Leitsatz (redaktionell)

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10. April 1979 und der Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 1977 aufgehoben

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Beteiligte

Klägerin und Revisionsklägerin

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Verfahrensgang

SG Münster

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin während ihrer knapp dreimonatigen Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 1) im Anschluß an ihre Reifeprüfung versicherungspflichtig war.

Die 1956 geborene Klägerin bestand am 21. Juni 1977 ihr Abitur mit einem Notendurchschnitt, der für die sofortige Zulassung zu dem von ihr beabsichtigten Studium der Zahnmedizin nicht ausreichte. Sie war vom 27. Juni bis zum 23. September 1977 als Arbeiterin (sog. Werkstudentin) in einem Zweigwerk der Beigeladenen zu 3) in B… beschäftigt; die regelmäßige Arbeitszeit betrug 40 Wochenstunden.

In einem bei Aufnahme der Tätigkeit erstellten Fragebogen zur Versicherungspflicht ist neben der Dauer des Arbeitsverhältnisses (vom 27. Juni bis 23. September 1977) vermerkt, die Klägerin habe "noch keinen Studienplatz", sie habe "zur Zeit keine Aussicht auf Studienplatz zum 1.10.1977".

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 30. Juni 1977 und Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 1977 die Versicherungspflicht der Klägerin zur Kranken-, Arbeiterrenten- und Arbeitslosenversicherung festgestellt. Dabei ist sie davon ausgegangen, daß die Klägerin nur einen Abitur-Notendurchschnitt erreicht habe, mit dem sie erst nach einer Wartezeit von drei bis vier Jahren mit einem Studienplatz für das beabsichtigte Studium der Zahnmedizin rechnen könne. Deshalb müsse angenommen werden, daß sie ihre Beschäftigung bei der Beigeladenen zu 3) berufsmäßig ausgeübt habe. Die Klägerin hat zur Begründung ihrer Klage vorgetragen, sie habe im Hinblick auf den von ihr erreichten Notendurchschnitt die Zulassung zu dem beabsichtigten Studium der Zahnmedizin schon zum Wintersemester 1977/78, zumindest aber zum Sommersemester 1978 erwartet und die Beschäftigung deshalb von vornherein auf drei Monate begrenzt. Sie hat ihr Studium zum Sommersemester 1978 aufgenommen.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 10. April 1979 abgewiesen: Die Klägerin habe am 27. Juni 1977 eine berufsmäßige Tätigkeit begonnen. Das ergebe sich daraus, daß sie ihr beabsichtigtes Studium nicht bereits am 1. Oktober oder am 1. November 1977 habe aufnehmen können und daß auch die Zulassung zum Sommersemester 1978 bei dem von ihr erreichten Notendurchschnitt ungewiß gewesen sei. Die Berufsmäßigkeit ihrer Tätigkeit sei auch dann nicht zu verneinen, wenn das Beschäftigungsverhältnis zunächst arbeitsvertraglich auf weniger als drei Monate begrenzt worden sei, weil die Vertragspartner dieses Arbeitsverhältnis jederzeit hätten verlängern können. Die Klägerin habe ferner nach Ablauf dieses Arbeitsverhältnisses ihre berufsmäßige Tätigkeit in einem anderen Arbeitsverhältnis fortsetzen können.

Die Klägerin trägt zur Begründung ihrer - vom SG zugelassenen - Sprungrevision vor, das SG habe bei seiner Feststellung, sie habe bei der Aufnahme ihrer Tätigkeit erklärt, zum 1. Oktober 1977 noch keinen Studienplatz zu haben, nicht ihren gesamten Sachvortrag berücksichtigt. Es habe auch aus der Ungewißheit über den voraussichtlichen Zeitpunkt ihrer Zulassung zum Studium der Zahnmedizin allein nicht schließen dürfen, daß sie ihre am 27. Juni 1977 begonnene Tätigkeit berufsmäßig ausgeübt habe.

Dieser Rechtsauffassung hat sich auch die Beigeladene zu 3) angeschlossen.

Die Klägerin und die Beigeladene zu 3 beantragen, das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 10. April 1977 und den Bescheid der Beklagten vom 30. Juni 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 1977 aufzuheben.

Die Beklagte und die Beigeladenen zu 1) und 2) beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

II

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil und die angefochtenen Bescheide sind aufzuheben, weil die Klägerin bei der Beigeladenen zu 3) nicht versicherungspflichtig beschäftigt war.

Das SG hat zutreffend - wenn auch ohne nähere Begründung - das Rechtsschutzinteresse für die von der Klägerin erhobene Klage bejaht, weil auch der als Versicherter in Anspruch Genommene zur Anfechtung eines seine Versicherungspflicht feststellenden Bescheides befugt ist (vgl. BSGE 15, 118, 122).

Mit dem SG ist ferner davon auszugehen, daß die Klägerin während ihrer Beschäftigung bei der beigeladenen Firma nur dann in den fraglichen Versicherungszweigen versicherungs- bzw. beitragsfrei war, wenn es sich bei ihrer Beschäftigung um eine nicht berufsmäßig ausgeübte Nebenbeschäftigung oder- für die Beschäftigungszeit ab 1. Juli 1977 - um eine geringfügige Beschäftigung handelte (§§ 168 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2, 1228 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. Abs. 2 RVO a.F., für die Zeit ab 1. Juli 1977 ersetzt durch §§ 168, 1228 Abs. 1 Nr. 4 RVO i.d.F. des Gesetzes vom 23. Dezember 1976, BGBl. I 3845; § 169 Nr. 1 AFG). Von den mehreren Fällen einer versicherungsfreien Nebenbeschäftigung kam dabei für die Klägerin nur der Fall einer gelegentlichen Beschäftigung in Betracht, die im Laufe eines Jahres seit ihrem Beginn auf nicht mehr als drei Monate oder insgesamt 75 Arbeitstage nach der Natur der Sache beschränkt zu sein pflegte oder im voraus durch Vertrag beschränkt war (§§ 168 Abs. 2 Buchst. a, 1228 Abs. 2 Buchst a RVO a.F.; ihnen entspricht für die Zeit ab 1. Juli 1977 § 8 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch -SGB- IV i.d.F. des genannten Gesetzes vom 23. Dezember 1976 bzw. für die Zeit ab 1. Januar 1979 i.d.F. des Gesetzes vom 25. Juli 1978, BGBl. I 1089).

Die Voraussetzungen dieser Vorschriften - hier: eine gelegentliche, auf längstens drei Monate im voraus durch Vertrag beschränkte Beschäftigung - haben bei der Klägerin vorgelegen; denn schon im Zeitpunkt ihrer Einstellung war die Dauer der Beschäftigung bei der beigeladenen Firma auf die Zeit vom 27. Juni bis zum 23. September 1977, also auf weniger als drei Monate, begrenzt worden. Dennoch wäre ihre Beschäftigung nicht versicherungsfrei gewesen, wenn die Klägerin sie berufsmäßig ausgeübt hätte (vgl. den ausdrücklichen Vorbehalt in §§ 168 Abs. 1 Nr. 2, 1228 Abs. 1 Nr. 5 RVO a.F. und 8 Abs. 1 Nr. 2 SGB IV). Die Klägerin ist jedoch - entgegen der Ansicht der beteiligten Versicherungsträger und des SG - nicht berufsmäßig beschäftigt gewesen.

Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung die Ausübung einer zeitlich befristeten Beschäftigung als berufsmäßig angesehen, wenn der Betreffende durch die Beschäftigung seinen Lebensunterhalt überwiegend oder doch in einem solchen Umfang erwirbt, daß seine wirtschaftliche Stellung zu einem erheblichen Teil auf der Beschäftigung beruht (SozR Nr. 11 zu § 1228 RVO; SozR 2200 § 168 Nr. 3). Diese zu §§ 168 Abs. 2, 1228 Abs. 2 RVO a.F. entwickelte Rechtsprechung hat auch über den 1. Juli 1977 hinaus Gültigkeit behalten, weil das Begriffsmerkmal der Berufsmäßigkeit nach altem wie nach neuem Recht für den hier vorliegenden Fall einer von vornherein befristeten Beschäftigung keine Veränderung erfahren hat.

Kommt es hiernach für die Frage der Berufsmäßigkeit einer Beschäftigung wesentlich auf ihre wirtschaftliche Bedeutung für den Beschäftigten an, wobei die gesamten Lebensverhältnisse des Beschäftigten, insbesondere seine Vermögens- und Einkommensverhältnisse und etwaige Unterhaltsansprüche zu berücksichtigen sind, so kann im Falle einer zeitlich befristeten Beschäftigung allerdings nicht allein auf die Verhältnisse während der Dauer dieser Beschäftigung abgestellt werden. Andernfalls wäre, wenn die befristete Beschäftigung als Voll- und nicht als Teilzeitbeschäftigung ausgeübt wird, in aller Regel Berufsmäßigkeit zu bejahen; denn ein auch nur für wenige Wochen einer solchen Beschäftigung gezahltes volles Arbeitsentgelt würde für ihre Dauer im allgemeinen die wirtschaftliche Lebensgrundlage des Beschäftigten sein. In Fällen dieser Art hat deshalb das Bundessozialgericht (BSG) das Maß der zeitlichen Inanspruchnahme durch eine Beschäftigung (Zahl der wöchentlichen Arbeitsstunden), das als wesentliches Indiz für ihre Berufsmäßigkeit gelten kam (vgl. das schon genannte Urteil des Senats in SozR RVO § 1228 Nr. 11), auf einen längeren Zeitraum als die eigentliche Dauer der Beschäftigung bezogen und bei wiederholten befristeten Beschäftigungen einen Zeitraum von etwa einem Jahr zugrunde gelegt (BSGE 32, 268).

Ob in Fortführung dieser Rechtsprechung die erstmalige Ausübung einer befristeten Beschäftigung nur dann als berufsmäßig anzusehen wäre, wenn nach den gesamten Umständen des Falles, insbesondere nach den Lebensverhältnissen des Beschäftigten, innerhalb eines Jahres mit weiteren Beschäftigungszeiten zu rechnen ist und sich unter Einbeziehung der ersten Beschäftigung im Durchschnitt eine wöchentliche Arbeitszeit von mindestens 20 Stunden im Jahr ergibt, oder ob insoweit auch eine geringere durchschnittliche Arbeitszeit ausreicht, läßt der Senat unentschieden. Berufsmäßigkeit einer erstmals ausgeübten befristeten Beschäftigung kann jedenfalls dann nicht mehr angenommen werden, wenn bei ihrer Aufnahme keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß der ersten Beschäftigung innerhalb absehbarer Zeit eine weitere folgen wird, wenn also die erste Beschäftigung eine vereinzelte Ausnahme bleibt. Anhaltspunkte für die Annahme des Gegenteils müssen dabei positiv festgestellt werden, um eine Berufsmäßigkeit der ersten Beschäftigung zu begründen. Es genügt nicht, wie das SG angenommen hat, daß nach den Lebensverhältnissen des Beschäftigten die Möglichkeit besteht, daß er noch weitere Beschäftigungen aufnehmen wird.

Im vorliegenden Fall haben zu der Zeit, die für die Beurteilung der Versicherungspflicht einer Beschäftigung maßgebend ist, d.h. im Zeitpunkt ihrer Aufnahme (vgl. BSGE 32, 268, 270), keine Anhaltspunkte für die Annahme vorgelegen, daß die Klägerin nach Beendigung ihrer bis zum 23. September 1977 befristeten Beschäftigung vor Beginn ihres Studiums noch eine weitere Beschäftigung ausüben würde. Sie hatte bisher als Schülerin nicht zum Kreis der berufsmäßigen Arbeitnehmer gehört und sich nach dem Abitur um einen Studienplatz beworben. Auch wenn ihr ein solcher bei Aufnahme ihrer Beschäftigung noch nicht zugeteilt und deshalb der Beginn ihrer Studiums ungewiß war, gab es in ihrem Fall nach den vom SG getroffenen Feststellungen doch keine positiven Anhaltspunkte dafür, daß sie nach dem Ende ihrer - von vornherein zeitlich beschränkten - Beschäftigung bei der beigeladenen Firma vor Aufnahme ihres Studiums noch weitere Beschäftigungsverhältnisse eingehen würde. Die Feststellung von solchen - hier fehlenden - positiven Anhaltspunkten kann auch nicht durch die Vermutung ersetzt werden, daß ein Abiturient, der nach Ablegung der Reifeprüfung nicht im Laufe des nächsten halben Jahres mit dem Beginn des Studiums rechnen kann, seinem Erscheinungsbild nach zum Personenkreis der berufsmäßig beschäftigten Arbeitnehmer gehört (so das Besprechungsergebnis der Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger - vom 21./22. August 1979, DOK 1979, 946, 948 unter Nr. 5). Für eine Vermutung dieser Art gibt es nach Auffassung des Senats keine rechtliche Grundlage. Auch im Falle der Klägerin hat deshalb die Beklagte nicht von einer solchen Vermutung, die hier im übrigen durch die spätere Entwicklung widerlegt worden ist, ausgehen dürfen, sondern hätte die Beschäftigung der Klägerin nach den schon bei ihrem Beginn erkennbar gewordenen Umständen als nicht berufsmäßig und daher als versicherungsfrei ansehen müssen.

Auf die Revision der Klägerin hat der Senat somit das Urteil des SG und die von ihm bestätigten Bescheide der Beklagten aufgehoben und über die Kosten nach § 193 SGG entschieden.12 RK 30/79

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

Haufe-Index 518582

Breith. 1981, 376

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