Entscheidungsstichwort (Thema)

Glaubhaftmachung von Tatsachen zur Begründung eines Wiedereinsetzungsgesuchs

 

Leitsatz (NV)

Tatsachen zur Begründung eines Wiedereinsetzungsgesuchs sind glaubhaft gemacht, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sie spricht.

 

Normenkette

AO 1977 § 110 Abs. 2 S. 2

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Streitig ist, ob wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 der Abgabenordnung - AO 1977 -) zu gewähren ist.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Immobilienmakler. Seine mit ihm zur Einkommensteuer zusammenveranlagte Ehefrau ist als Angestellte beschäftigt. Da der Kläger für das Streitjahr 1980 wie in den vorausgegangenen Jahren keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatte, setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen die Einkommensteuer mit Bescheid vom 26. November 1982 fest. Gegen den Bescheid legten weder der Kläger noch seine Ehefrau fristgemäß Einspruch ein.

Erst als das FA aufgrund der Steuerfestsetzung Pfändungsmaßnahmen einleitete, teilte der Kläger dem FA durch Schreiben vom 22. Februar 1983 (beim FA eingegangen am 23. Februar 1983) mit, er habe der Steuerfestsetzung nicht widersprochen, weil er bettlägerig, krank und nicht in der Lage gewesen sei, irgendwelche Entscheidungen zu treffen und seine Interessen wahrzunehmen.

Dieses Schreiben behandelte das FA als Einspruch. Im Verlaufe des Einspruchsverfahrens legte der Kläger zum Nachweis seiner Erkrankung zunächst eine ,,ärztliche Bescheinigung" seines Arztes Dr. X vom 4. März 1983 mit folgendem Inhalt vor:

,,Hiermit wird bescheinigt, daß Herr Y in der Zeit vom 10. 12. 1982 bis 18. 1. 1983 arbeitsunfähig war. Es bestanden mehrere Erkrankungen, deretwegen er die meiste Zeit bettlägerig war und intensiver ärztlicher Behandlung bedurfte."

Hierauf teilte das FA dem Kläger mit, daß ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO 1977) wegen Versäumung der Einspruchsfrist rechtswirksam nur innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses gestellt werden könne und innerhalb dieser Zeit auch die versäumte Handlung - hier also die Einlegung des Einspruchs - nachgeholt werden müsse. Diese Voraussetzungen erfülle der Antrag des Klägers nicht; denn nach der ärztlichen Bescheinigung sei er nur bis zum 18. Januar 1983 arbeitsunfähig gewesen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung datiere aber erst vom 22. Februar 1983. Zu dieser Zeit sei die Monatsfrist des § 110 AO 1977 bereits abgelaufen gewesen.

Auf dieses Schreiben reichte der Kläger eine zweite ,,Ärztliche Bescheinigung" des Dr. X ein, die ebenfalls vom 4. März 1983 datierte und in der - bei im übrigen gleichen Inhalt wie das vorausgegangene Attest vom 4. März 1983 - bescheinigt wird, daß der Kläger ,,in der Zeit vom 10. 12. 1982 bis 28. 1. 1983 arbeitsunfähig war". Der Kläger erklärte hierzu, das Attest habe wegen eines Hör- und Tippfehlers neu geschrieben werden müssen.

Auf ein weiteres Schreiben des FA, daß die Erkrankung des Klägers keine ausreichende Entschuldigung für die Versäumung der Einspruchsfrist sei, legte der Kläger eine dritte ärztliche Bescheinigung des Dr. X vom 27. Mai 1983 vor, die inhaltlich dem Attest vom 4. März 1983 glich und außerdem noch den Satz enthielt: ,,Zusätzlich bestand Apathie und Lethargie, wodurch eine Berufsausübung nicht möglich war."

Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, da er verspätet eingelegt worden sei und gegen die Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 nicht habe gewährt werden können. Es sei nicht nachgewiesen worden, daß der Kläger außerstande gewesen sei, rechtzeitig Einspruch einzulegen.Auf die Klage hob das Finanzgericht (FG) die Einspruchsentscheidung auf. Nach Ansicht des FG haben Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgelegen. Die vom Kläger eingereichten ärztlichen Zeugnisse seien zwar in sich widersprüchlich. Hinzu komme, daß der Kläger unstreitig während der Zeit vom 26. Januar bis 6. Februar 1983 an einer Kegeltour nach A teilgenommen habe. Trotz dieser Widersprüche sei jedoch Wiedereinsetzung zu gewähren. Denn das FG könne die Atteste des Dr. X und andere während des Klageverfahrens eingereichte ärztliche Zeugnisse nicht beiseiteschieben, ohne die Ärzte selbst zu hören. Das aber erscheine zur Wahrheitsfindung unangemessen; es lägen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß die Ärzte auf entsprechende Anfragen Anlaß haben könnten, ihre schriftlichen Gutachten zu ändern. Würden aber die Ärzte nicht gehört, dann müsse das FG zugunsten des Klägers die ärztlicherseits bescheinigten Krankheiten als Hinderungsgründe anerkennen. Es müsse allerdings davon ausgegangen werden, daß mit dem Zeitpunkt des Beginns der Kegeltour (26. Januar 1983) die Krankheitssymptome Apathie und Lethargie entfallen seien. Die nach Wegfall des Hindernisses beginnende Monatsfrist des § 110 AO 1977 sei damit am 26. Januar 1983 in Lauf gesetzt worden. Der Einspruch sei noch innerhalb dieser Frist (am 23. Februar 1983) eingelegt worden.

Gegen das Urteil des FG legte das FA Revision ein. Es rügt die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage. Das FG hat die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist (§ 110 AO 1977) zu Unrecht bejaht.

1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Einspruch verspätet war. Nach § 355 Abs. 1 AO 1977 ist der Einspruch innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheids einzulegen. Bei einer Bekanntgabe des Bescheids im Wege der Übermittlung durch die Post gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bewirkt, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 122 Abs. 2 AO 1977). Der im Streitfall am 26. November 1982 zur Post gegebene Einkommensteuerbescheid 1980 gilt hiernach am 29. November 1982 als bekanntgegeben. Die Monatsfrist für die Einlegung des Einspruchs endete gemäß § 108 Abs. 2 AO 1977 i. V. m. den §§ 187 bis 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 29. Dezember 1982 (Mittwoch). Der erst am 23. Februar 1983 erhobene Einspruch ist somit verspätet.

2. Das Begehren des Klägers, ihm wegen der Versäumung der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 zu gewähren, ist nicht begründet.

Wiedereinsetzung wird gewährt, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten (§ 110 Abs. 1 AO 1977). Eine Fristversäumnis ist als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. April 1976 IV R 43-45/75, BFHE 119, 208, BStBl II 1976, 624). Für den Fall einer Erkrankung gilt die Fristversäumnis als entschuldigt, wenn es dem Erkrankten unmöglich oder unzumutbar war, die in einer Fristsache notwendigen Überlegungen anzustellen bzw. eine sachgemäße Beratung durch Dritte in Anspruch zu nehmen und die fristwahrende Handlung selbst oder durch einen Dritten vorzunehmen (BFH-Urteil vom 11. Dezember 1985 I R 380/83, BFH/NV 1986, 742). Dies ist nur der Fall, wenn die Krankheit plötzlich auftritt und (oder) so schwer ist, daß der Erkrankte zur Fristwahrung außerstande ist (Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 10. Februar 1977 III ZR 132/76, Betriebs-Berater - BB - 1977, 365).

Die Tatsachen zur Begründung eines Wiedereinsetzungsgesuchs sind glaubhaft zu machen (§ 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache dann, wenn eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für sie spricht (BFH-Beschluß vom 20. Juli 1983 II R 211/81, BFHE 139, 15, BStBl II 1983, 681).

Im Streitfall hat das FG die Anforderungen an die Glaubhaftmachung verkannt, wenn es trotz erheblicher Zweifel an den vom Kläger vorgebrachten Tatsachenbehauptungen die Wiedereinsetzung gewährte. Das FG hat sich in seiner Entscheidung eingehend mit den Widersprüchen und Ungereimtheiten der eingereichten Atteste und der sonstigen der Wahrheitsfindung zugrunde gelegten Umstände (Kegeltour) befaßt, ohne zu der für die Glaubhaftmachung erforderlichen Annahme zu kommen, es sei überwiegend wahrscheinlich, daß der Kläger infolge einer (plötzlichen und) schweren Erkrankung unfähig war, selbst (oder durch seine Ehefrau oder eine andere Person) Einspruch einzulegen. Es hat vielmehr in den Urteilsgründen ausgeführt, das FA habe den vom Kläger geltend gemachten Hinderungsgründen ,,verständlicherweise mißtraut". Das kann nur bedeuten, daß auch das FG von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs vorgebrachten Tatsachen nicht überzeugt war. Die Atteste hat das FG nach seinen Urteilsausführungen nur deshalb ,,anerkannt", weil es meinte, sie ohne persönliche Anhörung des Arztes ,,nicht beiseite schieben zu können". Das reicht als Grundlage für eine Glaubhaftmachung nicht aus.

Mangels der erforderlichen Glaubhaftmachung hätte das FG vielmehr die Klage gegen die - die Wiedereinsetzung ablehnende - Einspruchsentscheidung abweisen müssen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 415640

BFH/NV 1988, 549

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Gold. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge