Leitsatz (amtlich)

Im mechanisierten Veranlagungsverfahren ist eine Tatsache "neu" im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn sie dem FA nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens durch den zuständigen Beamten bekannt wird.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Die Revisionsbeklagte wurde mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann (Steuerpflichtiger) für 1965 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Revisionskläger (FA) hat die Erstveranlagung mittels Eingabewertbogens im maschinellen Verfahren durchgeführt. Die abschließende Zeichnung durch den Sachgebietsleiter erfolgte am 19. April 1967. Am 29. Juni 1967 wurde das Veranlagungsergebnis des aus dem Rechenzentrum in die Veranlagungsstelle zurückgekommenen Steuerbescheids in die Überwachungsliste für Veranlagungsteuern (V-Liste) eingetragen und dieser am selben Tage der Finanzkasse zugeleitet, die ihn am 20. Juli 1967 zur Post gab.

Gleichzeitig fand beim Steuerpflichtigen eine Betriebsprüfung statt, die am 19. Juni 1967 begonnen hatte und mit einer Schlußbesprechung am 26. Juni 1967 beendet wurde. Der Betriebsprüfungsbericht wurde der Veranlagungsstelle am 4. Juli 1967 übersandt und von dieser durch den angefochtenen Einkommensteuerberichtigungsbescheid 1965 vom 6. November 1967 ausgewertet. Gegen diesen Bescheid wandte sich der Steuerpflichtige mit der Begründung, die Feststellungen der Betriebsprüfung seien keine neuen Tatsachen, da sie dem FA zwar nach abschließender Zeichnung der Veranlagungsverfügung, aber noch vor der Bekanntgabe des Steuerbescheids bekanntgeworden seien. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat das FG der Klage durch sein in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1969 S. 431 veröffentlichtes Urteil stattgegeben.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Revisionsbeklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

Nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO findet eine Änderung des Steuerbescheids statt, wenn neue Tatsachen bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen. Der Begriff "neu" besagt in dem verwendeten Zusammenhang nur, daß das FA von den Tatsachen erst nach einem bestimmten Zeitpunkt oder Ereignis Kenntnis erlangt haben darf. Um welchen Zeitpunkt oder welches Ereignis es sich dabei handelt, kann dem Gesetzeswortlaut mangels einer ausdrücklichen Beziehung zwischen dem Begriff "neu" und einem bestimmten Ereignis nicht entnommen werden. Der maßgebende Zeitpunkt ergibt sich jedoch aus der systematischen Unterscheidung zwischen der - verwaltungsinternen - Entscheidung über die Steuerfestsetzung und der Bekanntgabe (§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO) des Steuerbescheids. Die Entscheidung wird dadurch getroffen, daß der zuständige Beamte die Veranlagungsverfügung - das ist im mechanisierten Veranlagungsverfahren der Eingabewertbogen - abschließend zeichnet. Die bis zu diesem Zeitpunkt vorgebrachten Tatsachen muß das FA berücksichtigen (vgl. z. B. § 85 AO). Bei später - bis zur Bekanntgabe des Steuerbescheids - vorgebrachten Tatsachen ist das FA nach § 92 Abs. 1 AO berechtigt, seine bereits entstandene Entscheidung nochmals zu ändern. Mit der Entscheidung ist die Willensbildung hinsichtlich der Steuerfestsetzung und damit die (eigentliche) Veranlagungstätigkeit des FA abgeschlossen. Tatsachen, die nach diesem Ereignis dem FA bekannt werden, sind neu im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Diese Auffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung, nach der das Wesentliche an einem förmlichen Steuerbescheid nicht seine Bekanntmachung, sondern die Beschlußfassung über die Steuerfestsetzung durch schriftliche Niederlegung und Unterzeichnung seitens des zuständigen Beamten ist (Urteil des BFH IV 274/62 vom 6. Juli 1967, BFH 89, 460, BStBl III 1967, 682, mit weiteren Nachweisen).

Zu Unrecht meint das FG, daß die Begründung des BFH-Urteils VI 150/62 U vom 23. August 1963 (BFH 77, 463, BStBl III 1963, 489), welches vorwiegend aus Gründen der Praktikabilität die abschließende Zeichnung der Veranlagungsverfügung als maßgebend ansieht, für das mechanisierte Veranlagungsverfahren nicht mehr zutreffe. Nach Rückkehr eines Bescheids vom Rechenzentrum zur Veranlagungsstelle wird der für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung zuständige Beamte nicht mehr mit dem Steuerfall befaßt. Aus dem Steuerbescheid werden lediglich bestimmte Daten in Listen übertragen. Diese Aufgabe berührt die Entscheidung über die Steuerfestsetzung nicht und wird regelmäßig vom Mitarbeiter der Veranlagungsstelle, d. h. einem grundsätzlich mit der Entscheidung über den Steuerfall nicht befaßten Beamten, vorgenommen. Das mechanisierte Verfahren trägt dem bestehenden Besteuerungssystem, das als Veranlagungsverfahren ein Massenverfahren vorsieht, Rechnung. Seine Vorteile würden aufgehoben, wenn der Sachbearbeiter nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens den Steuerfall weiterhin überwachen und unter Umständen wiederholt in eine sachliche Prüfung eintreten müßte. Die Berücksichtigung der Praktikabilität ist hier zulässig und geboten, da andernfalls die Funktionsfähigkeit modern eingerichteter Steuerbehörden in nicht zumutbarer Weise beeinträchtigt würde und diese Auslegung der Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht dazu führt, daß die allgemein anerkannten Auslegungskriterien zugunsten eines einfacheren Gesetzesvollzuges zurückgedrängt oder mißachtet werden (vgl. BFH-Urteil II 25/61 vom 20. Mai 1969, BFH 96, 129 [134], BStBl II 1969, 550, mit Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). Bei der Auslegung des § 222 AO haben die Gedanken der Rechtssicherheit und der Bestandskraft des Bescheids nicht den Vorrang vor den Grundsätzen der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung; beide Prinzipien sind gleichwertig (BFH-Urteil V 149/64 vom 30. Januar 1969, BFH 95, 236, BStBl II 1969, 409 [411]).

 

Fundstellen

Haufe-Index 425916

BStBl II 1972, 82

BFHE 1972, 301

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