Leitsatz (amtlich)

1. Lücken, die bei der Auslegung eines Steuergesetzes hervortreten, haben die Steuergerichte so auszufüllen, wie nach dem Sinnzusammenhang des Gesetzes und nach seinem sonst hervorgetretenen Willen der Gesetzgeber die Frage, wenn sie in seinen Gesichtskreis getreten wäre, wahrscheinlich geregelt hätte.

2. Ehegatten müssen zur Abgabe "Notopfer Berlin" für ein Kalenderjahr in derselben Form veranlagt werden, die sie für die Veranlagung zur Einkommensteuer gewählt haben.

 

Normenkette

GG Art. 20 Abs. 3; EStG 1957 §§ 26 ff.; NOG 1952 § 7 Abs. 1; NOG 1955 § 3; Gesetz zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl 1957 I S. 848, BStBl 1957 I S. 352/360) Art. 5

 

Tatbestand

Die beschwerdeführenden Eheleute wurden für die Jahre 1952 bis 1955 mit ihren Einkünften getrennt zur Einkommensteuer veranlagt. Für die Veranlagung zur Abgabe "Notopfer Berlin" (NOB) 1952 bis 1954 verlangten sie dagegen die Zusammenveranlagung. Das Finanzamt veranlagte sie auch insoweit getrennt.

Das Finanzgericht wies die Berufung als unbegründet zurück und führte im wesentlichen aus: Die NOB sei zwar eine neben der Einkommensteuer selbständig und getrennt erhobene Steuer im Sinne des § 1 AO; sie werde deshalb auch selbständig veranlagt. Der Gesetzgeber habe zunächst der Abgabe einen Sondercharakter gegeben; er habe das aber später aufgegeben und die Abgabe durch Einführung eines Staffeltarifs und durch andere Änderungen seit dem Gesetz zur Erhebung einer Abgabe "Notopfer Berlin" (NOG) in der Fassung vom 10. März 1952 (BStBl 1952 I S. 203) endgültig zu einer Ergänzungssteuer der Einkommensteuer gemacht. Dafür spreche auch, daß die NOB ab 1. Oktober 1956 -- zunächst für natürliche Personen -- durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Erhebung einer Abgabe "Notopier Berlin" vom 5. Oktober 1956 (BStBl 1956 I S. 432) aufgehoben worden sei. Man habe damals zunächst die Einkommensteuer herabsetzen wollen, habe aber dann darauf verzichtet, weil die Aufhebung der NOB gleichzeitig eine Vereinfachung des Steuerrechts und eine Senkung der Einkommensteuer bedeute (Deutsche Steuer-Zeitung Ausgabe A 1956 S. 325). Durch § 7 Abs. 1 NOG 1952 und § 3 NOG vom 16. Dezember 1954 -- NOG 1955 -- (BGBl 1954 I S. 422, BStBl 1954 I S. 560) sei die Erhebung der Abgabe mit der Festsetzung der Einkommensteuer so eng verbunden worden, daß sie ohne Einkommensteuerfestsetzung nicht mehr möglich sei, weil bei der Einkommensteuer für nicht veranlagte Fälle überhaupt keine Einkommensermittlung stattfinde und bei Null-Fällen (z. B. mit der Bezeichnung: Einkommen unter der Freigrenze) oft eine solche unterbleibe. Nachdem seit 1952 die Erhebung der Abgabe bei Veranlagten gemäß § 7 Abs. 1 NOG 1952 und § 3 NOG 1955 von der Festsetzung eines Einkommensteuerbetrages abhängig sei, bestehe zwischen der NOB und der Einkommensteuer ein so enger Zusammenhang, daß eine verschiedene Art der Veranlagung für beide Steuern nicht möglich sei. Es gebe z. B. bei der getrennten Veranlagung von Ehegatten zur Einkommensteuer Fälle, in denen die Einkünfte eines Ehegatten steuerfrei blieben, so daß damit gegen diesen Ehegatten keine Einkommensteuer festgesetzt werde; die Festsetzung von Einkommensteuer sei aber nach § 7 Abs. 1 NOG 1952 und § 3 NOG 1955 Voraussetzung für die Heranziehung dieses Ehegatten zur NOB; demzufolge könne in solchen Fällen nicht etwa abweichend von der Einkommensteuer eine gegen beide Ehegatten gerichtete Zusammenveranlagung für die NOB stattfinden. Zur Vermeidung einer ungleichen Besteuerung müsse die Abgabe nach derselben Art veranlagt werden wie die Einkommensteuer. Aus dem Wort "sinngemäß" in Art. 5 des Gesetzes zur Änderung steuerrechtlicher Vorschriften vom 26. Juli 1957 (BGBl 1957 I S. 848, BStBl 1957 I S. 352/360) müsse man ableiten, daß Ehegatten nicht bei der NOB eine andere Veranlagungsart wählen könnten als bei der Einkommensteuer. Der Gesetzgeber habe in Art. 5 a. a. O. keine Bestimmungen der NOG 1955 oder 1952 aufheben wollen; die Schlüsselvorschriften des § 7 Abs. 1 NOG 1952 und § 3 NOG 1955, welche die Koppelung der NOB mit der Einkommensteuer begründeten, seien bestehengeblieben. Da die Bf. für die Einkommensteuer die getrennte Veranlagung begehrt hätten, müsse diese auch bei der NOB angewandt werden. Dem abweichenden Urteil des Finanzgerichts Münster vom 29. Oktober 1957 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1958 S. 126), auf das sich die Bf. berufen hatten, trat das Finanzgericht nicht bei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Die Grundlage zur Beurteilung der Streitfrage bildet Art. 5 des erwähnten Gesetzes vom 26. Juli 1957 (des sogenannten Übergangsgesetzes), durch das der Gesetzgeber für die Jahre 1949 bis 1957 die Ehegattenbesteuerung anderweit regelte, nachdem durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 1957 die Nichtigkeit des § 26 EStG alter Fassung festgestellt worden war. Art. 5 a. a. O. bestimmt, daß der erste Abschnitt des Gesetzes, der die Einkommensteuer und Körperschaftsteuer betrifft, sinngemäß für die Anwendung des NOG gilt. Aus dem Wortlaut dieser Vorschrift kann unmittelbar nur abgeleitet werden, daß die Veranlagungsformen der §§ 26 bis 26e EStG neuer Fassung (EStG 1957) auch bei der Veranlagung der NOB anzuwenden sind. Die Frage aber, ob für ein Kalenderjahr jeweils dieselbe Veranlagungsform bei der Einkommensteuer und der NOB angewandt werden muß, oder ob nicht auf Antrag der Steuerpflichtigen bei der Einkommensteuer und der NOB verschiedene der vom Gesetz zugelassenen Formen der Veranlagung von Ehegatten nebeneinander zulässig sind, ist aus Art. 5 a. a. O. unmittelbar nicht zu beantworten. Es ist zweifelhaft, ob die Frage der Einheitlichkeit der Veranlagungsform bei der Einkommensteuer und der NOB überhaupt in den Gesichtskreis des Gesetzgebers getreten ist. Es liegt wohl eine Lücke im Gesetz vor, die die Steuergerichte gemäß dem ihnen in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) erteilten verfassungsmäßigen Auftrag so auszufüllen haben, wie nach dem Sinnzusammenhang des Gesetzes und nach seinem sonst erkennbaren Willen der Gesetzgeber wahrscheinlich die Frage geregelt hätte, wenn sie in seinen Gesichtskreis getreten wäre (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 300/53 U vom 13. Mai 1954, BStBl 1954 III S. 199, Slg. Bd. 58 S. 752; Grimm, "Besteuerung und Grundgesetz", 1959 S. 37).

In diesem Zusammenhang kommt den Erwägungen des Finanzgerichts entscheidende Bedeutung zu. Ohne Zweifel sind die Einkommensteuer und die NOB verschiedene Steuern im Sinne des § 1 AO. Sie sind in verschiedenen Gesetzen geregelt. Sie stehen auch verschiedenen Steuergläubigern zu; die Einkommensteuer ist den Ländern und die NOB dem Bund zugewiesen. Die NOB wurde zur Zeit der Blockade Berlins, also einem besonderen Anlaß, in verschiedenen Erhebungsformen (Abgabe der natürlichen Personen, Abgabe der Körperschaften usw. und Abgabe auf Postsendungen) als selbständige Sonderabgabe eingeführt und dem Bund als Steuerquelle zugewiesen. Dem Finanzgericht ist aber zuzustimmen, wenn es trotz dieser wesentlichen Besonderheiten der NOB gegenüber der Einkommensteuer aus der Entwicklung der gesetzlichen Regelung für die NOB folgert, daß die NOB für natürliche Personen für die veranlagten Einkommensteuerpflichtigen und die Lohnsteuerpflichtigen, vor allem aus Gründen der steuertechnischen Vereinfachung und der gleichmäßigen Erhebung, zunehmend stärker als eine Zusatzsteuer zur Einkommensteuer (Lohnsteuer) ausgebaut wurde. Mit Recht hat das Finanzgericht auch darauf hingewiesen, daß, als im Jahre 1956 die Einkommensteuer (Lohnsteuer) gesenkt werden sollte, man die NOB für natürliche Personen aufhob, weil man dadurch zwei Ziele mit einer Maßnahme erreichen konnte, nämlich die Vereinfachung des Steuersystems durch Wegfall einer Steuer und die Minderung der steuerlichen Belastung des Einkommens der natürlichen Personen.

Zieht man diese gesetzliche Entwicklung in Betracht, so ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber, wenn er im Übergangsgesetz vom 26. Juli 1957 die Frage geregelt hätte, folgerichtig die Einheitlichkeit der Veranlagungsform bei der Einkommensteuer und der NOB angeordnet hätte. Der Gedanke der Vereinfachung und der Gleichmäßigkeit, der den Gesetzgeber bei der Entwicklung der NOB seit 1952 bestimmte, würde sich nicht voll auswirken, wenn man der Auffassung der Bf. über verschiedene Veranlagungsmöglichkeiten für Ehegatten bei der Einkommensteuer und der NOB folgen wollte. Die Steuerpflichtigen werden dadurch, daß sie für die Einkommensteuer und die NOB innerhalb eines Kalenderjahres nur dieselbe Veranlagungsform wählen können, nicht benachteiligt. Sie werden von den mehreren Veranlagungsformen, die das Gesetz ihnen zur Verfügung stellt, normalerweise die Form wählen, bei der sich die geringste Steuerbelastung für beide Ehegatten insgesamt ergibt. Es ist ihnen zuzumuten, bei der Wahl der für sie günstigsten Form neben der Einkommensteuer auch die NOB einzubeziehen.

Da die Bf. sich bei der Einkommensteuer für die getrennte Veranlagung entschieden haben und diese Veranlagungsform ihnen steuerlich vorteilhafter ist, haben die Vorinstanzen dieselbe Veranlagungsform zutreffend auch bei der NOB angewandt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410030

BStBl III 1961, 346

BFHE 1962, 213

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