, der Anspruch auf Alg habe erst ab 25. April 1974 (Tag des Vergleichsabschlusses) ruhen können, könne nicht gefolgt werden. Vielmehr sei § 117 Abs. 2 Satz 1 AFG aF dahin zu verstehen, daß für den Beginn des Ruhenszeitraums nicht der Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs, sondern der Zeitpunkt, zu dem nach dem Vergleich das Arbeitsverhältnis geendet habe, maßgebend sei. Da die Beklagte auch die in § 117 Abs. 3 AFG neue Fassung enthaltene Beschränkung des Ruhenszeitraums beachtet habe, sei die Aufhebung der Bewilligung des Alg und die geltend gemachte Rückforderung nicht zu beanstanden.

Durch Beschluß vom 12. Februar 1980 – den Bevollmächtigten des Klägers am 26. Februar 1980 zugestellt – hat der Senat die Revision zugelassen. Mit der am 16. April 1980 eingegangenen Revisionsbegründung (zum Teil berichtigt durch den am 23. April 1980 eingegangenen Schriftsatz) trägt der Kläger, ohne einen förmlichen Antrag zu stellen, zur Begründung seiner Revision im wesentlichen folgendes vor: Das SG habe in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei seiner Entscheidung die Sach- und Rechtslage zur Zeit des Erlasses des Widerspruchsbescheides zugrundegelegt. Spätere Gesetzesänderungen seien in der Regel unbeachtlich. Erst recht müsse dies gelten, wenn erst eine Gesetzesänderung erwartet werde. Das LSG hätte demnach, anstatt das Verfahren auszusetzen, sogleich entscheiden und die Berufung verwerfen oder zurückweisen müssen. Hinsichtlich der Frage der Rechtswidrigkeit des Rückforderungs- und des Widerspruchsbescheides werde auf das klägerische Vorbringen in der Berufungsinstanz verwiesen. Die vom LSG in seinem Aussetzungsbeschluß angegebenen Gründe für eine Aussetzung lägen nicht vor. Bei Erlaß seines Urteils habe das LSG nicht erkannt, daß der Gesetzgeber inzwischen den „rechtlosen” Zustand beseitigt gehabt habe, und zwar im Sinne des Vorbringens des Klägers. Danach unterlägen auch die noch anhängigen Fälle dem § 117 Abs. 3 neuer Fassung, was aus Art. 6 Nr. 3 des 4. AFGÄndG hervorgehe. Diese Bestimmung enthalte außerdem den Zusatz, daß übersteigende Beträge nicht zurückzuzahlen seien. Das könne nur so verstanden werden, daß in Übergangsfällen eine Abfindung zwar angerechnet werde, jedoch keine Rückzahlungspflicht zur Folge haben solle. Es handele sich dann, weil die Zahlung von Alg bereits erfolgt sei, um abgeschlossene Fälle. Dem könne nicht entgegengehalten werden, daß über den Rückforderungsanspruch der Beklagten bisher nicht entschieden worden sei. Hierbei sei zu berücksichtigen, daß dann, wenn das LSG sachrichtig entschieden hätte, also die Berufung verworfen oder zurückgewiesen hätte, der Fall des Klägers bereits vor Verkündung des 4. AFGÄndG abgeschlossen wäre. Im übrigen hätte ausdrücklich herausgestellt werden müssen, wenn der Gesetzgeber die laufenden Verfahrensfälle von den in Art. 6 Nr. 3 4. AFGÄndG genannten Vergünstigungen hätte ausschließen wollen. Wenn das LSG des weiteren die Rückzahlungspflicht des Klägers im wesentlichen mit dem Hinweis auf § 117 Abs. 3 AFG neuer Fassung begründet habe, so sei es unverständlich, weshalb es nicht bereit gewesen sei, diese Vorschrift in ihrem vollen Umfang heranzuziehen, dh zu prüfen, ob nicht die Voraussetzungen des § 117 Abs. 3 Ziffer 3 AFG vorlägen. Dies hätte sich umso mehr angeboten, als der Kläger einen dahingehenden Beweisantrag gestellt habe. Dieser Verfahrensverstoß werde erneut gerügt und, soweit erforderlich, um Nachholung der Beweisaufnahme durch Beiziehung der Arbeitsgerichtsakte gebeten.

Der Kläger beantragt, wie er auf Anfrage des Berichterstatters vom 10. Juli 1980 bestätigt hat,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. Februar 1979 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 4. Januar 1977 zu verwerfen,

hilfsweise,

die Berufung zurück zuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

hilfsweise,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält die Revision für unzulässig, weil weder in der Revisionsschrift noch in der Revisionsbegründung der nach § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG erforderliche bestimmte Antrag zu erkennen sei. Auf jeden Fall sei die Revision unbegründet. Das angefochtene Urteil habe zu Recht die Berufung für zulässig angesehen. Soweit die Berufung hinsichtlich der Aufhebung der Bewilligung des Alg nicht zulässig sein sollte, werde hilfsweise geltend gemacht, das mit Schriftsatz vom 21. November 1977, den das LSG als Bescheid gewertet habe, die für die Rückforderung präjudizielle Aufhebung der Bewilligung erfolgt sei. Im übrigen sei die Rückforderung auch ohne vorhergegangene Aufhebung der Bewilligung möglich gewesen (§ 152 Abs. 2 AFG).

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig. Sie ist fristgerecht eingelegt und begründet worden. Es mangelt ihr auch nicht an dem Erfordernis eines bestimmten Antrags gemäß § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG. Der Kläger hat zwar weder mit der Revisionsschrift noch in der Revisionsbegründung einen formellen, genau formulierten Antrag gestellt. Ein solcher könnte allenfalls seinem Schriftsatz vom 14. August 1980 entnommen werden. Er wäre jedoch unbeachtlich, da er erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingegangen ist. Indes ist der … Revisionsbegründung zu entnehmen, welches prozessuale Ziel der Kläger erreichen will, nämlich die Aufhebung des Urteils des LSG und die Verwerfung bzw Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Das folgt aus seinem Vorbringen auf Seite 3 der Revisionsbegründung, wonach er der Auffassung ist, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig und das LSG hätte, anstatt auszusetzen, sogleich entscheiden und die Berufung verwerfen oder zurückweisen müssen. Damit ist aus seinem Vorbringen ein eindeutiger Revisionsantrag festzustellen und nach der Rechtsprechung des 8., 9. 10, und 12. Senats des BSG (SozR Nr. 14 zu § 164, SozR 1500 § 164 Nrn 6, 8 und 10), der sich der Senat anschließt, dem Erfordernis des bestimmten Antrags gemäß § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG genügt.

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.

Der Kläger hat zwar nicht in der gemäß § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG erforderlichen Form gerügt, daß das LSG zu Unrecht hinsichtlich des angefochtenen Aufhebungsbescheides in der Sache entschieden hat. Dennoch ist der Senat verpflichtet, in eine entsprechende Prüfung einzutreten. Bei einer zulässigen Revision muß das Revisionsgericht, bevor es entscheidet, ob die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs bestehen, prüfen, ob die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen vorliegen; hierzu gehört nach der ständigen Rechtsprechung des BSG die Zulässigkeit der Berufung (BSG SozR 1500 § 147 Nr. 2, § 150 Nr. 18). Das LSG ist zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Voraussetzung hier vorliegt.

Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß in dem hier vorliegenden Rechtsstreit zwei getrennte prozessuale Ansprüche geltend gemacht werden, für die die Zulässigkeit der Berufung jeweils gesondert zu prüfen ist (BSG SozR 1500 § 144 Nrn 2 und 4). Der Bescheid vom 25. Juni 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 1975 enthält zwei Verfügungssätze; Die Aufhebung der Bewilligung des Alg für die Zeit vom 4. Oktober bis 31. Dezember 1974 und außerdem die Rückforderung der für diesen Zeitraum gezahlten Leistungen, Soweit es die Rückforderung angeht, ist die Berufung bereits gemäß § 149 SGG statthaft, weil der Beschwerdewert 1.000,– DM übersteigt. Das hat indes nicht zur Folge, daß deshalb auch die Berufung hinsichtlich der Anfechtung des Verfügungssatzes über die Aufhebung der Bewilligung des Alg zulässig wäre. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist zwar, wenn mit einer Klage zwei Ansprüche verfolgt werden, die so miteinander verbunden sind, daß der eine präjudiziell für den anderen ist, für den abhängigen Anspruch die Berufung trotz Vorliegens eines Ausschlußgrundes statthaft, wenn sie für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist (BSG SozR 1500 § 146 Nr. 4). Anderenfalls könnte sich die rechtlich nicht hinnehmbare Folge ergeben, daß die über den präjudiziellen Anspruch ergehende Rechtsmittelentscheidung dem anderen an sich nicht mehr anfechtbaren Anspruch die Grundlage entzöge, oder umgekehrt erst die Grundlage schafft. Hier ist es jedoch so, daß präjudiziell nur die Entscheidung über die Aufhebung der Beteiligung sein kann. Die Zulässigkeit der Berufung hinsichtlich dieses Anspruchs ist daher gesondert zu prüfen.

Zutreffend ist die Auffassung des LSG, die Berufung sei insoweit an sich ausgeschlossen. Zumindest ist dies gemäß § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG der Fall. In Streit ist insoweit der Anspruch des Klägers auf Alg für die Zeit vom 4. Oktober bis 31. Dezember 1974. Es handelt sich hierbei um wiederkehrende Leistungen, die einen Zeitraum von dreizehn Wochen (3 Monaten) nicht überschreiten. Dennoch ist die Berufung gemäß § 150 Nr. 2 SGG zulässig, weil die Beklagte einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des SG gerügt hat, der auch tatsächlich vorliegt (§ 150 Nr. 2 SGG).

Das SG hätte, nachdem das BVerfG in seinem Beschluß vom 12. Mai 1976 entschieden hatte, die Regelung des § 117 Abs. 2 Satz 1 und Satz 3, Halbsatz 1 des AFG vom 25. Juni 1969 sei mit Art. 3 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip unvereinbar, soweit eine Abfindung, die ein Arbeitnehmer bei vorzeitiger Auflösung seines Arbeitsverhältnisses durch Vergleich erhält, in voller Höhe zum Ruhen des Anspruchs auf Alg führt, auf Antrag der Beklagten das Verfahren aussetzen müssen, bis der Gesetzgeber eine entsprechende Neuregelung getroffen hatte. Nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des SG kam es hierauf an. Es hat ausdrücklich hervorgehoben, eine Rückforderung könne erst dann erfolgen, wenn der Gesetzgeber im Einklang mit der Entscheidung des BVerfG eine neue Regelung gefunden habe. Es ist also davon ausgegangen, ob in dem hier in Betracht kommenden Zeitraum die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Alg, zu denen auch das Nichtvorliegen von Ruhenstatbeständen gehört (vgl. BSG SozR 4100 § 117 Nr. 2), nicht vorlagen und damit die Aufhebung des Bewilligungsbescheides zulässig war, könne erst nach Erlaß einer gesetzlichen Neuregelung entschieden werden. Indem das SG entgegen seiner Pflicht zur Aussetzung in der Sache entschieden hat, hat es einen Verfahrensvorstoß begangen, der wesentlich ist. Es ist nicht auszuschließen, daß es bei einer Entscheidung unter Berücksichtigung der inzwischen zu § 117 AFG in dem 4. AFGÄndG getroffenen Neuregelung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.

Allerdings läßt sich die Pflicht des SG zur Aussetzung nicht unmittelbar aus § 114 SGG herleiten. Jedoch ergibt sich die Notwendigkeit der Aussetzung zwingend daraus, daß das BVerfG nicht die Nichtigkeit der Norm festgestellt hat, sondern deren Verfassungswidrigkeit. Dies hat zur Folge, daß die Norm, ebenso wie im Falle der Nichtigkeit, vom Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG an in dem sich aus dem Tenor ergebenden Ausmaß nicht mehr angewendet werden darf (BVerfGE 37, 217, 261). Im übrigen ist das rechtliche Schicksal der Norm solange ungewiß, bis der Gesetzgeber entschieden hat, in welcher Weise er dem verletzten Verfassungsgebot Rechnung tragen will (vgl. BVerfGE 23, 1, 10). Daraus folgt, daß die Exekutive und die rechtsprechende Gewalt nicht vor Erlaß der neuen gesetzlichen Regelung endgültige Entscheidungen treffen dürfen. Unabhängig von der Frage, ob der Gesetzesvorbehalt sonst gem Art. 20 Abs. 3 SGG grundsätzlich auch für die Leistungsverwaltung gilt, ist dies jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden zu bejahen. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Entscheidung des BVerfG, die gern § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auch für die Gerichte verbindlich ist. Wenn das BVerfG eine Norm für nicht mehr anwendbar erklärt und die Ausfüllung der dadurch entstandenen Lücke ausdrücklich dem Gesetzgeber überläßt, gebietet es der Grundsatz der Gewaltenteilung, daß die Fachgerichte, soweit es ihrer Auffassung nach auf die beanstandete Regelung ankommt, zunächst von einer Entscheidung absehen. Insoweit tritt notgedrungen ein Stillstand des Verfahrens ein, der anstatt einer Entscheidung in der Sache solange die Aussetzung gebietet, bis der Gesetzgeber die erforderliche Neuregelung getroffen hat (s. LSG Hamburg, Breithaupt 1978, So 611 ff; Leibholz-Rupprecht, BVerfGG – Kommentar – Nachtrag § 31 Anm. 3; Balser, AuB 1977, S. 229 ff mwN). Damit wird vor allem die unerwünschte Konsequenz vermieden, die die Nichtigkeitserklärung einer leistungsbeschränkenden Norm um eine solche handelt es sich bei § 117 AFG – zur Folge hätte: Die leistungsgewährende Stelle müßte allen, die ohne die Einschränkung leistungsberechtigt wären, die Leistung bewilligen, obwohl der Gesetzgeber die Verfassungswidrigkeit auf eine andere Weise als durch die totale Streichung zu beseitigen vermag. Dem trägt die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das BVerfG Rechnung (s. Leibholz-Rupprecht aaO). Diese Rechtsfolge darf durch die Gerichte nicht unbeachtet bleiben. Das SG hätte daher das Verfahren aussetzen müssen. Das LSG hat somit zu Recht seine materielle Entscheidungsbefugnis auf § 150 Nr. 2 SGG hergeleitet.

Gegenstand der Überprüfung ist lediglich die Rechtmäßigkeit des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 25. Juni 1975 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 1975. Soweit das LSG meint, die Beklagte habe mit Bescheid vom 21. November 1977 eine Neuberechnung des Alg-Anspruchs des Klägers aufgrund des Entwurfes des 4. AFGÄndG durchgeführt, irrt es. Es handelt sich hierbei nicht um einen neuen Verwaltungsakt, der gem § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, sondern um schriftsätzliches Vorbringen. Zu dessen Erläuterung hat die Beklagte ein entsprechendes Bescheidformular benutzt. Rechtlich stellt es sich als Nachschieben von Gründen dar. Die Beklagte hat die aufgrund der beabsichtigten Neufassung des § 117 AFG zu erwartende neue Rechtslage berücksichtigt. Hierzu war sie berechtigt.

Aufgrund der Feststellungen des LSG läßt sich nicht entscheiden, ob der angefochtene Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid rechtmäßig ist. Grundlage für die Aufhebung der Bewilligung des Alg ist § 151 Abs. 1 AFG. Hiernach werden Entscheidungen, durch die Leistungen nach dem AFG gewährt worden sind, insoweit aufgehoben, als die Voraussetzungen für die Leistung nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind. Daß diese Vorschrift auch für Fälle gilt, in denen ein Ruhenstatbestand vorliegt, ist ständige Rechtsprechung des Senats (s. Urteil vom 14. Februar 1978 = SozR 4100 § 117 Nr. 2 = BSGE 46, 20). Nicht entscheiden läßt sich, ob und wie weit der Anspruch des Klägers auf Alg in dem hier in Betracht kommenden Zeitraum geruht hat. Das richtet sich hinsichtlich des Ausmaßes des Ruhens nach § 117 Abs. 3 AFG idF des Art. 1 Nr. 9 Buchst b des 4. AFGÄndG vom 12. Dezember 1977 (BGBl I 2557). Diese Vorschrift ist zwar erst mit Wirkung vom 12. Mai 1976 in Kraft getreten (Art. 8 Satz 2, 4. AFGÄndG). Sie gilt aber auch für Ansprüche, die vor dem 12. Mai 1976 entstanden sind, wenn die Entscheidung über den Anspruch zu diesem Zeitpunkt noch in zulässiger Weise angefochten werden konnte (Art. 6 Nr. 3 Satz 1 4. AFGÄndG). Dies war hier infolge der Klageerhebung der Fall, Dagegen richtet sich das Ob des Ruhens nach § 117 Abs. 2 AFG in der ursprünglichen Fassung des Gesetzes, denn § 117 Abs. 2 AFG aF ist, soweit er nicht durch Art. 1 Nr. 9 Buchst b 4. AFGÄndG, dh durch die Neufassung des § 117 Abs. 3 AFG, neu geregelt worden ist, für Ansprüche, die vor Inkrafttreten des 4. AFGÄndG am 1. Januar 1978 (Art. 8 Satz 1 4. AFGÄndG) entstanden sind, in der bisherigen Fassung weiterhin anzuwenden (Art. 6 Nr. 3 Satz 2 4. AFGÄndG). Mit dieser Übergangsvorschrift bezweckte der Gesetzgeber, die mit § 117 Abs. 2 AFG nF vorgenommene Verallgemeinerung der Anwendungsfälle, die durch den Beschluß des BVerfG vom 12. Mai 1976 (BVerfGE 42, 176 = SozR 4100 § 117 Nr. 1) zu § 117 AFG aF nicht erforderlich geworden war, von dem rückwirkenden Inkrafttreten auszuschließen (vgl. Begründung zu Art. 2 Nr. 3 des Regierungsentwurfs des 4. AFGÄndG, BT-Drucks 8/857 S. 10). Der Anspruch auf Alg ruht daher gem § 117 Abs. 2 AFG aF im Falle des Klägers nur, wenn er wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung erhalten oder zu beanspruchen hat und das Arbeitsverhältnis vorzeitig durch Aufhebungsvertrag, Vergleich oder nach einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen unbegründeten außerordentlichen Kündigung durch Urteil (§ 11 Abs. 1 Satz 3 des KSchG) beendet worden ist. Die Neuregelung des § 117 AFG durch das 4. AFGÄndG entspricht Art. 3 des GG und trägt den Bedenken Rechnung, die das BVerfG in seiner Entscheidung vom 12. Mai 1976 zum Ausdruck gebracht hat (BSGE 46, 20 = SozR 4100 § 117 Nr. 2).

Nach den Feststellungen des LSG ist das Arbeitsverhältnis des Klägers durch gerichtlichen Vergleich vom 25. April 1975 beendet worden. Es kann hiernach auch davon ausgegangen werden, daß der Kläger die darin vereinbarte Abfindung wegen der Auflösung des Arbeitsverhältnisses erhalten hat. Dem Grunde nach ist daher ein Ruhen des Anspruchs des Klägers eingetreten. Mit zutreffender Begründung ist das LSG davon ausgegangen, daß entgegen der Auffassung des Klägers der … Ruhenszeitraum nicht mit dem Tag des Vergleichsabschlusses beginnt, sondern unmittelbar mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses. Erkennbar ging der Wille des Gesetzgebers dahin, den Alg-Anspruch für einen Zeitraum ruhen zu lassen, in dem der Arbeitslose bei Einhaltung einer ordentlichen Kündigungsfrist noch einen Anspruch auf Arbeitsentgelt gehabt hätte. Dem LSG ist jedoch entgangen, daß nach § 117 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AFG nF der Anspruch auf Alg nicht über den Tag hinaus ruht, an dem der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grunde ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist hätte kündigen können. Diese Begrenzung der Ruhensfrist beruht auf der Überlegung, daß beim Vorliegen eines Rechts zur fristlosen Kündigung eine dennoch gezahlte Abfindung allein der Entschädigung für den sozialen Besitzstand dient (vgl. Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drucks 8/857 S. 9). Die Begrenzung des § 117 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AFG entfällt nicht, wenn sich – wie hier – die Parteien des Arbeitsvertrages nach erfolgter außerordentlicher Kündigung über die Beendigung des Arbeitsvertrages verständigt haben. Der Arbeitgeber, der ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist aus wichtigem Grund hätte kündigen können, wird in seltenen Fällen eine Abfindung zahlen; daher wird dem Arbeitgeber, wenn er nach außerordentlicher Kündigung sich bei Zahlung einer Abfindung vergleicht, das außerordentliche Kündigungsrecht häufig nicht zur Seite gestanden haben. Dieser allgemein bekannte Sachverhalt hat den Gesetzgeber jedoch nicht veranlaßt, die Anwendung des § 117 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AFG für solche Fälle auszuschließen oder die Handhabung der Vorschrift dadurch zu vereinfachen, daß bei Vergleichen vermutet wird, ein außerordentliches Kündigungsrecht habe nicht vorgelegen. Daher darf nach einem Vergleich nicht einfach angenommen oder vermutet werden, es habe an einem außerordentlichen Kündigungsrecht gefehlt (so aber Krebs, AFG, § 117 RdNr. 30. Februar 1980). Vielmehr ist, macht der Arbeitslose geltend, der Arbeitgeber habe ihm das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund zu einem Zeitpunkt kündigen können, zu dem der Anspruch auf Alg nach den übrigen Vorschriften des § 117 AFG ruht, nach materiellem Arbeitsrecht zu prüfen, ob dies der Fall gewesen ist. Ein Vergleich bzw eine Verständigung ist allenfalls ein Anzeichen dafür, daß ein (eindeutiger) Grund zur fristlosen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag (vgl. Schönefelder/Kranz/Wanka, AFG, § 117 RdNr. 18. Juni 1978).

Entsprechende Feststellungen hat das LSG nicht getroffen. Da es dem BSG als Revisionsgericht grundsätzlich verwehrt ist, eigene Ermittlungen anzustellen, ist die Sache schon aus diesem Grunde an das LSG zurückzuverweisen (§§ 163, 170 Abs. 1 und 2 SGG), damit dieses den Sachverhalt entsprechend aufklären kann. Hierbei wird es auch die Behauptung des Klägers zu berücksichtigen haben, er habe im Verfahren vor dem Arbeitsgericht durch sein Vorbringen zusätzliche Gründe geschaffen, welche seinen damaligen Arbeitgeber berechtigt hätten, das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen. Sollten die Ermittlungen des LSG ergeben, daß in dem hier in Betracht kommenden Zeitraum solche Gründe vorliegen, hätte es weiter zu prüfen, ob und in welchem zeitlichen Umfang der Anspruch auf Alg gem § 119 Abs. 1 und 2 AFG ruht und der Aufhebungsbescheid zumindest teilweise unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt aufrechterhalten werden kann. Das Gericht hat bei einer Anfechtungsklage von Amts wegen den Verwaltungsakt umfassend zu prüfen und alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn der Verwaltungsakt nicht auf sie gestützt war. Das wäre im vorliegenden Fall nach den Grundsätzen, die zum Nachschieben von Gründen entwickelt worden sind, zulässig. Der Verwaltungsakt würde insoweit nicht zu Ungunsten des Klägers nach Inhalt und Wirkung verändert. Sein Anspruch bliebe inhaltlich der gleiche. Eine Verschlechterung der Rechtsposition des Klägers käme gleichfalls hier nicht in Betracht. Die Sperrzeit kann höchstens einen Monat betragen, würde also noch kürzer sein als die bisher festgestellte Ruhenszeit. Weitere Nachteile für den Kläger würden sich jedenfalls im vorliegenden Fall nicht ergeben. § 110 Nr. 1 a AFG, wonach sich die Dauer des Anspruchs auf Alg um die Tage einer Sperrzeit nach § 119 unter den dort genannten Voraussetzungen mindert, ist gem Art. 6 Nr. 1 des 4. AFGÄndG erstmals bei Sperrzeiten anzuwenden, die nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Januar 1978) eingetreten sind.

Sollte es sich herausstellen, daß die Voraussetzungen für einen Ruhenstatbestand gem § 117 oder § 119 AFG vorliegen, dann ergibt sich die Befugnis der Beklagten zur Rückforderung aus § 152 Abs. 2 oder aus § 152 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AFG. Irrig ist die Auffassung des Klägers, für den Fall des Ruhens gem § 117 AFG sei in diesem Fall eine Rückforderung nach Art. 6 Nr. 3 Satz 1 Halbsatz 2 4. AFGÄndG ausgeschlossen. Hiernach sind Leistungen, die der Arbeitslose erhalten hat, anzurechnen, übersteigende Beträge sind nicht zurückzuzahlen. Dieser Formulierung kann nicht entnommen werden, der Gesetzgeber habe in den noch anhängigen Fällen, in denen der Anspruch vor dem 12. Mai 1976 entstanden ist, eine Rückforderung insgesamt ausschließen wollen. Die Regelung kann nur so verstanden werden, daß eine Schlechterstellung des Arbeitslosen durch die Neuregelung nicht eintreten soll. Inwieweit Leistungen, die der Arbeitslose von seinem früheren Arbeitgeber erhalten hat, anzurechnen sind, wird bereits durch § 117 Abs. 3 AFG nF geregelt. Zutreffend hat der Kläger darauf hingewiesen, daß insoweit eine Schlechterstellung in den hier in Betracht kommenden Übergangsfällen nicht eintreten kann. Leistungen iS von Art. 6 Nr. 3 Satz 1 Halbsatz 2 können daher nur Alg und Unterhaltsgeld –Uhg– (§ 44 Abs. 7 AFG) sein. Insoweit hat die getroffene Regelung die Funktion eines Auffangtatbestandes. Sie will verhindern, daß Verschlechterungen, die möglicherweise durch die Neuregelung eintreten könnten, zu einer Rückforderung der bisher gewährten Leistungen führen.

Auch der Einwand des Klägers, eine Verpflichtung zur Rückzahlung könne nicht entstehen, weil es sich bei der Neuregelung um ein belastendes Gesetz mit echter Rückwirkung handele, greift nicht durch. Der Kläger wird durch die neue gesetzliche Regelung nicht schlechter gestellt, als er nach der bisherigen gestanden hatte. Vielmehr führt die in § 117 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 AFG geschaffene Regelung zu einer für ihn günstigeren Position.

Die Sache ist daher in vollem Umfang zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI925861

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