Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorsteuerabzug; Bezeichnung des Leistenden; Erlaß bestandskräftig festgesetzter Zinsen

 

Leitsatz (NV)

  1. Rechnet ein Unternehmer über eine an ihn ausgeführte steuerpflichtige Lieferung oder sonstige Leistung mit Gutschrift ab, und bezeichnet er darin den Gutschriftenempfänger als Einzelfirma, während dieser in Wirklichkeit sein Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH betreibt, kann trotz dieser unrichtigen Bezeichnung der Vorsteuerabzug zu gewähren sein.
  2. Dieser Gesichtspunkt kann ausnahmsweise im Billigkeitsverfahren auf Erlaß bestandskräftig festgesetzter Zinsen berücksichtigt werden.
 

Normenkette

UStG 1980 § 14 Abs. 5, § 15 Abs. 1 Nr. 1; AO 1977 §§ 227, 233a

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) stellt … her, die sie über selbständige Handelsvertreter vertreibt. Über die den Handelsvertretern zustehenden Provisionsansprüche rechnet die Klägerin durch Gutschriften ab. Dem Handelsvertreter H. erteilte sie in den Jahren 1990 bis 1993 (Streitjahre) Gutschriften unter der Firma und Adresse H. Industrievertretungen. Tatsächlich firmierte H. aber unter "H. Industrievertretungen GmbH …". Nach den im Rahmen einer Außenprüfung getroffenen Feststellungen, die das Finanzgericht (FG) übernommen hat, widersprach H. deshalb mit Schreiben vom 19. September 1996 gegenüber der Klägerin den Provisionsabrechnungen ab 1990. Im Jahr 1997 berichtigte die Klägerin die Provisionsgutschriften.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) ließ in Umsatzsteuer-Änderungsbescheiden für die Streitjahre die von der Klägerin aus diesen Gutschriften geltend gemachten Vorsteuerbeträge (1990: 12 901,04 DM; 1991: 15 074,24 DM; 1992: 20 171,36 DM und 1993: 17 620,55 DM) nicht mehr zum Abzug zu. Gleichzeitig setzte das FA insoweit Zinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) in Höhe von 3 096 DM zur Umsatzsteuer 1990, von 3 525 DM zur Umsatzsteuer 1991, von 3 517,50 DM zur Umsatzsteuer 1992 und von 2 024 DM zur Umsatzsteuer 1993 fest. Die geänderten Umsatzsteuerbescheide sind bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 4. August 1997 beantragte die Klägerin Erlaß dieser Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit. Sie führte zur Begründung aus, da in den Jahren 1990 bis 1993 zwar auf der einen Seite die Vorsteuer abgezogen worden sei, auf der anderen Seite H. aber die entsprechende Umsatzsteuer an das FA abgeführt habe, sei dem Fiskus kein finanzieller Nachteil entstanden.

Das FA lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 19. September 1997 ab. Den Einspruch wies es durch Einspruchsentscheidung vom 27. Januar 1998 als unbegründet zurück. Es führte zur Begründung u.a. aus, da die Klägerin die bezeichneten Vorsteuerbeträge mehrere Jahre zu früh in Anspruch genommen habe, sei ihr ein Vorteil entstanden, der zur Festsetzung von Zinsen gemäß § 233a AO 1977 führe. Dies entspreche Sinn und Zweck dieser Vorschrift und den Absichten des Gesetzgebers. Die Voraussetzungen für einen Erlaß der Zinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen lägen daher nicht vor.

Das FG wies die Klage durch Gerichtsbescheid ab und ließ die Revision zu.

Mit der Revision trägt die Klägerin vor, ein Widerspruchsschreiben vom 19. September 1996 des H. existiere nicht. Das Datum 19. September 1996 trage vielmehr das Begleitschreiben des Steuerberaters von H., mit dem dieser das Widerspruchsschreiben dem FA X vorgelegt habe. Das Widerspruchsschreiben selbst trage kein Datum. Zudem sei in dem Schreiben ihre Anschrift nicht richtig benannt. Die Hausnummer und vor allem der Ort seien falsch angegeben. Sie habe das erst im Rechtsstreit vor dem FG vorgelegte Widerspruchsschreiben nie erhalten.

Sie sei durch H. zu keinem Zeitpunkt über die Änderung der Rechtsform seines Unternehmens informiert worden. Die geänderte Rechtsform sei für sie auch nicht auf andere Weise erkennbar gewesen.

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die gemäß § 90a Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässige Revision ist begründet.

Im Streitfall läßt sich auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die Ablehnung des von der Klägerin begehrten Erlasses rechtmäßig ist. Dies führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612).

1. Gemäß § 227 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch die Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie die hier streitigen Zinsen (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO 1977).

Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (ständige Rechtsprechung seit dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach § 102 FGO ist die gerichtliche Prüfung des den Erlaß ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.

2. Ob das FG nach diesem Prüfungsmaßstab eine Verletzung des Ermessens fehlerfrei verneint hat, kann der Senat nicht abschließend beurteilen.

a) Unbilligkeit der Einziehung einer Steuer aus sachlichen Gründen kommt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH in Betracht, wenn die Besteuerung ―unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnisses des Steuerpflichtigen― im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist. Das ist der Fall, soweit nach dem erklärten oder mutmaßlichen ―objektivierten― Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, der Gesetzgeber würde die Frage ―hätte er sie geregelt― im Sinn der beantragten Billigkeitsentscheidung beantwortet haben. Erfüllt ein Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand, läuft aber die Besteuerung den Wertungen des Gesetzgebers zuwider, kann ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein. Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewußt in Kauf genommen hat, stehen jedoch dem Erlaß entgegen (vgl. BFH-Urteile vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237, BStBl II 1994, 131, und vom 5. Juni 1996 X R 234/93, BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503). Diese Grundsätze gelten entsprechend, wenn es ―wie im Streitfall― um den Erlaß von nach § 233a AO 1977 festgesetzten Zinsen geht.

b) Führt die Festsetzung von Umsatzsteuer zu einer Steuernachforderung oder Steuererstattung, ist diese nach § 233a Abs. 1 Satz 1 AO 1977 (in der in den Streitjahren geltenden Fassung) zu verzinsen. Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs. 2 Satz 1 AO 1977).

Zweck der Vorschrift des § 233a AO 1977 ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, daß die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (so die Gesetzesbegründung in BTDrucks 11/2157, S. 194; vgl. auch BFH in BFHE 180, 240, BStBl II 1996, 503, unter 3. b). Die Festsetzung von Zinsen nach § 233a AO 1977 ist grundsätzlich rechtmäßig, wenn der Schuldner der Steuernachforderung Liquiditätsvorteile gehabt hat (vgl. BFH-Urteile vom 20. September 1995 X R 86/94, BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53, unter 2. b bb; vom 11. Juli 1996 V R 18/95, BFHE 180, 524, BStBl II 1997, 259).

c) Ob die Klägerin einen solchen ―unberechtigten― Liquiditätsvorteil in Höhe der von ihr in den Streitjahren geltend gemachten und vom FA anerkannten Vorsteuerbeträge aus den gegenüber H. erteilten Gutschriften hatte, ist nicht zweifelsfrei.

Zwar kann im Billigkeitsverfahren die Rechtmäßigkeit bestandskräftig festgesetzter Steuern grundsätzlich nur dann nachgeprüft werden, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig unrichtig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Entscheidungen vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; vom 14. April 1989 III B 5/89, BFHE 156, 376, BStBl II 1990, 351; vom 18. April 1989 VIII R 319/84, BFH/NV 1989, 756; vom 20. Februar 1990 IV B 94/89, BFH/NV 1991, 16).

Im Streitfall besteht jedoch die ―offenkundige― Besonderheit, daß aus in den Streitjahren 1990 bis 1993 erteilten Gutschriften aufgrund eines Widerspruchs des Gutschriftenempfängers H. im Jahre 1996 Vorsteuern (lediglich) deshalb nicht mehr anerkannt wurden, weil der Hinweis auf die namensgleiche und unter derselben Adresse ansässige GmbH fehlt. Angesichts dessen hätte das FG prüfen müssen, ob nach den konkreten Umständen des Streitfalls die ursprünglich erteilten Gutschriften in der Weise auslegbar waren, daß sie ―ohne Berichtigung― die Berechtigung zum Vorsteuerabzug bereits in den Streitjahren eröffneten. Hierzu hatte die Klägerin ―unter Beweisantritt― nähere Einzelheiten der tatsächlichen und rechtlichen Beziehungen zwischen ihr und dem Gutschriftenempfänger H. vorgetragen, denen das FG nicht weiter nachgegangen ist. Klärungsbedarf besteht auch deshalb, weil der Gutschriftenempfänger H. die Gutschriften und die Zahlungen offenbar zivilrechtlich ―und möglicherweise ebenfalls umsatzsteuerrechtlich durch entsprechende Steuererklärungen― in den Streitjahren anerkannt und ihnen erst nach Jahren widersprochen hat.

Das FG wird diesen Fragen im zweiten Rechtsgang nachzugehen und die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 424851

BFH/NV 2000, 610

UR 2000, 73

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