Entscheidungsstichwort (Thema)

Schulden der Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 1 AO 1977

 

Leitsatz (amtlich)

Der Geschäftsführer einer KG, der Lohnsteuer vorsätzlich nicht einbehält, anmeldet und abführt, ist nicht Schuldner der Hinterziehungszinsen (ebenso BFH-Urteil vom 18.Juli 1991 V R 72/87 BFHE 164, 506, BStBl II 1991, 781).

 

Orientierungssatz

1. Der Geschäftsführer einer KG, der zu deren Vorteil Steuerhinterziehung begeht, haftet für die Hinterziehungszinsen. Ein --rechtswidrig-- gegen den Geschäftsführer erlassener Zinsbescheid kann nicht in einen Haftungsbescheid umgedeutet werden, weil der Erlaß eines Haftungsbescheids eine Ermessensentscheidung voraussetzt.

2. Mit der Vorschrift des § 235 Abs. 1 S. 2 AO 1977 soll der steuerliche Vorteil des Nutznießers der Steuerhinterziehung abgeschöpft werden. Der steuerliche Vorteil liegt darin, daß die geschuldete Steuer erst verspätet gezahlt wird (vgl. BFH-Urteil vom 19.4.1989 X R 3/86). § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 meint ausschließlich diesen steuerlichen Vorteil, nicht den wirtschaftlichen Vorteil, der mit der Verzinsung beim Steuerschuldner abgeschöpft werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 27.6.1991 V R 9/86). Allein der Steuerschuldner kann deshalb der Zinsschuldner für hinterzogene Steuern i.S. des § 235 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO 1977 sein (BFH-Urteil vom 11.5.1982 VII R 97/81). Der Gesetzeszweck des § 235 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 erschöpft sich darin, in Ergänzung des § 235 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 die Fälle zu regeln, in denen der Steuerschuldner nicht Zinsschuldner ist, weil die Steuern nicht zu seinem Vorteil hinterzogen worden sind (Anschluß an BFH-Urteil vom 18.7.1991 V R 72/87).

 

Normenkette

AO 1977 § 235 Abs. 1 S. 1, §§ 71, 128 Abs. 3, § 235 Abs. 1 Sätze 2-3

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war faktischer Geschäftsführer der M.-KG (KG). Er hatte Einnahmen der KG steuerlich nicht erfaßt und für unversteuerte Überstundenvergütungen an Angestellte der KG verwendet. Anläßlich einer Lohnsteuer- Außenprüfung wurde vereinbart, die auf die Überstunden entfallende Lohnsteuer nach einem Pauschsteuersatz zu erheben. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) machte die Steuer in einem Haftungsbescheid gegenüber der KG geltend und setzte gegenüber dem Kläger Hinterziehungszinsen fest.

Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage des Klägers gegen den Bescheid über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen wies das Finanzgericht (FG) mit folgender Begründung ab: Der Kläger habe als faktischer Geschäftsführer die objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung dadurch erfüllt, daß er für die Überstundenvergütungen keine Lohnsteuer einbehalten, angemeldet und abgeführt habe. Nach § 235 Abs.1 Satz 3 der Abgabenordnung (AO 1977) werde, wenn ein anderer als der Steuerschuldner seine Verpflichtung, einbehaltene Steuern an die Finanzbehörden abzuführen oder Steuern zu Lasten eines anderen zu entrichten, nicht erfülle, dieser Zinsschuldner. Die Verpflichtung zur Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer habe die KG getroffen bzw. --da diese nicht selbst handlungsfähig sei-- gemäß § 34 Abs.1 AO 1977 ihren Geschäftsführer. Dieser Auslegung des Satzes 3 des § 235 Abs.1 AO 1977 stehe auch nicht § 71 AO 1977 entgegen. Vielmehr sei diese Vorschrift so auszulegen, daß als Haftungsschuldner nicht in Betracht komme, wer nach § 235 Abs.1 Satz 3 AO 1977 als Hinterzieher Zinsschuldner sei. § 71 AO 1977 behalte seine Bedeutung für solche Steuerhinterzieher, die Steuern eines anderen Steuerschuldners verkürzten, ohne für dessen steuerliche Pflichten nach § 34 AO 1977 einstehen zu müssen.

Zur Begründung seiner vom FG zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung des § 235 Abs.1 AO 1977 geltend und trägt vor: Entgegen der Auffassung der Vorinstanz und in Übereinstimmung mit dem Urteil des FG München vom 10.November 1987 XII 63/87 AO (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1988, 155) ergebe sich aus § 235 Abs.1 AO 1977 lediglich eine Zinsschuldnerschaft der Gesellschaft, nicht jedoch des Organs. Dies gelte unabhängig davon, ob gegenüber der KG ein Steuerforderungsanspruch (§ 40 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes --EStG--) oder ein Haftungsanspruch (§ 42d EStG) bestanden habe. Die Zinsschuldnerschaft nach § 235 Abs.1 Satz 3 AO 1977 könne stets nur die Gesellschaft, nicht den Geschäftsführer treffen.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung den Bescheid über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und des angefochtenen Zinsbescheides (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der gegen den Kläger gerichtete Zinsbescheid entbehrt der Rechtsgrundlage. Der Kläger schuldet nach § 235 Abs.1 Sätze 2 und 3 AO 1977 keine Hinterziehungszinsen.

1. Die in § 235 Abs.1 Sätze 2 und 3 AO 1977 getroffenen Regelungen, wer Schuldner der Hinterziehungszinsen ist, sind im Zusammenhang und nicht isoliert zu verstehen. Nach Satz 2 ist Zinsschuldner der hinterzogenen Steuern, die zu verzinsen sind, derjenige, zu dessen Vorteil die Steuer hinterzogen worden ist. Es soll mit dieser Vorschrift der steuerliche Vorteil des Nutznießers der Steuerhinterziehung abgeschöpft werden. Der steuerliche Vorteil liegt darin, daß die geschuldete Steuer erst verspätet gezahlt wird (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19.April 1989 X R 3/86, BFHE 156, 383, BStBl II 1989, 596, 597). § 235 Abs.1 Satz 2 AO 1977 meint ausschließlich diesen steuerlichen Vorteil, nicht den wirtschaftlichen Vorteil, der mit der Verzinsung beim Steuerschuldner abgeschöpft werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 27.Juni 1991, V R 9/86, BFHE 165, 10). Allein der Steuerschuldner kann deshalb der Zinsschuldner für hinterzogene Steuern i.S. des § 235 Abs.1 Sätze 1 und 2 AO 1977 sein (BFH-Urteil vom 11.Mai 1982 VII R 97/81, BFHE 136, 182, BStBl II 1982, 689). Der Kläger war als Geschäftsführer der KG nicht der Schuldner der Lohnsteuer. Steuerschuldner waren vielmehr die Arbeitnehmer (§ 38 Abs.2 Satz 1 EStG) und nach der Übernahme der pauschalen Steuer die KG (§ 40 Abs.3 Satz 2 EStG).

2. Der in Satz 2 erfaßte Regelfall, daß Zinsschuldner der Steuerschuldner als der Nutznießer der Hinterziehung ist, liegt nicht vor, wenn die vom Steuerschuldner geschuldeten Steuern von einem Dritten einbehalten und nicht entrichtet (vgl. z.B. § 38 Abs.3 Satz 1, § 41a Abs.1 Nr.2 EStG) oder wenn vom Steuerschuldner an den Dritten bezahlte Steuern nicht entrichtet (vgl. z.B. § 38 Abs.4 EStG, § 7 Abs.1 Sätze 1 und 3 des Versicherungssteuergesetzes --VersStG--) worden sind. In diesen Fällen ist der Steuerschuldner (z.B. Arbeitnehmer, Versicherungsnehmer) deshalb nicht Zinsschuldner nach Satz 2, weil er nicht in den Genuß des steuerlichen Vorteils der Hinterziehung gelangt ist.

Der Gesetzeszweck des § 235 Abs.1 Satz 3 AO 1977 erschöpft sich nach dem Urteil des V.Senats des BFH vom 18.Juli 1991 V R 72/87 (BFHE 164, 506, BStBl II 1991, 781; ebenso FG München vom 27.Mai 1987 III 300/84 AO, EFG 1987, 487) darin, in Ergänzung des § 235 Abs.1 Satz 2 AO 1977 die Fälle zu regeln, in denen der Steuerschuldner nicht Zinsschuldner ist, weil die Steuern nicht zu seinem Vorteil hinterzogen worden sind. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an.

Die Auslegung des § 235 Abs.1 Satz 3 AO 1977 durch den V.Senat dahin, daß ausschließlich eine Zinsschuldnerschaft des Abzugsverpflichteten oder Entrichtungsverpflichteten, nicht aber des gesetzlichen Vertreters (§ 34 AO 1977) begründet werden soll, ist nach dem Wortlaut der Vorschrift näherliegend als die weitgehend in der Literatur (vgl. v. Wallis in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl., § 235 AO 1977 Anm.15; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Nebengesetze, 16.Aufl., § 235 AO 1977 Anm.3; Koch, Abgabenordnung, 3.Aufl. § 235 Anm.8; Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 235 Anm.13; a.A.: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 235 AO 1977, Tz.4, letzter Absatz am Ende) vertretene Ansicht, daß Zinsschuldner auch die in §§ 34, 35 AO 1977 genannten Personen sind. Der in Satz 3 des § 235 Abs.1 AO 1977 zum Zinsschuldner Bestimmte muß "seine Verpflichtung" nicht erfüllt haben. Ob jemand eine eigene Verpflichtung zur Entrichtung der Steuer hat, ergibt sich aus den Steuergesetzen. Denn nach § 43 Satz 2 AO 1977 bestimmen die Steuergesetze, ob ein Dritter die Steuer für Rechnung des Steuerschuldners zu entrichten hat. So legt z.B. das EStG als Einzelsteuergesetz die Verpflichtung zur Entrichtung der Lohnsteuer dem Arbeitgeber (vgl. § 41a Abs.1 Nr.2 EStG) und der Kapitalertragsteuer dem Kreditinstitut (vgl. § 45a EStG) auf. Nach § 7 Abs.1 Satz 3 VersStG ist der Versicherer zur Entrichtung der Steuer verpflichtet. Wer demgegenüber die Pflichten des Steuerschuldners zu erfüllen und insbesondere dafür Sorge zu tragen hat, daß die Steuern aus den Mitteln entrichtet werden, die er verwaltet, regeln nicht die Steuergesetze, sondern bestimmt unmittelbar die AO 1977 selbst in den §§ 34 und 35 (vgl. FG München in EFG 1987, 487 f.). Gegen die Auslegung, daß mit "seine Verpflichtung" in Satz 3 des § 235 Abs.1 AO 1977 nicht nur die in den Steuergesetzen bestimmte Pflicht, z.B. des Arbeitgebers, Kreditinstituts oder Versicherers zur Einbehaltung und Entrichtung von Steuern, sondern auch diejenige der gesetzlichen Vertreter und Geschäftsführer i.S. des § 34 AO 1977 gemeint sei, spricht auch der vom V.Senat (Urteil in BFHE 164, 506, BStBl II 1991, 781) aufgezeigte Gesichtspunkt, daß die Kapitalgesellschaft im Verhältnis zu ihren gesetzlichen Vertretern kein "anderer" i.S. des § 235 Abs.1 Satz 3, 2.Alternative AO 1977 ist. Die Kapitalgesellschaft ist als juristische Person nicht selbst handlungsfähig und handelt durch ihre gesetzlichen Vertreter (§ 79 Abs.1 Nr.3 AO 1977). Entsprechendes gilt für eine KG.

3. Die Entstehungsgeschichte des § 235 AO 1977 (§ 217 des Entwurfs der AO 1974) kann ebenfalls für die Auslegung des Satzes 3 dahin, daß keine Zinsschuldnerschaft der in §§ 34 und 35 AO 1977 genannten Personen begründet werden soll, herangezogen werden. In der Begründung der Bundesregierung zum Entwurf einer AO (AO 1974) wird zu Satz 3 lediglich ausgeführt, daß er eine besondere Regelung für die Fälle des Steuerabzugs und der Verpflichtung zur Entrichtung von Steuern zu Lasten eines Dritten enthalte (BTDrucks VI/1982, 172). Der somit in der amtlichen Begründung, nicht aber in Satz 3 des § 235 Abs.1 AO 1977 verwendete Begriff des "Dritten" bestätigt den angenommenen Zusammenhang dieser Vorschrift mit § 43 Satz 2 AO 1977, in dem ebenfalls der Begriff "Dritter" verwendet wird. Die Begriffe "Dritter" und "anderer" werden demgegenüber in §§ 34 und 35 AO 1977 nicht benutzt. Dies deutet auf die --mit der vorstehenden Interpretation im Einklang stehende-- Absicht des Gesetzgebers hin, ausschließlich eine ergänzende Regelung zu Satz 2 für den Fall zu treffen, daß der Steuerschuldner und der zur Einbehaltung und Entrichtung der Steuer Verpflichtete auseinanderfallen. Hätte darüber hinaus auch die Absicht bestanden, abweichend von der in §§ 69 ff. AO 1977 getroffenen Regelung, wonach die in §§ 34, 35 AO 1977 genannten Personen Haftungsschuldner sind, ausnahmsweise eine Steuerschuldnerschaft dieses Personenkreises zu begründen, so hätte es nahegelegen, dieses in die Begründung des Gesetzesentwurfs aufzunehmen und zu erläutern. Dazu hätte um so größerer Anlaß deshalb bestanden, weil in § 71 AO 1977 die Haftung des Steuerhinterziehers ausdrücklich auf die Zinsen nach § 235 AO 1977 erstreckt wird und diese Regelung dann, wenn die in §§ 34, 35 AO 1977 bezeichneten Personen in ihrer Eigenschaft als Steuerhinterzieher bereits Steuerschuldner aufgrund des § 235 Abs.1 AO 1977 wären, weitgehend obsolet wäre.

4. Der danach ohne Rechtsgrund gegen den Kläger gerichtete Zinsbescheid kann nicht in einen Haftungsbescheid nach §§ 71, 235 AO 1977 umgedeutet werden (§ 128 Abs.3 AO 1977). Der Erlaß eines Haftungsbescheides setzt im Unterschied zum Erlaß eines Bescheides über die Festsetzung von Hinterziehungszinsen eine Ermessensentscheidung voraus. Dies steht einer Umdeutung entgegen (vgl. BFH-Urteile in BFHE 136, 182, BStBl II 1982, 689, 691; vom 6.September 1989 II R 61/86, BFH/NV 1990, 594).

 

Fundstellen

Haufe-Index 63779

BFH/NV 1992, 13

BStBl II 1992, 163

BFHE 166, 4

BFHE 1992, 4

BB 1992, 486

BB 1992, 486-487 (LT)

DB 1992, 511-512 (LT)

DStR 1992, 290 (K)

DStZ 1992, 155 (KT)

HFR 1992, 163 (LT)

StE 1992, 69 (K)

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