Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Bindung des FA bei Änderung nach § 174 Abs.4 AO an vorhergehende Rechtsauffassung - Beginn und Dauer einer Betriebsaufgabe - Vermächtniserfüllung aus Betriebsvermögen als Entnahme nur des Erben - Anwendung der aufgegebenen Rechtsprechung durch FA als Voraussetzung des § 176 Abs. S.1 Nr.3 AO 1977 - Umfang der Ablaufhemmung nach § 146a Abs.1 AO - Anwendung der Änderungsvorschriften der AO 1977 auf Bescheide für vor 1.1.1977 entstandene Steuern

 

Leitsatz (amtlich)

Bei Erlaß eines Änderungsbescheids nach § 174 Abs.4 AO 1977 ist das FA nicht an die im voraufgehenden Änderungsbescheid vertretene Rechtsauffassung gebunden. Das gilt auch für ein in dieser Sache ergangenes Urteil.

 

Orientierungssatz

1. In der Erklärung eines Steuerpflichtigen, einen landwirtschaftlichen Betrieb nicht mehr selbst zu bewirtschaften, sondern nur noch die Flächen zu verpachten, ist lediglich der Beginn der Betriebsaufgabe zu sehen, wenn nicht gleichzeitig die Überführung sämtlicher Betriebsgrundlagen ins Privatvermögen erklärt wird. Für die bei einer Betriebsaufgabe erforderliche Veräußerung bzw. Überführung der wesentlichen Betriebsgrundlagen ins Privatvermögen kann ein Abwicklungszeitraum von 14 oder auch 18 Monaten hingenommen werden, wenn es sich dabei um erfahrungsgemäß nicht leicht verkäufliche Grundstücke eines landwirtschaftlichen Betriebs handelt.

2. Muß der Alleinerbe eines landwirtschaftlichen Betriebs einzelne Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens aufgrund eines Vermächtnisses des Erblassers herausgeben, stellt die Erfüllung des Vermächtnisses eine Entnahme nur durch den Erben dar (vgl. BFH-Rechtsprechung).

3. Vertrauensschutz nach § 176 Abs.1 Satz 1 Nr. 3 AO 1977 kann nicht geltend gemacht werden, wenn das FA bereits vor der Änderung einer Rechtsprechung des BFH die Anwendung der bisherigen Rechtsprechung abgelehnt hat.

4. Die Ablaufhemmung nach § 146a Abs.1 AO umfaßt nicht nur einen im Rechtsbehelfsverfahren strittigen Anspruch, sondern alle sich aus dem zugrunde liegenden Sachverhalt ergebenden Ansprüche (vgl. BFH-Urteil vom 22.5.1974 I R 259/72).

5. Die ab 1.1.1977 geltenden Änderungsvorschriften nach §§ 172 ff. AO 1977 sind auch dann anzuwenden, wenn ein Steueranspruch bereits vor diesem Zeitpunkt entstanden ist (vgl. BFH-Rechtsprechung). Der X. Senat des BFH, der im Urteil vom 16.5.1990 X R 72/87 diesbezüglich möglicherweise einen anderen Standpunkt vertreten hatte, hat dieser Rechtsauffassung auf Anfrage zugestimmt.

 

Normenkette

AO 1977 § 174 Abs. 4 Sätze 1-2, § 176 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; AO § 107a DV § 2; EGAO 1977 Art. 97 § 10; FGO § 110 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf (Entscheidung vom 04.03.1993; Aktenzeichen 11 K 498/89 E)

 

Tatbestand

Die Klägerinnen und Revisionsklägerinnen (Klägerinnen) sind die Erben ihrer im Februar 1979 verstorbenen Mutter und ihres im September 1983 verstorbenen Vaters.

Die Mutter war testamentarische Alleinerbin ihres am 16.Juli 1972 verstorbenen Vaters. Zu dem Nachlaß gehörte auch eine Land- und Forstwirtschaft, darunter eine 1,7876 ha große Parzelle in O. Die drei übrigen Kinder des Vaters sowie die beiden Kinder eines weiteren, vorverstorbenen Sohnes waren in dem Testament in Form eines Vermächtnisses mit einem 12 500 qm großen Teilstück aus der Parzelle in 0 bedacht worden. Am 12.Juni 1973 "übertrug" die Mutter in einem notariellen Vertrag in Erfüllung des Vermächtnisses das entsprechende Teilstück auf die Vermächtnisnehmer "zu Eigentum". Die Auflassung sollte alsbald nach erfolgter Vermessung erfolgen. Besitz, Nutzungen, Lasten und Gefahr sollten auf die Erwerber mit dem Tag der Umschreibung übergehen. Vermessung und Auflassung unterblieben jedoch wegen bestehender Verkaufsabsichten.

Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 17.Mai 1976 veräußerten die Mutter der Klägerinnen und die Vermächtnisnehmer gemeinsam die Parzelle in 0 zu einem Kaufpreis von ... DM an die Gemeinde G. Es war vorgesehen, daß ein Teilkaufpreis in Höhe von ... DM auf die Vermächtnisnehmer entfiel und der Restkaufpreis an die Mutter zu zahlen war, die bei Veräußerung nach wie vor als alleinige Eigentümerin im Grundbuch eingetragen war. Am 10.Juni 1976 wurde eine Auflassungsvormerkung für die Gemeinde G

eingetragen; Besitz, Nutzungen, Gefahr und Lasten gingen im Jahr 1976 auf die Gemeinde G über.

Die Eltern der Klägerinnen hatten für 1975 keine Einkommensteuererklärung abgegeben. Am 14.August 1979 erklärte der Vater gegenüber dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--), daß der land- und forstwirtschaftliche Betrieb nicht mehr bewirtschaftet werde und die Flächen verpachtet seien. Nach einer Außenprüfung nahm das FA eine Betriebsaufgabe zum 1.November 1975 an und erfaßte den gemeinen Wert des gesamten Grundstücks im Betriebsaufgabegewinn. Diesen rechnete es im Einkommensteuerbescheid 1975 vom 16.September 1982 der verstorbenen Mutter zu und erließ entsprechende Einkommensteuerbescheide gegenüber den Klägerinnen als den Rechtsnachfolgern und dem Vater. Dagegen legten die Klägerinnen und ihr --danach verstorbener und von ihnen allein beerbter-- Vater erfolglos Einspruch ein. Im Klageverfahren gab das Finanzgericht (FG) durch Urteil vom 23.Juni 1988 11 K 3/83 E dem Begehren der Klägerinnen statt und berechnete den Aufgabegewinn unter Außerachtlassung des den Vermächtnisnehmern zu übereignenden Grundstücksteils; insoweit müsse der Verkauf den Vermächtnisnehmern zugerechnet werden.

Am 11.November 1988 erließ das FA gegen die Klägerinnen als Rechtsnachfolger ihrer Eltern einen, den ursprünglichen die Eltern betreffenden Bescheid ändernden, auf § 174 Abs.4 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten Einkommensteuerbescheid 1976, in dem es einen Aufgabegewinn in Höhe von ... DM erfaßte, jetzt aber für das Jahr 1976.

Nach erfolglos gebliebenem Einspruchsverfahren erhoben beide Klägerinnen Klage. Sie machten geltend, die Änderung des Einkommensteuerbescheides 1976 könne nicht auf § 174 Abs.4 AO 1977 gestützt werden. Außerdem sei der Betrieb zum 1.November 1975 aufgegeben worden. Zudem stünde dem Änderungsbescheid das rechtskräftige Urteil des FG Düsseldorf vom 23.Juni 1988 entgegen. Die Anwendung des Senatsurteils vom 17.Oktober 1991 IV R 97/89 (BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392) verstoße im Streitfall gegen das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung.

Das FG wies die verbundenen Klagen mit der Begründung zurück, die Veräußerung der Parzelle in 0 sei ein Teil der Betriebsaufgabe und das FA habe zutreffend den Gewinn als tarifbegünstigten Aufgabegewinn behandelt.

Zu Recht habe das FA den Veräußerungsgewinn für das streitige Grundstück im Jahre 1976 erfaßt; der Betriebsaufgabegewinn könne auch in mehreren Veranlagungszeiträumen entstanden sein. Der Anspruch der Vermächtnisnehmer auf Übereignung des Teilgrundstücks spiele keine Rolle; das Grundstück sei in vollem Umfang Betriebsvermögen geblieben. Belastungen des Erben mit Vermächtnisverbindlichkeiten führten auch nicht zu Anschaffungskosten; die Erfüllung der Erbfallschulden ändere nichts daran, daß der gesamte Nachlaß unentgeltlich auf die Erben übergehe und die Vermächtnisnehmer keinen Entnahmegewinn zu versteuern hätten (vgl. Senatsurteil in BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392).

Die Anwendung des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) in BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392 verstoße nicht gegen § 176 Abs.1 Nr.3 AO 1977, weil das FA es im Streitfall --ausweislich der Stellungnahme des Betriebsprüfers-- von Anfang abgelehnt habe, die abweichende ältere Rechtsprechung (Urteil vom 5.August 1971 IV R 243/85, BFHE 103, 345, BStBl II 1972, 114) anzuwenden. Unerheblich sei, daß für die Errichtung des Testaments möglicherweise die alte Rechtsprechung maßgebend gewesen sei.

Der ursprüngliche Bescheid habe auch gemäß § 174 Abs.4 AO 1977 durch den Bescheid vom 11.November 1988 geändert werden können.

Die Tatbestandsmerkmale des § 174 Abs.4 AO 1977 seien erfüllt. Der Verkauf des Grundstücks in O durch die Mutter der Klägerinnen sei ein bestimmter Sachverhalt i.S. des § 174 Abs.4 Satz 1 AO 1977. Das FA habe diesen Sachverhalt im Steuerbescheid 1975 irrig beurteilt und den Gewinn aus dem Verkauf des Grundstücks fälschlich dem Besteuerungszeitraum 1975 zugeordnet, ein Fall der sog. Periodenkollision. Zwar habe nach Ansicht des früheren FG-Urteils eine sog. Subjektkollision vorgelegen, weil der Verkauf den Vermächtnisnehmern hätte zugeordnet werden müssen. Diese --nach heutiger Rechtsprechung-- falsche Begründung schließe aber die Anwendung des § 174 Abs.4 AO 1977 nicht aus. § 174 Abs.4 AO 1977 wolle verhindern, daß ein bestimmter Sachverhalt in keinem Steuerbescheid geregelt werde. Entscheidend sei, daß ein Steuerbescheid geändert werde und danach der Sachverhalt nicht geregelt sei, nicht dagegen, aus welchem Grunde der Steuerbescheid geändert werde. Diese Auslegung trage auch dem Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen Rechnung. Den Klägerinnen, die auch Vermächtnisnehmer gewesen seien, sei bekannt gewesen, daß das FA an die Veräußerung des Grundstücks habe Steuerrechtsfolgen knüpfen wollen.

Mit der vom FG zugelassenen Revision machen die Klägerinnen die Verletzung von Bundesrecht (§ 174 Abs.4 AO 1977, § 110 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- und Art.20 des Grundgesetzes --GG--) geltend.

Die Klägerinnen beantragen, das angefochtene Urteil und den Einkommensteuerbescheid 1976 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5.Dezember 1989 ersatzlos aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Zu Recht hat das FG entschieden, daß das FA den Gewinn aus dem Verkauf des strittigen Grundstücks im angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1976 erfassen mußte. Auch konnte das FA nachträglich durch Änderung des Einkommensteuerbescheides 1976 die richtigen steuerlichen Folgerungen aus der irrigen Beurteilung dieses Grundstücksverkaufs im Einkommensteuerbescheid 1975 ziehen, soweit der Veräußerungsgewinn nicht schon rechtsbeständig in diesem Bescheid erfaßt war.

1. Der erst im Jahre 1976 realisierte Gewinn aus der Veräußerung der strittigen Grundstücksfläche war Teil des Aufgabegewinns der Mutter der Klägerinnen.

a) Gemäß § 14 i.V.m. § 16 Abs.3 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gilt als Veräußerung auch die Aufgabe eines landwirtschaftlichen Betriebes. Das FG ist dabei zutreffend davon ausgegangen, daß eine Betriebsaufgabe sich über einen gewissen Zeitraum hinweg vollziehen kann. Die Betriebsaufgabe verlangt, daß nach der Betriebseinstellung die wesentlichen Betriebsgrundlagen in einem einheitlichen Vorgang innerhalb kurzer Zeit an einen oder mehrere Abnehmer veräußert oder ganz oder teilweise in das Privatvermögen überführt werden (BFH-Urteile vom 25.Juni 1970 IV 350/64, BFHE 99, 479, BStBl II 1970, 719, und vom 26.Mai 1993 X R 101/90, BFHE 171, 468, BStBl II 1993, 710). Die Betriebsaufgabe beginnt mit der ersten vom Aufgabeentschluß getragenen Handlung, die objektiv auf die Auflösung des Betriebes gerichtet ist, wie z.B. die Einstellung der produktiven Tätigkeit oder die Veräußerung bestimmter für die Fortführung des Betriebes unerläßlicher Wirtschaftsgüter (BFH-Urteil in BFHE 171, 468, BStBl II 1993, 710 m.w.N.). Sie ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Danach ist es nicht zu beanstanden, daß das FG in der Beendigung der Selbstbewirtschaftung im Oktober 1975 nur den Beginn der Betriebsaufgabe gesehen hat, weil eine Überführung sämtlicher Betriebsgrundlagen in das Privatvermögen damals nicht erklärt worden ist. Auch trifft die Annahme zu, daß die Betriebsaufgabe erst mit der Veräußerung der strittigen Ackerfläche im Jahre 1976 endete. Denn es handelte sich dabei dem Wert und der Größe nach um eine wesentliche Betriebsgrundlage des landwirtschaftlichen Betriebes; derartige Flächen sind erfahrungsgemäß nicht leicht verkäuflich, so daß ein Abwicklungszeitraum von 14 oder auch 18 Monaten hingenommen werden kann (vgl. BFH-Urteile vom 16.September 1966 VI 118/65 und VI 119/65, BFHE 87, 134, BStBl III 1967, 70; vom 8.September 1976 I R 99/75, BFHE 120, 187, BStBl II 1977, 66; vom 26.März 1991 VIII R 73/87, BFH/NV 1992, 227, und in BFHE 171, 468, BStBl II 1993, 710).

b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, daß die Mutter der Klägerinnen aufgrund des Testaments ihres Vaters den Vermächtnisnehmern ein 12 500 qm großes Teilstück aus der veräußerten Parzelle des ererbten landwirtschaftlichen Betriebes schuldete. Denn beim Tod eines Unternehmers geht gemäß § 1942 Abs.1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) dessen gesamter Nachlaß auf den berufenen Erben über. Einkommensteuerrechtlich hat das zur Folge, daß die aus dem Unternehmen erzielten Gewinne aus dem ererbten Unternehmen dem Erben unabhängig davon zuzurechnen sind, ob er einzelne Wirtschaftsgüter des Betriebsvermögens einem Vermächtnisnehmer herausgeben muß (BFH-Urteile vom 7.Dezember 1990 X R 72/89, BFHE 163, 137, BStBl II 1991, 350; vom 24.September 1991 VIII R 349/83, BFHE 166, 124, BStBl II 1992, 330, und Senatsurteil vom 17.Oktober 1991 IV R 97/89, BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392). Die frühere Auffassung, der Vermächtnisnehmer erwerbe solche Wirtschaftsgüter, behaftet mit der Eigenschaft als Betriebsvermögen, entgegen der bürgerlich-rechtlichen Lage unmittelbar vom Erblasser und der Entnahmegewinn entstehe daher erst bei ihm (vgl. BFH-Urteil vom 5.August 1971 IV R 243/65, BFHE 103, 345, BStBl II 1972, 114) ist durch den Beschluß des Großen Senats vom 5.Juli 1990 GrS 2/89 (BFHE 161, 332, BStBl II 1990, 837) überholt. Danach stellt die Erfüllung des Vermächtnisses eine Entnahme durch den Erben dar (BFH-Beschluß, a.a.O., S.843); hierzu ist es im Streitfall aber nicht gekommen. Vielmehr hat die Mutter das ungeteilte Grundstück veräußert.

c) Zu Recht sind FA und FG davon ausgegangen, daß die Erklärung des Vaters der Klägerinnen vom 14.August 1979 gegenüber dem FA, der Betrieb werde seit Oktober 1975 nicht mehr bewirtschaftet und die bisher bewirtschafteten Flächen seien verpachtet, keine bereits für das Jahr 1975 zu berücksichtigende Aufgabeerklärung darstellt (vgl. Senatsurteil vom 15.Oktober 1987 IV R 66/86, BFHE 152, 62, BStBl II 1988, 260). Auch ist revisionsrechtlich die Annahme des FG nicht zu beanstanden, die Betriebsaufgabe sei auch nicht konkludent dadurch erklärt worden, daß die bisher bewirtschafteten Flächen parzellenweise verpachtet und das lebende und tote Inventar veräußert wurde (vgl. BFH-Urteile vom 15.Oktober 1987 IV R 91/85, BFHE 151, 392, BStBl II 1988, 257; in BFHE 152, 62, BStBl II 1988, 260; vom 28.November 1991 IV R 58/91, BFHE 167, 19, BStBl II 1992, 521, und vom 18.April 1991 IV R 7/89, BFHE 165, 38, BStBl II 1991, 833).

2. Das FA konnte den Einkommensteuerbescheid 1976 auch ändern, um den Aufgabegewinn des Jahres 1976 wenigstens insoweit zu erfassen, als dem nicht der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 1975 entgegenstand.

a) Nachträglich können nach § 174 Abs.4 Satz 1 und 2 AO 1977 aus einem bestimmten Sachverhalt durch Änderung oder Erlaß eines Steuerbescheides die richtigen Folgerungen gezogen werden, wenn zuvor ein Steuerbescheid aufgrund irriger Beurteilung dieses Sachverhalts ergangen war, der aufgrund eines Antrags oder Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen zu dessen Gunsten aufgehoben oder geändert worden ist.

Zu Recht sind FA und FG von der Anwendbarkeit des § 174 Abs.4 AO 1977 im Streitfall ausgegangen. Nach Art.97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) sind die Vorschriften über die Anwendung und Aufhebung von Verwaltungsakten erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31.Dezember 1976 ein Verwaltungsakt aufgehoben oder geändert wird. Das gilt auch dann, wenn der aufzuhebende oder zu ändernde Verwaltungsakt vor dem 1.Januar 1977 erlassen worden ist. Damit stellt das Gesetz zugleich klar, daß die §§ 172 ff. AO 1977 nach Inkrafttreten der AO 1977 naturgemäß auch dann anzuwenden sind, wenn der Steueranspruch --wie im Streitfall gemäß § 3 Abs.5 Nr.2 c des Steueranpassungsgesetzes (StAnpG)-- vor dem 1.Januar 1977 entstanden ist (Senatsurteil vom 15.Mai 1986 IV R 146/84, BFH/NV 1988, 84 sowie BFH-Urteile vom 18.Mai 1990 VI R 17/88, BFHE 160, 425, BStBl II 1990, 770; vom 22.Februar 1991 III R 35/87, BFHE 164, 198, BStBl II 1991, 717; vom 8.April 1992 X R 164/88, BFH/NV 1992, 717, und vom 5.Mai 1993 X R 111/91, BFHE 171, 400, BStBl II 1993, 817). Etwas anderes ergibt sich möglicherweise aus dem BFH-Urteil vom 16.Mai 1990 X R 72/87 (BFHE 161, 451, BStBl II 1990, 1044). Der X.Senat hat der vorliegenden Entscheidung jedoch auf Anfrage zugestimmt.

b) FA und FG haben im Streitfall beachtet, daß gemäß Art.97 § 10 Abs.1 Satz 2 EGAO 1977 die Vorschriften der Reichsabgabenordnung (AO) über die Verjährung und die Ausschlußfristen weitergelten, soweit sie für Festsetzung der Steuer sowie die Aufhebung oder Änderung einer solchen Festsetzung von Bedeutung sind.

Der Einkommensteueranspruch 1976 war aber noch nicht verjährt, als am 11.November 1988 der Änderungsbescheid erging. Dazu hat das FG festgestellt, daß die fünfjährige Verjährungsfrist (§ 144 AO) wegen der verspäteten Abgabe der Einkommensteuererklärung mit dem Ablauf des 31.Dezember 1979 begonnen habe und mit dem 31.Dezember 1984 abgelaufen wäre. Doch ist durch die rechtzeitige Anfechtung des Einkommensteuerbescheides 1975 der Mutter im Jahr 1982 der Ablauf der Verjährung wegen des zugrunde liegenden Sachverhalts gehemmt gewesen, und zwar unabhängig davon, ob der Steueranspruch dem Jahre 1975 oder 1976 zuzuordnen ist. Nach § 146a Abs.1 AO verjähren Ansprüche aus dem Sachverhalt, der dem Verfahren über den Rechtsbehelf zugrunde liegt, nicht vor Ablauf von 6 Monaten, nachdem der angefochtene Bescheid unanfechtbar geworden ist. Diese Gesetzesformulierung ist gewählt worden, um klarzustellen, daß nicht nur der im Rechtsbehelfsverfahren strittige Anspruch gehemmt ist, sondern daß die Ablaufhemmung für alle Ansprüche gilt, die sich aus dem zugrunde liegenden Sachverhalt ergeben (Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 146a AO Rdnr.2, S.426 f.; vgl. BFH-Urteil vom 22.Mai 1974 I R 259/72, BFHE 113, 145, BStBl II 1974, 722). Da in dem Klageverfahren 11 K 3/83 E darum gestritten worden war, ob das FA im Einkommensteuerbescheid 1975 als Teil des Betriebsaufgabegewinns zu Recht auch den gemeinen Wert des erst im Mai 1976 veräußerten strittigen Grundstücks erfaßt hatte, war auch der Ablauf der Verjährung für den Einkommensteueranspruch 1976 gehemmt. Denn der zugrunde liegende Sachverhalt ist identisch. Unerheblich ist dabei, daß damals sowohl die Klägerinnen als auch das FG davon ausgingen, die Gewinnverwirklichung sei 1975 eingetreten. Wie das FG zu Recht entschieden hat, ist nämlich auf den tatsächlichen Vollzug der Betriebsaufgabe durch Veräußerung der wesentlichen Betriebsgrundlagen abzustellen und damit für die Erfassung des Gewinns aus der Veräußerung des strittigen Grundstücks das Veranlagungsjahr maßgebend, in dem der Gewinn aus der Veräußerung realisiert worden ist (Senatsurteil in BFHE 166, 149, BStBl II 1992, 392).

Die beschriebene Hemmung der Verjährung des Steueranspruchs für 1976 setzt allerdings voraus (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., S.426 h), daß dieser nicht bereits im Zeitpunkt der Anfechtung des Steuerbescheides 1975 verjährt war. Nach den Feststellungen des FG war der Einkommensteueranspruch 1976 jedoch bei der Anfechtung des Einkommensteuerbescheides 1975 im Jahr 1982 noch nicht verjährt.

3. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 174 Abs.4 AO 1977 sind erfüllt. Aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts, der Betriebsaufgabe durch die Mutter, hatte das FA den gesamten Betriebsaufgabegewinn im Jahre 1975 erfaßt und entsprechend einen Steuerbescheid erlassen, der aufgrund der Klage der Klägerinnen teilweise zu deren Gunsten geändert worden war. Irrig war dabei die Beurteilung des FA, der Gewinn aus dem Verkauf der strittigen Grundstücksfläche sei als Teil des Betriebsaufgabegewinns dem Besteuerungszeitraum 1975 zuzuordnen.

Dieser Fehler ist auf den Rechtsbehelf der Klägerinnen durch das FG zumindest teilweise berichtigt worden. Hierbei ist unerheblich, daß das FG sein Urteil nicht nur auf den auch von ihm erkannten Umstand gestützt hat, daß der Verkauf als Aufgabehandlung erst im Jahre 1976 zu berücksichtigen sei, sondern entsprechend früherer Rechtsprechung (z.B. BFH-Urteil vom 5.August 1971 IV 243/65, BFHE 103, 345, BStBl II 1971, 114) teilweise den Vermächtnisnehmern zuzurechnen sei. Diese Entscheidung wirkt Rechtskraft nur für den Einkommensteueranspruch des Jahres 1975 gegen die Mutter, nicht aber darüber hinaus (vgl. BFH-Urteile vom 19.November 1971 III R 115/70, BFHE 104, 411, BStBl II 1972, 382, und vom 10.November 1987 VII R 50/84, BFH/NV 1988, 600). Das FA war deshalb nicht gehalten, nunmehr die Vermächtnisnehmer heranzuziehen und ggf. bereits ergangene Einkommensteuerbescheide entsprechend zu ändern. Es hatte vielmehr, wie § 174 Abs.4 AO 1977 formuliert, die "richtigen", d.h. die zutreffender Gesetzesanwendung entsprechenden steuerlichen Folgerungen zu ziehen. Diese bestanden aber darin, daß der Aufgabegewinn im Jahre 1976 bei der Mutter erfaßt wurde; bei den Vermächtnisnehmern kann er auf der Grundlage des BFH-Beschlusses vom 5.Juli 1990 GrS 2/89 (BFHE 161, 332, BStBl II 1990, 837) nicht berücksichtigt werden. Nur so läßt sich vorliegend das Ziel des § 174 Abs.4 AO 1977 erreichen, daß die Besteuerung eines bestimmten Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid erfolgt, wenn die ursprüngliche falsche Erfassung aufgrund eines Rechtsbehelfs des Steuerpflichtigen berichtigt wird.

Hätte sich das FA dagegen der Auffassung des FG angeschlossen und den Aufgabegewinn den Vermächtnisnehmern zugerechnet, hätte auch dieser Bescheid bei zutreffender Rechtsanwendung aufgehoben werden müssen; anschließend hätte das FA aufgrund von § 174 Abs.4 AO 1977 wiederum die Einkommensteuerveranlagung der Mutter für das Jahr 1976 ändern müssen. Zu diesem Verfahren konnte das FA nicht gezwungen werden. Es kann nicht i.S. des § 174 Abs.4 AO 1977 liegen, nachträglich objektiv falsche Steuerbescheide zu erzwingen. Was i.S. des § 174 Abs.4 AO 1977 "richtig" ist, hängt nicht von der Rechtsauffassung ab, die zur Änderung des Ausgangsbescheids geführt hat.

Es mag zweifelhaft sein, ob dies auch schon vor Inkrafttreten des § 174 Abs.4 AO 1977 galt. Seinerzeit wurde die nach § 94 Abs.1 Nr.2 AO zur Durchbrechung der Bestandskraft erforderliche Zustimmung des Steuerpflichtigen als erteilt angesehen, wenn er die Korrektur der unrichtigen Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts zu seinen Gunsten erkämpft hatte; er konnte sich dann nach Treu und Glauben nicht gegen die folgerichtige steuerliche Erfassung des Sachverhalts in einem anderen Steuerbescheid wehren (vgl. BFH-Urteile vom 7.Dezember 1962 VI 310/60 U, BFHE 76, 446, BStBl III 1963, 162, und vom 7.Juli 1966 V 20/64, BFHE 86, 541, BStBl III 1966, 613). Möglicherweise kam es hierbei auf die vom Steuerpflichtigen durchgesetzte Begründung an. Das gilt aber nicht für § 174 Abs.4 AO 1977, der eine eigenständige Regelung und nicht lediglich eine Kodifikation der bisherigen Rechtsprechung enthält. Danach sind die richtigen Folgerungen unabhängig von einer früheren rechtlichen Beurteilung zu ziehen. Hierfür spricht auch ein praktisches Bedürfnis. Denn oft bleibt ungewiß, aus welchen rechtlichen Gründen der Ausgangsbescheid geändert wurde und welches der vorgetragenen Argumente die Finanzbehörde aufgegriffen hat. Die Frist des § 174 Abs.4 Satz 3 AO 1977 hat das FA bei der Folgeänderung eingehalten.

4. Das FA war auch nicht durch § 176 Abs.1 Satz 1 Nr.3 AO 1977 daran gehindert, den Einkommensteuerbescheid 1976 zu ändern. Nach dieser Vorschrift darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Bescheides nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, daß sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Behörde angewandt worden ist. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Denn das FA hatte bereits zuvor im Verfahren betreffend den zunächst angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1975 die Auffassung vertreten, das BFH-Urteil in BFHE 103, 345, BStBl II 1972, 114 sei im Streitfall nicht anzuwenden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 64790

BFH/NV 1994, 41

BStBl II 1994, 385

BFHE 173, 285

BFHE 1994, 285

BB 1994, 780

BB 1994, 780 (L)

DB 1994, 1019-1020 (LT)

DStR 1994, 1043-1045 (KT)

DStZ 1994, 411-412 (KT)

HFR 1994, 381-382 (LT)

StE 1994, 235 (K)

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