Leitsatz (amtlich)

Art. 6 Abs. 1 GG wird nicht dadurch verletzt, daß beim Verlustabzug nach § 10d EStG mögliche Ansprüche des Steuerpflichtigen auf Kinderermäßigung unberücksichtigt bleiben. Die Ermäßigungen können nicht in späteren Jahren nachgeholt werden.

 

Normenkette

GG Art. 6 Abs. 1; EStG §§ 10d, 32

 

Tatbestand

Der Steuerpflichtige hatte im Jahre 1952 als Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft einen Verlust, der bei den Einkommensteuerveranlagungen der Jahre 1953 bis 1956 jeweils in Höhe der Gesamteinkünfte nach Abzug der sonstigen Sonderausgaben abgezogen wurde. Für das Streitjahr 1957 verblieben noch 40 332 DM als absetzbar; der Steuerpflichtige hatte trotz des Abzugs rund 32 000 DM zu versteuern. Nach seiner Auffassung ist jedoch der Verlust in Höhe der ihm für die Jahre 1953 bis 1956 insgesamt zustehenden 6 080 DM Kinderfreibeträge nicht aufgezehrt worden, weil diese sich nicht ausgewirkt hätten. Er könne also im Jahre 1957 noch 46 412 DM abziehen. Die Klage hatte keinen Erfolg.

Mit der Revision rügt der Steuerpflichtige, das Urteil des FG verstoße durch fehlerhafte Anwendung des § 10d EStG 1957 gegen Art. 6 Abs. 1 GG.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist nicht begründet.

Seit der Verlustabzug durch das Änderungsgesetz vom 1. Februar 1938 (RStBl 1938, 97) in das EStG 1934 eingefügt wurde, hat er seinen Platz unter den Sonderausgaben. Zwar wurde er durch das Gesetz zur Neuänderung von Steuern vom 6. Dezember 1954 (BStBl I 1954, 575) aus der allgemeinen Sonderausgabenvorschrift des § 10 EStG herausgenommen und in einen eigenen Paragraphen, den § 10d EStG, überführt. Doch geschah dies nur aus Gründen der Systematik, weil der Verlustabzug keine eigentliche Ausgabe ist, sondern den Charakter eines Verrechnungspostens hat. Das ändert aber nichts daran, daß der Verlustabzug rechtlich Sonderausgabe ist. Er gehört zu den Beträgen, die nach § 2 Abs. 2 Satz 1 EStG die Brücke zwischen dem einzelnen Einkunftsarten und dem Einkommen im Sinne des EStG bilden.

Diese Stellung des § 10d EStG trennt den Verlustabzug einerseits von der Gewinnermittlung bei den begünstigten Einkunftsarten. Andererseits ist durch § 2 Abs. 2 Satz 1 EStG für den § 10d EStG auch eine Scheidewand gegenüber den in Abschnitt IV des Gesetzes enthaltenen Tarifbestimmungen (§§ 32 bis 34c EStG) errichtet. Hieraus folgt, daß der Verlustabzug nichts zu tun hat mit den im Teil IV des EStG enthaltenen Vorschriften über den Tarif und die Steuerklassen.

Ziffernmäßig im Gesetz selbst enthaltene Kinderfreibeträge sind übrigens dem § 32 EStG in den für die Veranlagungszeiträume 1953 bis 1957 geltenden Fassungen unbekannt; sie waren damals in die Tabelle eingearbeitet. Erst der für die Zeit nach dem Streitjahr 1957 geltende § 32 EStG 1958 enthält zahlenmäßige Freibeträge, deren Abzug das nach den §§ 2 bis 24 EStG ermittelte Einkommen zu dem "zu versteuernden Einkommensbetrag" führt (§ 32 Abs. 1 EStG 1958).

Berührt sich demnach der Verlustabzug nicht mit den Abstufungen in der Einkommensteuertabelle oder den späteren Freibeträgen, so ist § 10d EStG im Verhältnis zu Art. 6 GG wertneutral. Es kann auch keine Rede davon sein, daß er regelmäßig gerade die Familie mit Kindern gegenüber anderen Steuerpflichtigen benachteiligt. Wird durch den Verlustabzug das Einkommen auf 0 DM gestellt, zahlen Steuerpflichtige mit oder ohne Kinder gleichermaßen keine Steuer. Der Verlustabzug ist seinem Wesen nach eine Durchbrechung des Prinzips der Periodenabgrenzung. Ähnlich einer Besteuerung nach dem Durchschnitt der dem Steuerjahr vorausgehenden Wirtschaftsjahre - so im preußischen EStG vom 24. Juni 1891, § 10 Abs. 1 (Preußische Gesetzsammlung 1891 S. 175) - soll mittels des Verlustabzugs insbesondere mit Rücksicht auf die Progression des Steuertarifs die Gesamtbelastung mehrerer Jahre gemildert werden. Motiv und Zielrichtung des § 10d EStG liegen also in einer ganz anderen Richtung als die von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Güter der Ehe und Familie. Allerdings gebietet Art. 6 Abs. 1 GG, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern; erst recht liegt darin das Verbot für den Staat, die Ehe zu schädigen und zu beeinträchtigen (Beschluß des BVerfG 1 BvL 4/54 vom 17. Januar 1957, BVerfGE 6, 55, BStBl I 1957, 193). Daraus folgt aber nicht, daß der Gesetzgeber bei steuerlichen Begünstigungen, die ihre Ursache außerhalb der Familie haben, gezwungen sei, Steuerpflichtige mit Kindern in besonderer Weise zu bedenken. Schließlich sei noch bemerkt, daß bei Grundgesetzwidrigkeit des § 10d EStG für den Steuerpflichtigen nichts erreicht wäre. Denn keinesfalls wäre der BFH oder ein anderes Gericht befugt, in Konkurrenz zum verfassungsmäßigen Gesetzgeber die Steuerbegünstigung des § 10d EStG zu erweitern.

Die Anwendung des § 10d EStG durch die Vorinstanz ist auch der Sache nach nicht zu beanstanden. Sie entspricht der Rechtsprechung des BFH zu allen Fassungen des § 10d EStG; siehe z. B. die Entscheidungen IV 266/54 U vom 1. Dezember 1955 (BFH 62, 108, BStBl III 1956, 41), VI 243/60 U vom 17. Februar 1961 (BFH 72, 634, BStBl III 1961, 232), VI 59/61 U vom 25. August 1961 (BFH 73, 768, BStBl III 1961, 546), VI 131/62 vom 15. Februar 1963 (HFR 1963, 209). Danach hat der Steuerpflichtige den Abzug so früh wie möglich geltend zu machen; er darf ihn nicht nach seinem Belieben innerhalb der drei oder fünf Jahre verteilen.

Eine "verfassungskonforme Auslegung" des § 10d EStG, wie sie der Steuerpflichtige anstrebt, setzt voraus, daß mehrere Auslegungen möglich sind, von denen eine zu einem grundgesetzwidrigen Ergebnis führt (vgl. das Urteil des BVerfG 1 BvL 29/57, 20/60 vom 21. Februar 1961, BVerfGE 12, 151, BStBl I 1961, 55, betreffend den Freibetrag im § 29 Abs. 1 des Lastenausgleichsgesetzes). Im Streitfall wird aber durch § 10d EStG und seine tatsächliche Handhabung, wie oben dargelegt, das GG nicht verletzt. Es kann nicht Ziel einer sog. verfassungskonformen Auslegung sein, über die Rechtsprechung in die Gesetzesanwendung Begünstigungen hineinzutragen, die dem Gesetzgeber vielleicht möglich gewesen wären, von denen er aber abgesehen hat.

Auch der Entscheidung des RFH VI A 1268/30 vom 8. August 1930 (RFH 27, 107, RStBl 1930, 680) kann entgegen der Ansicht des Steuerpflichtigen nichts zu seinen Gunsten entnommen werden. Das Urteil erging zu § 15 Abs. 1 Nr. 4 EStG 1925/1929, betraf also eine ganz andere als die gegenwärtige Gesetzeslage. Auch schon damals kam aber der RFH zu dem Ergebnis, daß der "vortragsfähige Verlust grundsätzlich von dem nach § 7 Abs. 3 EStG (1925) ermittelten Gesamteinkommen - vor Abzug des steuerfreien Einkommensteils und der Familienermäßigung - abzusetzen" sei (RFH 27, 119). Unmittelbar vorher steht der Satz, auf den der Steuerpflichtige sich offenbar bezieht: "Die Sache läßt sich vielleicht am ehesten mit der Ermäßigungsvorschrift des § 56 EStG (jetzt § 33 EStG) vergleichen und liegt nur insofern etwas anders, als die Begünstigung ..., wie der steuerfreie Einkommensteil und die Familienermäßigungen, durch Abzug vom Einkommen berücksichtigt wird". Aus dieser Bemerkung kann jedoch nicht entnommen werden, es müsse der Verlustvortrag (jetzt der Verlustabzug) um den gesetzlichen Kinderfreibetrag oder in ähnlicher Weise gekürzt werden; im Gegenteil wird ausdrücklich entschieden, daß der Verlustvortrag dem Abzug von Familienermäßigungen vorangeht.

Letzten Endes läuft das Verlangen des Steuerpflichtigen darauf hinaus, die in den Vorjahren nicht zum Zuge gekommenen Kinderermäßigungen in das Streitjahr zu übernehmen. Es gibt aber keine Bestimmung, wonach Begünstigungen, die mangels Einkommens in früheren Veranlagungszeiträumen nicht in Anspruch genommen werden konnten, später nachgeholt werden dürften. Die Lage im Streitfall ist als Folge des § 10d EStG die gleiche wie bei anderen Steuerpflichtigen, die jahrelang kein Einkommen hatten und deshalb keine Einkommensteuer zu zahlen brauchten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 68193

BStBl II 1968, 774

BFHE 1968, 278

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