Entscheidungsstichwort (Thema)

Offenbare Unrichtigkeit einer falschen Kennziffer für die Vorsorgepauschale

 

Leitsatz (NV)

Eine ,,ähnliche offenbare Unrichtigkeit" i.S. von § 129 AO 1977 liegt auch dann vor, wenn bei der Veranlagung einer Beamtin durch Eintragung einer ,,Kennziffer 2" statt der (zutreffenden) ,,Kennziffer 1" im Eingabewertbogen die ungekürzte Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 3 Satz 3, Abs. 5 EStG) angesetzt wird, obwohl ihr nur die gekürzte Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 3 Satz 3, Abs. 5 EStG) zusteht.

 

Normenkette

AO 1977 § 129

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist Beamtin. Bei der Veranlagung zur Einkommensteuer für das Streitjahr 1986 setzte der Veranlagungsbeamte des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt - FA -) durch Eintragung der Kennziffer 2 im Eingabewertbogen die ungekürzte Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 3 Sätze 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes - EStG -) an, obwohl der Klägerin als Beamtin nur die gekürzte Vorsorgepauschale (§ 10c Abs. 3 Satz 3, Abs. 5 EStG) zustand. Die gekürzte Pauschale wird angesetzt, wenn im Eingabewertbogen die Kennziffer 1 eingegeben wird.

Unter dem 20. Mai 1987 erließ das FA einen gemäß § 172 Abs. 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheid, in welchem zusätzlich ein Haushaltsfreibetrag gewährt wurde; die ungekürzte Vorsorgepauschale wurde übernommen. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Als die Klägerin sich später erkundigte, weshalb die Steuererstattung für das Jahr 1987 niedriger ausgefallen sei als für das Streitjahr, bemerkte das FA den Fehler der Veranlagung für 1986. Es berichtigte den Bescheid für 1986 nach § 129 AO 1977.

Das Finanzgericht (FG) hat der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage stattgegeben. Es hat ausgeführt: Nach der Entscheidung des FG Hamburg vom 29. Juni 1988 I 268/86 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1989, 209) liege eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 nicht vor, wenn einem Steuerpflichtigen durch die fehlerhafte Eintragung der Kennziffer 2 im Eingabewertbogen die ungekürzte Vorsorgepauschale gewährt werde, obwohl ihm als Beamten nur die gekürzte Vorsorgepauschale zustehe. Dieser Auffassung sei im Ergebnis und in der Begründung zuzustimmen. Der vorliegende Fall weise gegenüber dem vom FG Hamburg entschiedenen keine Besonderheit auf, die zu einer anderen Beurteilung führen könnte. Die Möglichkeit, daß dem Veranlagungsbeamten ein Rechts- oder Tatsachenirrtum unterlaufen sei, liege auch nicht deshalb außerhalb aller Wahrscheinlichkeit, weil der Beamte bei den Veranlagungen der Nachjahre die richtige Kennziffer 1 eingetragen habe.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 129 AO 1977.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage. Das FG hat die nicht nur theoretische Möglichkeit eines Irrtums, der die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit ausschließt, aufgrund rechtsirrtümlicher Überlegungen bejaht.

1. Nach § 129 AO 1977 kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler sowie ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlaß des Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit - zugunsten wie auch zuungunsten des Steuerpflichtigen - berichtigen. Dies gilt auch dann, wenn ein Steuerbescheid bestandskräftig geworden, die Steuerfestsetzungsfrist, wie im Streitfall, jedoch noch nicht abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 AO 1977). Die Rechtsprechung hat zu § 129 AO 1977 u.a. die folgenden Grundsätze entwickelt.

a) ,,Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten" müssen einem Schreib- oder Rechenfehler ähnlich sein, d.h. es muß sich um mechanische Versehen handeln. Sie müssen ebenso mechanisch wie Schreib- und Rechenfehler, also ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden können (vgl. u.a. Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785; vom 19. März 1985 VIII R 156/80, BFH/NV 1986, 2). Ist die mehr als nur theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums gegeben, liegt kein mechanisches Versehen und damit keine offenbare Unrichtigkeit vor; ebenso nicht bei einer unrichtigen Tatsachenwürdigung, bei der unzutreffenden Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder bei Fehlern, die auf mangelnder Sachaufklärung beruhen (Senatsurteil vom 8. März 1989 X R 116/87, BFHE 156, 59, BStBl II 1989, 531; zur mangelnden Sachaufklärung BFH-Urteil vom 31. Juli 1990 I R 116/88, BFHE 162, 115, BStBl II 1991, 22, m.w.N.). Es ist nicht erforderlich, daß die offenbare Unrichtigkeit aus dem Bescheid erkennbar ist (BFH-Urteile vom 31. März 1987 VIII R 46/83, BFHE 149, 478, BStBl II 1987, 588, m.w.N. der Rechtsprechung; vom 25. Februar 1992 VII R 8/91, BFHE 168, 6, 9f., BStBl II 1992, 713; Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8. Aufl. 1988, S. 19).

Die Annahme einer solchen Unrichtigkeit kann zwar ausgeschlossen werden, wenn der Veranlagungsbeamte feststehende Tatsachen nicht berücksichtigt. Dabei muß es sich dann um Unrichtigkeiten handeln, die über mechanische Versehen deshalb hinausgehen, weil sie nicht ohne weitere Prüfung erkannt und berichtigt werden können (BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785) und die deshalb letztlich auf unzureichender Sachaufklärung beruhen (vom 29. März 1985 VI R 140/81, BFHE 144, 118, 120, BStBl II 1985, 569). Hat die Nichtberücksichtigung einer Tatsache dagegen ihren Grund in einer bloßen Unachtsamkeit und liegt sie offen zutage, so kann von einem auf mangelnder Sachaufklärung beruhenden Nichterkennen der Tatsache nicht gesprochen werden (BFHE 144, 118, 120, BStBl II 1985, 569, m.w.N. der Rechtsprechung des BFH).

b) Die einem Schreib- oder Rechenfehler ähnliche Unrichtigkeit kann in einem irrtümlichen Ausfüllen des Eingabewertbogens oder in einem Irrtum über den Programmablauf bzw. der Nichtbeachtung der für das maschinelle Veranlagungsverfahren geltenden Dienstanweisungen bestehen (BFH-Urteile vom 31. Juli 1975 V R 121/73, BFHE 116, 462, BStBl II 1975, 868; vom 9. Oktober 1979 VIII R 226/77, BFHE 129, 5, BStBl II 1980, 62). Die Eintragung einer falschen Kennziffer im Eingabewertbogen kann eine derartige Unrichtigkeit sein; eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 ist jedenfalls dann zulässig, wenn es sich bei der falschen Eintragung aufgrund der besonderen Umstände um ein rein mechanisches Versehen handelt (BFH-Urteil vom 14. Juni 1991 III R 64/89, BFHE 165, 438, BStBl II 1992, 52). § 129 AO 1977 ist beispielsweise dann angewendet worden, wenn im Eingabewertbogen eine Zahl eingetragen wird, die das fehlerhafte Ergebnis einer vorangegangenen aktenkundigen Berechnung ist (BFH-Urteil vom 8. April 1987 II R 236/84, BFHE 149, 413, BStBl II 1988, 164).

c) Ein Fehler ist ,,offenbar", wenn er ,,auf der Hand liegt, wenn er durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist" (BFH-Beschluß vom 4. September 1984 VIII B 157/83, BFHE 142, 13, BStBl II 1984, 834, m.w.N.; BFH-Urteil vom 2. April 1987 IV R 255/84, BFHE 149, 490, 492, BStBl II 1987, 762).

d) Eine ,,offenbare" Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 kommt namentlich dann in Betracht, wenn sich der Fehler aus der Steuererklärung und/oder aus den dieser beigefügten Unterlagen ergibt (BFHE 162, 115, 117, BStBl II 1991, 22; BFHE 149, 490, BStBl II 1987, 762). Die Fälle, in denen die Rechtsprechung des BFH § 129 AO 1977 angewandt hat, sind dadurch gekennzeichnet, daß der steuerlich bedeutsame Sachverhalt festgestellt war und keine Zweifel daran bestanden, welche steuerlichen Folgen die Finanzbehörde hieraus ziehen wollte.

e) Hiernach ist eine Berichtigung nach § 129 AO 1977 möglich, wenn auszuschließen ist, daß der Fehler auf unzutreffenden rechtlichen Überlegungen oder darauf beruht, daß die Finanzbehörde infolge mangelhafter Überprüfung der vom Kläger eingereichten Unterlagen einen in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalt angenommen hat (vgl. BFH-Urteil vom 27. März 1987 VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480). § 129 AO 1977 ist angewandt worden- bei einem Übertragungsfehler innerhalb eines vom Sachbearbeiter in einem Aktenvermerk dokumentierten Rechengangs (vgl. BFHE 149, 478, 480, BStBl II 1987, 588) oder bei einer Nebenbestimmung zum Steuerbescheid (BFH-Urteil vom 22.August 1989 VIII R 110/86, BFH/NV 1990, 205),

- beim Übersehen einer zu den Steuerakten gelangten, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht eindeutigen (Kontroll-)Mitteilung (BFH-Urteil vom 18. April 1986 VI R 4/83, BFHE 146, 350, 354, BStBl II 1986, 541, m.w.N.),

- beim ,,schlichten Übersehen" aufgrund der Steuererklärung feststehender Tatsachen (BFH-Urteil vom 26. April 1989 VI R 39/85, BFH/NV 1989, 619 - betr. Übersehen von erklärtem steuerpflichtigem Arbeitslohn; BFH-Beschluß vom 9. Juni 1988 VI B 170/87, BFH/NV 1989, 6, bei fälschlicher Anwendung der Splittingtabelle),

- bei der Auswertung eines Betriebsprüfungsberichts, wenn dort die Sach- und Rechtslage klar dargestellt ist und klar erkennbar ist, daß sich das FA den Vorschlag des Prüfers zu eigen machen will (BFH-Urteil vom 4. August 1988 IV R 78/86, BFH/NV 1989, 281, m.w.N.), mithin keine Zweifel drüber bestanden, welche Folgerungen das FA aus den Prüfungsfeststellungen ziehen wollte.

Die - auf Flüchtigkeit zurückzuführende - Nichtbeachtung feststehender Tatsachen ist der Regelfall der offenbaren Unrichtigkeit (BFHE 146, 350, 355, BStBl II 1986, 541). Anders liegt es, wenn die Behörde aufgrund mangelnder Überprüfung der eingereichten Unterlagen verkennt, daß ein Besteuerungsmerkmal anzusetzen ist. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, ob das betreffende Besteuerungsmerkmal offen zutage liegt und der Steuererklärung ohne weitere Überlegungen und Schlußfolgerungen entnommen werden kann (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1987, 480).

f) Ob jede Möglichkeit eines Rechtsirrtums, eines Denkfehlers oder unvollständiger Sachaufklärung bzw. fehlerhafter Tatsachenwürdigung ausgeschlossen ist, beurteilt sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles, vor allem nach der Aktenlage (vgl. BFHE 156, 59, BStBl II 1989, 5341, unter I. 1. a).

g) Die Entscheidung hierüber im Einzelfall ist weithin eine Tatfrage, die der revisionsgerichtlichen Prüfung nur in eingeschränktem Umfang unterliegt. Die tatsächlichen Voraussetzungen für den Erlaß eines Berichtigungsbescheides nach § 129 AO 1977 können im Revisionsverfahren nicht festgestellt werden (BFH-Urteil vom 27. Juli 1988 I R 130/84, BFHE 154, 227, 229, BStBl II 1989, 101).

2. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Es hat - unter Bezugnahme auf die Urteilsbegründung des FG Hamburg in EFG 1989, 209 - lediglich abstrakt ausgeführt, eine offenbare Unrichtigkeit liege nicht vor, wenn einem Steuerpflichtigen, der Beamter ist, durch die fehlerhafte Eintragung der Kennziffer 2 im Eingabewertbogen die ungekürzte Vorsorgepauschale gewährt werde. Der Senat kann sich dieser rechtlichen Bewertung nicht anschließen.

a) Das FA rügt, aus verschiedenen Bearbeitungsvermerken sei eindeutig ersichtlich, daß die konkrete Möglichkeit eines Rechts- oder Tatsachenirrtums auszuschließen sei. Diese Rüge ist grundsätzlich rechtserheblich: Das FG darf die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht aufgrund von abstrakter Erwägungen beantworten, sondern muß zunächst die tatsächlichen Vorgänge ermitteln, die zu der Unrichtigkeit geführt haben (vgl. BFH-Urteil vom 30. November 1989 IV R 76/88, BFH/NV 1991, 457). Auch das FG Hamburg (a.a.O.) hat ausdrücklich bemerkt, den steuerlichen Vorgängen seien keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß der Veranlagungsbeamte sich infolge Flüchtigkeit versehen oder daß er die rechtliche Bedeutung der die Vorsorgepauschale betreffenden Kennziffern verkannt hätte.

b) Im Streitfall ist nach der Sachlage, wie sie sich aus der eingereichten Steuererklärung ergibt, die praktische Möglichkeit eines Rechtsirrtums auszuschließen. Die Beamteneigenschaft der Klägerin stand aufgrund ihrer Angabe zu ihrem Beruf fest; insoweit bedurfte es bei der Veranlagung keiner weiterern Ermittlungen. Dieses ,,Stammdatum" war für die Höhe der Vorsorgepauschale rechtserheblich. Der Senat hält es für ausgeschlossen, daß ein Veranlagungsbeamter im Einzelfall rechtliche Erwägungen über den Beamten zustehenden Sonderausgaben-Höchstbetrag anstellt. Die gedankliche Querverbindung zwischen der beruflichen Stellung und der zutreffenden Kennziffer wird gleichsam ,,mechanisch" gezogen. Ein Versehen hierbei ist ebenfalls ,,mechanischer" Art.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419038

BFH/NV 1993, 638

BFH/NV 1993, 639

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