Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an eine auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Revision; Überraschungsentscheidung

 

Leitsatz (NV)

1. Wird mit der Revision die Verletzung rechtlichen Gehörs (Verfahrensfehler) gerügt, so reicht zur Begründung die Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde aus, wenn der BFH das Vorliegen des Verfahrensmangels in der Entscheidung über die Zulassung bejaht hat.

2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist auch dann verletzt, wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil diese auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens dazu auch kein Anlaß bestand.

 

Normenkette

FGO § 119 Nr. 3, § 120 Abs. 2 S. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) stellte für das Streitjahr (1985) einen Antrag auf Gewährung einer Investitionszulage nach § 19 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG) für Investitionen, die im Zusammenhang mit der Errichtung eines Gewerbebetriebs in gemieteten Räumen entstanden waren. Mit Vertrag vom Juni 1985 verpachtete die Klägerin den Betrieb ab 1. Juli 1985 an die D-GmbH. Nach den Erläuterungen zu den Bilanzen 1985 und 1986 verkaufte die Klägerin den Betrieb mit Vertrag vom Oktober 1985 an die C-GmbH in Luxemburg, die zugleich den Pachtvertrag übernommen haben soll. Da die C-GmbH den vereinbarten Kaufpreis nicht entrichtete, machte die Klägerin nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) in dem angefochtenen Urteil im August 1986 den Vertrag rückgängig.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) lehnte die Gewährung der Investitionszulage mit der Begründung ab, die Tätigkeit der Klägerin -- das Anmieten von Räumlichkeiten, deren Ausbau und Einrichtung sowie die spätere Verpachtung -- stelle keine gewerbliche, sondern eine vermögensverwaltende Tätigkeit dar. Das Einspruchsverfahren, in dem die Klägerin ihren Antrag hinsichtlich einiger Wirtschaftsgüter einschränkte, war erfolglos. Das FA war der Ansicht, die Klägerin habe im Streitjahr lediglich einen zum Betrieb eines Gewerbes geeigneten Sachinbegriff vermietet und daher insoweit nur Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gehabt. Auch die beiden später erworbenen Gewerbebetriebe seien unverändert verpachtet worden.

Das FG wies die Klage ab. Zur Begründung führte es in seinem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1992, 578 veröffentlichen Urteil u. a. aus: Der Klägerin stehe die Investitionszulage nicht zu, da die streitigen Wirtschaftsgüter aufgrund der Veräußerung des Betriebs an die C-GmbH nicht mindestens drei Jahre nach ihrer Anschaffung zum Anlagevermögen eines in Berlin (West) gelegenen Betriebs gehört hätten und nicht in einem in Berlin (West) gelegenen Betrieb verblieben seien (§ 19 Abs. 2, Abs. 8 BerlinFG). Die Weiterveräußerung von Wirtschaftsgütern an eine beschränkt steuerpflichtige ausländische Kapitalgesellschaft sei nach § 19 BerlinFG nur dann nicht schädlich, wenn diese im Inland Einkünfte i. S. des § 49 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erziele, d. h. im Inland einen Gewerbebetrieb unterhalte, in dem die Wirtschaftsgüter genutzt würden. Das sei bei der C-GmbH nicht der Fall, denn sie habe nur Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gehabt. Die C- GmbH sei mit dem Kauf lediglich in ein noch bestehendes Pachtverhältnis mit der Firma D-GmbH eingetreten.

Sie habe sich nach dem vorliegenden Vertrag sogar verpflichtet, keine Änderungen am derzeitigen Personal vorzunehmen. Da die Wirtschaftsgüter innerhalb der Dreijahresfrist durch den Verkauf an die C-GmbH aus dem Anlagevermögen eines Berliner Betriebs ausgeschieden seien und der später erklärte Rücktritt steuerlich unbeachtlich sei, könne es dahinstehen, ob die Klägerin selbst gewerbliche Einkünfte erzielt habe.

Auf die Beschwerde der Klägerin hat der erkennende Senat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung der Amtsermittlungs- und Hinweispflicht (§ 76 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --) durch das erstinstanzliche Gericht. Zur Begründung verweist sie auf die Beschwerdeschrift an das FG und den Zulassungsbeschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 30. Juli 1993 III B 50/92. Sie hat im Beschwerdeverfahren insbesondere vorgetragen: Das FG habe nicht beachtet, daß der Verkauf an die C-GmbH vom FA in dem Betriebsprüfungsbericht vom August 1987 als Scheingeschäft bewertet worden, also nicht zustandegekommen sei. Hierauf sei das FG in ihren, der Klägerin, Schriftsätzen hingewiesen worden. Auch das FA sei in seiner Klageerwiderungsschrift davon ausgegangen, daß ein Verkauf des Betriebs nicht erfolgt sei. Während des gesamten schriftlichen Verfahrens sei es immer nur um ihre eigene gewerbliche Tätigkeit gegangen. Auch die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen hätten nur dieser Tätigkeit gegolten. Ohne daß dies auch nur ansatzweise in der mündlichen Verhandlung oder im sonstigen Verlauf des Verfahrens angesprochen worden wäre, habe das FG die Entscheidung völlig überraschend auf die Verbleibensregelung des § 19 BerlinFG, d. h. den Verkauf an die C-GmbH gestützt. Auf einen Hinweis hin hätte sie, die Klägerin, nochmals auf die Ausführungen in dem Betriebsprüfungsbericht und die dortigen Feststellungen aufmerksam machen können, ebenso wie auf die Anlage zum Umsatzsteuerbescheid 1985, in der der Verkauf gleichfalls in Abrede gestellt worden sei.

Zur weiteren Begründung nimmt die Klägerin Bezug auf den vorliegenden Schriftverkehr in der Klagesache.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Klägerin rügt mit der Revision in einer den Anforderungen des § 120 Abs. 2 Satz 2 FGO genügenden Weise, daß ihr das FG das rechtliche Gehör versagt habe. Sie hat in der Revisionsschrift die Punkte bezeichnet, auf denen nach ihrer Ansicht die Fehlerhaftigkeit des vorinstanzlichen Urteils beruht, und hat zur näheren Konkretisierung dieser Rügen auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision verwiesen. Diese Bezugnahme war zulässig und ausreichend, weil der Senat das Vorliegen des Verfahrensmangels in der Entscheidung über die Zulassung der Revision bejaht hat (vgl. Urteil des BFH vom 18. März 1981 I R 102/77, BFHE 133, 247, BStBl II 1981, 578).

2. Die Revision ist auch begründet.

Die Klägerin rügt zu Recht die Verletzung der Hinweispflicht des FG und damit auch des rechtlichen Gehörs. Die Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren, bedeutet, daß das FG den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zu geben hat, sich zu den Tatsachen und Beweismitteln, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, vorher zu äußern. Das rechtliche Gehör -- insbesondere i. S. von Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) -- ist aber auch dann verletzt, wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gegründet ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten, sich zu äußern (vgl. u. a. Urteil des BFH vom 22. Oktober 1986 I R 107/82, BFHE 148, 507, BStBl II 1987, 293, 294, m. w. N.).

Das Urteil der Vorinstanz ist auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt, der zuvor weder im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch im Klageverfahren angesprochen worden ist. Die Frage nach dem Vorliegen der Verbleibensvoraussetzungen des § 19 Abs. 2 Satz 1 BerlinFG ist nach dem unwidersprochenen, durch die Aktenlage belegten Vorbringen der Klägerin erstmals in der Urteilsbegründung erwähnt und dort zu der tragenden Erwägung gemacht worden. Die Klägerin mußte nach dem Prozeßverlauf den Eindruck gewinnen, daß für den Streitfall die Frage nach ihrer eigenen gewerblichen Tätigkeit entscheidend sein würde, nicht aber die Frage nach dem Verbleiben der Investitionsgüter im Anlagevermögen eines Berliner Betriebs. Nicht nur die Klägerin hat in ihren Schriftsätzen vom ... darauf hingewiesen, daß der Verkauf an die C-GmbH nicht zustandegekommen ist, sondern auch das FA hat in seiner Klageerwiderung mitgeteilt, daß "die Klägerin die von ihr im Streitjahr errichtete Sachgesamtheit bisher nicht veräußert hat". In der für die Beteiligten unvorhersehbaren Urteilsbegründung liegt eine das Recht auf Gehör verletzende Überraschungsentscheidung (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 96 Rdnr. 28 und § 119 Rdnr. 10 a, m. w. N.).

Die Versagung des rechtlichen Gehörs ist ein Revisionsgrund, der regelmäßig zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt, weil nach § 119 Nr. 3 FGO unwiderleglich vermutet wird, daß das Urteil des FG auf dem gerügten Fehler beruht. Dies gilt ausnahmsweise dann nicht, wenn es auf den festgestellten Verfahrensverstoß unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ankommen kann (Urteile des BFH vom 8. November 1989 I R 14/88, BFHE 159, 112, BStBl II 1990, 386, und vom 11. April 1990 I R 80/89, BFH/NV 1991, 440). Ob im Streitfall eine derartige Ausnahme vorliegt, kann der Senat wegen der insoweit fehlenden tatsächlichen Feststellungen des FG nicht mit Sicherheit entscheiden.

3. Danach war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, ohne daß es eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen und auf die materiellen Rechtsfragen bedurfte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420033

BFH/NV 1995, 133

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