Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung rechtlichen Gehörs im finanzgerichtlichen Verfahren

 

Leitsatz (NV)

Das FG hat das rechtliche Gehör nicht gewährt, wenn es dem Kläger keine Gelegenheit gibt, zur Frage der Steuerhinterziehung Stellung zu nehmen, obwohl es von einer Verjährungsfrist von 10 Jahren ausgeht.

 

Normenkette

FGO § 96 Abs. 2; GG Art. 103 Abs. 1; AO § 144 Abs. 1 S. 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin zu 2 (Klägerin) erwarb 1971 einen Bauplatz zum Preis von . . . DM.

Nachdem sie als Eigentümerin im Grundbuch eingetragen war, brachte die Klägerin dieses Grundstück durch Vertrag vom 18. Mai 1972 als stille Gesellschafterin in die . . . mbH & Co. KG (G) ein und übertrug es der G zu Eigentum.

Nach Abschn. VII der Vertragsurkunde vom 18. Mai 1972 sollte die Klägerin von der G monatlich 4 000 DM bis zum Gesamtbetrag von 96 000 DM als Darlehen erhalten. Das Darlehen sollte während der Dauer der stillen Gesellschaft zinslos und unkündbar sein und mit einem späteren Gewinnanteil der Klägerin bei der Verwertung des Grundstücks durch die G verrechnet werden.

In einer späteren Vereinbarung zwischen der G und der Klägerin vom 6. April 1973 wurde der Vertrag vom 18. Mai 1972 geändert. Danach sollte das Grundstück nunmehr auch unbebaut veräußert werden können. In Ziff. 2 dieses Vertrages wurde vereinbart, daß die Klägerin aus dem Verwertungserlös des gesamten Grundstücks einen Barbetrag von 200 000 DM erhalten sollte. Eine Zahlung von 20 000 DM und die monatlichen Zahlungen von 4 000 DM sollten als Vorauszahlungen auf den Gewinnanspruch von 200 000 DM angerechnet werden.

Am 11. September 1973 erhielt die Klägerin einen Scheck über 195 000 DM. In diesem Zusammenhang vereinbarten die Parteien, daß sie keine Ansprüche mehr gegeneinander hätten.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) rechnete der Klägerin für das Streitjahr 1973 Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von 389 700 DM zu und setzte die Einkommensteuer auf 182 230 DM fest.

In der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982 ging das FA von Einnahmen der Klägerin aus Kapitalvermögen in Höhe von 240 000 DM aus und setzte die Einkommensteuer entsprechend fest.

Nach Erhebung der Klage beauftragte das Finanzgericht (FG) nach Beweisbeschluß vom 9. Juni 1986 den Buchsachverständigen beim FG, über die der Klägerin im Jahre 1973 tatsächlich zugeflossenen Beträge aus dem Grundstücksgeschäft und aus der am 18. Mai 1972 mit der G abgeschlossenen stillen Gesellschaft ein Gutachten zu erstellen. In seinem Gutachten vom 27. Juli 1986 errechnete der Gutachter Einnahmen der Klägerin für das Streitjahr 1973 aus der stillen Gesellschaft in Höhe von 284 000 DM.

Hinsichtlich der Einkommensteuer 1973 wies das FG die Klage als unbegründet ab.

Es ging davon aus, daß der Klägerin 1973 284 000 DM als Einnahmen aus Kapitalvermögen zugeflossen seien. Im Hinblick auf das Verböserungsverbot bleibe es aber bei den in der Einspruchsentscheidung angesetzten 240 000 DM.

Die Bekanntgabe des Einkommensteuerbescheids 1973 sei zunächst unwirksam gewesen, weil sie nur an den Kläger und Revisionskläger (Kläger) erfolgt sei. Die Steuerfestsetzung sei dann aber wirksam in der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982 erfolgt. Auch diese sei zwar nur dem Kläger zugestellt worden; das FA habe aber davon ausgehen dürfen, daß der Kläger inzwischen von der Klägerin zum Empfang der Einspruchsentscheidung bevollmächtigt gewesen sei.

Der Einkommensteueranspruch 1973 sei nicht verjährt, weil die Verjährungsfrist zunächst - wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen - gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) erst mit Ablauf des Jahres 1976 begonnen habe. Sie habe im Streitfall 10 Jahre betragen, weil die Kläger die Steuerbeträge gemäß § 392 Abs. 1 Nr. 1 AO hinterzogen hätten.Nach Zulassung der Revision durch den Bundesfinanzhof - BFH - (Aktenzeichen VIII B 89/87) haben die Kläger Revision eingelegt, die sie wie folgt begründen:

Das FG gehe von einer Steuerhinterziehung durch die Kläger aus, ohne in dieser Hinsicht eine Sachaufklärung durchgeführt zu haben.

Das FG habe ferner das rechtliche Gehör nicht gewährt:

Es habe den Klägern keine Gelegenheit gegeben, sich zu der erstmals im Urteil auftauchenden Tatsachenfeststellung zu äußern, die Kläger hätten sich gegenseitig zum Empfang der Einspruchsentscheidung bevollmächtigt.

Das FG unterstelle bei den Klägern eine Steuerhinterziehung. Der Vorwurf der Steuerhinterziehung sei weder im Verwaltungsverfahren noch im finanzgerichtlichen Verfahren gemacht worden. Das FG habe die Kläger auch nicht auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen.

Das FG unterstelle einen bedingten Vorsatz beim Kläger, der 1973 keine Einkünfte erzielt habe, und bei der Klägerin, die keine Erklärung gegenüber dem FA abgegeben habe. Noch im Aussetzungsverfahren sei das FG davon ausgegangen, daß der Klägerin keine Einkünfte aus Kapitalvermögen zuzurechnen seien.

Das FG habe auch nicht erörtert, inwieweit den Klägern der Vorwurf der Steuerunehrlichkeit gemacht werden könne. Der Vorwurf könne nicht gemacht werden, weil die Kläger den Zufluß der festgestellten Beträge nie bestritten hätten; sie seien dem FA bereits 1975 bekannt gewesen. Die Meinungsverschiedenheiten hätten lediglich in bezug auf die Zuordnung zu einer Einkunftsart - Spekulationsgewinne oder Kapitalertrag - bestanden. Da das Grundstücksgeschäft zu einem Verlust geführt habe, habe die Klägerin keine Veranlassung gehabt, steuerpflichtige Einkünfte zu erklären.

Die Kläger beantragen, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982 - beide, soweit das Jahr 1973 betroffen ist - sowie den Einkommensteuerbescheid 1973 vom 26. Oktober 1978 aufzuheben und die Einkommensteuer 1973 auf null DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen und hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger habe während des Klageverfahrens Gelegenheit gehabt, sich zur Frage der Verjährung zu äußern. Das FG habe in seiner Entscheidung vom 16. Oktober 1985 wegen Aussetzung der Vollziehung ausgeführt, daß die Steuerfestsetzung für 1973 durch die Einspruchsentscheidung wirksam sei. Danach habe für die Kläger Anlaß und Gelegenheit bestanden, zur Frage der Verjährung Stellung zu nehmen. Im übrigen sei die Verjährung durch den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 26. Oktober 1978 gehemmt worden (Hinweis auf das BFH-Urteil vom 17. Februar 1982 II R 176/80, BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Zu Unrecht rügen die Kläger allerdings, das FG habe ihnen kein rechtliches Gehör gewährt, weil es davon ausgehe, die Kläger hätten sich gegenseitig zum Empfang der Einspruchsentscheidung bevollmächtigt. Das FG hat bereits im Beschluß betreffend die Aussetzung der Vollziehung des streitigen Einkommensteuerbescheids ausgeführt, daß die Steuerfestsetzung gegenüber den Klägern wirksam durch die ordnungsgemäß zugestellte Einspruchsentscheidung erfolgt sei. Das hätte den Klägern Veranlassung geben müssen, ihre Zweifel an dieser Auffassung im Klageverfahren vorzutragen. Es bedurfte nicht eines erneuten Hinweises auf seine Rechtsansicht seitens des FG in diesem Verfahren.

2. Das FG hat aber das rechtliche Gehör nicht gewährt, weil es den Klägern keine Gelegenheit gegeben hat, zur Frage der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit der Festsetzungsverjährung Stellung zu nehmen (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes; § 119 Nr. 3 FGO).

Nach § 96 Abs. 2 FGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweismittel gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Darüber hinaus darf das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt, den ein Beteiligter erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat (§ 278 Abs. 3 der Zivilprozeßordnung - ZPO - i. V. m. § 155 FGO; BFH-Urteil vom 2. Februar 1982 VIII R 65/80, BFHE 135, 158, BStBl II 1982, 409 zu 1.).

Die Kläger rügen zu Recht, daß sie keine Gelegenheit hatten, sich zu den Tatsachen, aufgrund derer das FG eine Steuerhinterziehung bejaht hat, zu äußern. Gleiches gilt in bezug auf den rechtlichen Gesichtspunkt, daß der Tatbestand des § 392 Abs. 1 AO und des § 144 Abs. 1 AO erfüllt sei. Im Verwaltungsverfahren, insbesondere im Einkommensteuerbescheid vom 26. Oktober 1978 und in der Einspruchsentscheidung vom 18. Mai 1982, ist von einer Steuerhinterziehung nicht die Rede. Nach dem Inhalt der finanzgerichtlichen Akten dieses Verfahrens und auch des Aussetzungsverfahrens ist die Frage der Festsetzungsverjährung und der Steuerhinterziehung nicht - insbesondere auch nicht in der mündlichen Verhandlung - zur Sprache gekommen. Das FG hat den Klägern das rechtliche Gehör nicht gewährt, weil sie sich ohne Hinweis des FG zu diesem Punkt nicht äußern konnten. Die Frage der Festsetzungsverjährung stellte sich auch nicht so offensichtlich, daß sich ein Hinweis des FG erübrigt hätte (vgl. dazu Gräber /Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 119 Rdnr. 10). Abgesehen davon war es offensichtlich, daß die Kläger diesen Gesichtspunkt übersehen hatten (§ 278 Abs. 3 ZPO i. V. m. § 155 FGO). Die Zurückverweisung der Sache erübrigte sich, wenn es auf die streitigen Feststellungen und rechtlichen Gesichtspunkte unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen könnte, die Entscheidung des FG also im Ergebnis zweifellos richtig wäre (vgl. dazu Gräber / Ruban, a. a. O., § 119 Rdnr. 14). Davon kann jedoch im Streitfall nicht die Rede sein.

Das FA verweist auf das Urteil in BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524 und vertritt die Ansicht, die Verjährung sei bereits durch den Einspruch der Kläger vom 14. November 1978 gehemmt worden (§ 171 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 -). Sollte das der Fall sein, käme es allerdings auf die Frage, ob die Kläger den Tatbestand des § 392 Abs. 1 AO erfüllt haben, nicht an. Davon kann im Streitfall allerdings nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Die zitierte BFH-Entscheidung ist zu § 146 a Abs. 1 AO ergangen (ebenso das Urteil des FG Hamburg vom 3. März 1987 V 171/86, rechtskräftig, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1987, 390); in der Literatur wird zu § 171 Abs. 3 der Abgabenordnung - AO 1977 - eine andere Auffassung vertreten (vgl. Tipke /Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 171 AO 1977 Rdnr. 4; Schwarz / Frotscher, Abgabenordnung, Kommentar, § 171 Rdnr. 4; Koch / Höllig, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 171 Rdnr. 8; vgl. auch FG Düsseldorf, Urteil vom 9. August 1985 XV 431/85 E, rkr., EFG 1986, 57).

 

Fundstellen

Haufe-Index 416737

BFH/NV 1991, 44

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