Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Eindeutigkeit prozessualer Erklärungen; Verfahrensmangel durch Nichtvernehmung eines Zeugen

 

Leitsatz (NV)

1. Die Erklärung der Uninteressiertheit einer Klägerin an der Fortführung des Verfahrens stellt keine Revisionsrücknahme dar.

2. Von der Vernehmung einer für ein rechtserhebliches Beweisthema benannten Zeugin darf das Tatsachengericht nur absehen, wenn es die zu beweisende Tatsache als wahr unterstellt.

 

Normenkette

FGO §§ 72, 76, 125

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ gegenüber der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) für die Streitjahre Einkommensteuer-, Gewerbesteuermeß- sowie Umsatzsteuerbescheide. Die Bescheide beruhten auf der Annahme des FA, die Klägerin habe im Rahmen des Betriebs eines Männerwohnheims gewerbliche Einkünfte erzielt sowie Umsätze getätigt, die nicht gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 (Dauervermietung) umsatzsteuerfrei seien. Die Einsprüche, die sich insbesondere gegen die Beurteilung des Männerwohnheims als gewerbliche Betätigung und gegen die Versagung der Umsatzsteuerfreiheit richteten, blieben ohne Erfolg.

In den Klageverfahren wegen Einkommensteuer 1976 und 1977, Gewerbesteuermeßbeträge 1976 und 1977 (Männerwohnheim) sowie Umsatzsteuer 1978 hatte die Klägerin insbesondere vortragen lassen:

Tatsächlich war (und ist beim Rechtsnachfolger noch immer) Zweck dieses Wohnheimes die Vermietung von möblierten Zimmern an Dauermieter. Es wurden nur Mieter aufgenommen, die entsprechende Absichten hier äußerten. Wer den Eindruck machte, hier nur eine kurzfristige Übergangslösung zu suchen, wurde gar nicht erst angenommen.

Beweis: Zeugnis der Frau W (Angabe der Anschrift) ...",,Derartige Mietverhältnisse wurden nicht nur angestrebt; sie lagen auch regelmäßig vor. Ein Großteil der Mieter aus dem Prüfungszeitraum wohnte sogar noch zum Zeitpunkt der Prüfung, also in 1983, in diesem Haus.

Beweis: wie vor."

Sämtliche Klagen blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte zur Begründung seiner Entscheidung in den Einkommensteuersachen folgendes aus:

,,Zwar sind Bewohner des Hauses der Klägerin zum Teil über Jahre hinweg dort beherbergt worden. Die Vermietung der Klägerin war jedoch überwiegend darauf ausgerichtet, Personen nur eine Schlafstelle anzubieten, ohne daß regelmäßig die Dauer der Vermietung als längerfristig absehbar gewesen wäre. Jedenfalls hat die Klägerin keine Mietverträge vorgelegt oder sonstige Beweise angeboten, anhand derer hätte festgestellt werden können, daß sie, die Klägerin, abweichend von der üblicherweise gehandhabten Betreibung eines Männerwohnheims, in dem ein ständiger Wechsel der Bewohner die Regel ist, keinen - wenn auch auf einem niedrigen Niveau - hotelmäßig geführten Betrieb unterhalten hat."

In den Urteilen betreffend die Gewerbesteuermeßbeträge wird auf die Begründung des Urteils betreffend Einkommensteuer Bezug genommen. Im Urteil betreffend Umsatzsteuer 1978 wird zur Begründung insbesondere ausgeführt:

,,Objektiv war der Beherbergungsbetrieb der Klägerin darauf ausgerichtet, an Personen, die zu sozialen Randgruppen gehörten, Schlafstellen zu vermieten. Ein häufiger Wechsel der Mieter mit unterschiedlichen Nutzungszeiten war - ungeachtet der geäußerten Absichten - zu erwarten. Daß ein Teil der Mieter tatsächlich längere Zeit von der Klägerin beherbergt wurde, war zwar nach Aktenlage auch nicht ungewöhnlich, jedoch offenbar nicht in der Weise vorhersehbar, daß sich die Klägerin veranlaßt gesehen hätte, ihren Vermietungsbetrieb in der Weise aufzuteilen und zu organisieren, daß Dauermieter einerseits und vorübergehende Mieter andererseits räumlich getrennt untergebracht wurden. Der Senat konnte daher dahinstehen lassen, ob und wieviele Mieter im Streitjahr länger als 6 Monate von der Klägerin beherbergt wurden."

Mit den vom Senat zugelassenen Revisionen wird Verfahrensmangel in Gestalt unzureichender Sachverhaltsermittlung sowie Divergenz geltend gemacht.

Der Verfahrensmangel liege darin, daß das FG die angebotene Zeugin W nicht einvernommen habe, ,,die ja nun tatsächlich dort war und eingehend beschreiben konnte, wie üblicherweise mit welchem Inhalt und in welcher Form dort Mietverträge geschlossen wurden".

Die Klägerin beantragte in der Revisionsschrift, die Vorentscheidungen aufzuheben und die Veranlagungen nach ihren Anträgen durchzuführen, hilfsweise die Zurückverweisung an das FG.

Nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung teilte die Klägerin mit einem beim Gericht am 11. Januar 1993 eingegangenen Schreiben (ohne Datum) mit, sie sei ,,nicht in der Lage, irgendwelche Prozesse zu führen", und schrieb ergänzend: ,,Falls die Möglichkeit besteht, den Prozeß zu verhindern, wäre dies voll in meinem Sinne". Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, dem der Senat dieses Schreiben zur Stellungnahme und Rückfrage zu einer evtl. Revisionsrücknahme übersandt hatte, antwortete, daß er die Revisionen nicht zurücknehmen würde und dazu auch nicht raten würde. Im folgenden Teil desselben Schreibens teilte er mit, daß er das Mandat niederlege und den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht mehr wahrnehmen werde. Auf die Übersendung einer Abschrift dieses Briefes an die Klägerin teilte diese mit, daß sie ,,nicht in der Lage" sei, ,,den Prozeß weiterzuführen". Ein Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung wurde nicht gestellt.

Das FA ist der Auffassung, die Revisionen seien zurückgenommen. Es beantragt die Einstellung der Revisionsverfahren, hilfsweise die Zurückverweisung an das FG.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen XI R 25/92, XI R 28/92 und XI R 29/92 werden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden (§§ 73 Abs. 1 Satz 1, 121 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die Revisionen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Revisionen wurden nicht zurückgenommen. Denn es fehlt an einer eindeutigen Rücknahmeerklärung. An der gebotenen Eindeutigkeit (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 72 Tz. 8) fehlt es insbesondere deshalb, weil die Klägerin ,,den Prozeß" ,,verhindert" wissen wollte. Diese Erklärung kann eine Revisions- oder eine Klagerücknahme mit unterschiedlichen Rechtswirkungen zum Inhalt haben. Daß die Klägerin das angefochtene Urteil in seinen Wirkungen belassen oder - im Falle einer Klagerücknahme - sogar die Steuerbescheide unanfechtbar werden lassen wollte, vermag der Senat dem unklaren Vorbringen nicht zu entnehmen.

2. Die Vorentscheidungen waren aufzuheben. Denn die Rüge der Nichtvernehmung der Zeugin W greift durch. Die Zeugin war in der ersten Instanz dafür benannt worden, daß der Zweck des Wohnheimes in der ,,Vermietung von möblierten Zimmern an Dauermieter" bestanden habe. Die Zeugin war auch dafür benannt, daß nur Mieter aufgenommen wurden, die entsprechende Absichten geäußert hätten. Diese Behauptungen sind rechtserheblich. Falls ,,nur" Dauermieter angestrebt und aufgenommen wurden, sind gewerbliche Einkünfte nicht erzielt worden und sind die durch die Vermietung getätigten Umsätze gemäß § 4 Nr. 12 Buchst. a UStG steuerfrei gewesen.

Das FG hätte nicht unter stillschweigender Außerachtlassung des Beweisangebots von einem anderen als dem behaupteten Sachverhalt ausgehen dürfen. Die Unterlassung der Beweisaufnahme wäre nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn das FG die in Frage stehende Tatsache als wahr unterstellt hätte (Gräber/von Groll, a. a. O., § 76 Tz. 24 m. w. N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 418972

BFH/NV 1993, 549

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