Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 74 FGO

 

Leitsatz (NV)

1. Wird ein angefochtener Steuerbescheid während des Verfahrens geändert, ist damit der Anfechtungsklage die Grundlage entzogen. Stellt der Kläger keinen Antrag gemäß § 68 FGO, sondern greift er den Änderungsbescheid mit dem Einspruch an, muß das Klageverfahren in entsprechender Anwendung des § 74 FGO ausgesetzt werden.

2. Für die Aussetzung ist unmaßgeblich, ob der Änderungsbescheid den ursprünglichen Bescheid materiell ändert. Auch wenn der neue Bescheid die Steuer in gleicher Höhe festsetzt, wird damit der ursprüngliche Bescheid formell geändert und ersetzt, so daß das Verfahren auszusetzen ist.

 

Normenkette

FGO § 74

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg

 

Tatbestand

An der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) - einer KG - waren in den Streitjahren 1974 und 1975 S als persönlich haftender Gesellschafter und seine beiden minderjährigen Kinder als Kommanditisten beteiligt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) vertrat nach einer Betriebsprüfung die Auffassung, in den Streitjahren habe keine Mitunternehmerschaft zwischen S und seinen Kindern bestanden, sondern S habe das Unternehmen als Einzelunternehmer betrieben. Das FA hob mit Schreiben vom 29. Juli 1980 (bekanntgegeben an S) die gegen die Klägerin gerichteten, bestandskräftigen (geänderten) Umsatzsteuerbescheide 1974 und 1975 vom 3. März 1980 auf. Mit Steuerbescheiden vom gleichen Tage setzte das FA die bisher von der Klägerin geschuldete Umsatzsteuer für 1974 und 1975 gegenüber S fest. Gegen die Aufhebung und gegen die Steuerbescheide legten S und die Klägerin in gemeinsamen Schreiben vom 31. Juli und 7. August 1980 Einspruch ein, ohne diesen zu begründen. Das FA setzte durch Aktenvermerk vom 3. April 1981 gemäß § 363 der Abgabenordnung (AO 1977) die Entscheidung über die Rechtsbehelfe bis zur Erledigung des Rechtsstreits betreffend die (negativen) Gewinnfeststellungsbescheide für die Jahre 1974 und 1975 aus.

Nach Kenntnisnahme vom Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. Dezember 1980 V R 142/73 (BFHE 132, 497, BStBl II 1981, 408) teilte das FA mit Schreiben vom 24. Juli 1981 den Bevollmächtigten der Klägerin mit, die Aufhebung (vom 29. Juli 1980) der (gegen die Klägerin gerichteten) Umsatzsteuerbescheide 1974 und 1975 werde gemäß § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 aufgehoben; an die Stelle des Aufhebungsbescheids träten somit wieder die Umsatzsteuerbescheide 1974 und 1975 vom 3. März 1980. Dadurch erledigten sich die Rechtsbehelfe der Klägerin vom 7. August 1980. Mit Schreiben vom gleichen Tag hob das FA die gegen S (als Einzelunternehmer) gerichteten Umsatzsteuerbescheide 1974 und 1975 wieder auf.

Die Klägerin legte gegen den Verwaltungsakt vom 24. Juli 1981 über die Aufhebung des Verwaltungsakts vom 29. Juli 1980 Einspruch ein (Schreiben vom 21. August 1981). Zur Begründung führte sie aus: Der Verwaltungsakt vom 24. Juli 1981 könne nicht auf § 172 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 gestützt werden, da sie - die Klägerin - mit dem Einspruch vom 7. August/31. Juli 1980 nicht die ersatzlose Aufhebung des Verwaltungsakts vom 29. Juli 1980 begehrt habe, sondern eine (gegenüber den Festsetzungen in den Umsatzsteuerbescheiden 1974 und 1975) niedrigere Umsatzsteuerfestsetzung. Hierzu bezog sie sich auf ihr Schreiben vom 6. April 1981, welches das FA nach seinen eigenen Angaben nicht erhalten hat. Die Klägerin ging davon aus, daß der Verwaltungsakt vom 24. Juli 1981 wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden müsse. Zugleich nahm sie im Einspruchsschreiben vom 21. August 1981 den Einspruch vom 7. August/31. Juli 1980 gegen die Aufhebung der Umsatzsteuerbescheide zurück, so daß nach ihrer Auffassung die ersatzlose Aufhebung der gegen sie gerichteten Umsatzsteuerfestsetzungen nunmehr bestandskräftig angeordnet war.

Das FA wies den Einspruch der Klägerin vom 21. August 1981 als unbegründet zurück. Hiergegen erhob die Klägerin am 8. Dezember 1981 Klage.

Während des Klageverfahrens setzte das FA mit Bescheid vom 18. Dezember 1981 die Umsatzsteuer für 1974 und mit Bescheid vom 8. Dezember 1982 die Umsatzsteuer für 1975 erneut und ohne Änderung fest. Gegen beide Bescheide legte die Klägerin Einspruch ein, über den das FA noch nicht entschieden hat. Einen Antrag gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stellte die Klägerin nicht.

Die Klage gegen den Verwaltungsakt vom 24. Juli 1981 blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) lehnte eine Aussetzung des Klageverfahrens in analoger Anwendung des § 74 FGO ab. Es führte aus, daß es dahinstehen könne, ob die Steuerbescheide vom 18. Dezember 1981 bzw. 8. Dezember 1982 lediglich die unanfechtbaren Bescheide vom 3. März 1980 wiederholten oder selbständig anfechtbare neue Verwaltungsakte seien. Da sie jedenfalls keine Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzung enthielten, sei keine Aussetzung des Klageverfahrens geboten gewesen.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts. In formeller Hinsicht beanstandet sie u. a., das FG habe es unterlassen, das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 74 FGO auszusetzen. Sie beantragt, die Vorentscheidung und den Verwaltungsakt vom 24. Juli 1981 aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Eine Sachentscheidung hätte nicht ergehen dürfen.

a) Wird ein angefochtener Steuerbescheid während des Klageverfahrens geändert, ist damit der Anfechtungsklage die Grundlage entzogen (§ 40 Abs. 2, § 65 Abs. 1 Satz 1 und § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Denn der ursprüngliche Bescheid wird in den Regelungsgehalt des Änderungsbescheids aufgenommen und entfaltet keine Wirkung mehr. Stellt der Kläger keinen Antrag nach § 68 FGO, sondern greift er den Änderungsbescheid mit dem Einspruch an, muß das Klageverfahren in entsprechender Anwendung des § 74 FGO ausgesetzt werden bis feststeht, welche von beiden Regelungen für den Besteuerungszeitraum Geltung hat (BFH-Beschluß vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231).

b) Nach Aufhebung des Bescheids vom 29. Juli 1980 durch den den Verfahrensgegenstand bildenden Bescheid vom 24. Juli 1981 bestanden wieder Steuerfestsetzungen für die Streitjahre 1974 und 1975. Dabei kann es offenbleiben, ob die Steuerfestsetzungen nunmehr auf dem Bescheid vom 24. Juli 1981 als Steuerbescheid beruhten oder auf den ursprünglichen Steuerbescheiden vom 3. März 1980.

Die Steuerbescheide vom 18. Dezember 1981 (für 1974) und vom 8. Dezember 1982 (für 1975) enthalten ebenfalls Steuerfestsetzungen für die Streitjahre. Über ihr Verhältnis zu den früheren Steuerfestsetzungen ist in ihnen nichts ausgesagt. Das Vorbringen des FA im Revisionsverfahren, die Bescheide seien erlassen worden, um für den Fall der Aufhebung der ursprünglichen Steuerfestsetzungen einer drohenden Verjährung zu begegnen, ist neu und kann bereits aus revisionsrechtlichen Gründen nicht berücksichtigt werden (§ 118 Abs. 2 FGO). Die Bescheide sind nach ihrem Inhalt unbedingt und unbefristet. Der Bescheid vom 8. Dezember 1982 ist überdies mit einer Abrechnung und Zahlungsaufforderung verbunden. Die Bescheide treten daher als spätere Steuerfestsetzungen an die Stelle der früheren Steuerfestsetzungen. Damit nehmen sie die früheren Steuerbescheide in ihren Regelungsgehalt mit auf; diese können keine Wirkungen mehr entfalten.

Entgegen der Ansicht des FG ist hierfür unmaßgeblich, daß die Bescheide vom 18. Dezember 1981 und 8. Dezember 1982 keine materielle Änderung der ursprünglichen Steuerfestsetzungen enthalten. Für die Frage der Aussetzung ist allein von Bedeutung, ob ein Bescheid den ursprünglichen Bescheid formell geändert und ersetzt hat (vgl. hierzu die zu § 68 FGO ergangenen Urteile vom 20. November 1973 VII R 33/71, BFHE 111, 13, BStBl II 1974, 113; vom 29. Mai 1974 II R 53/64, BFHE 113, 69, BStBl II 1974, 697; vom 20. Juli 1988 II R 164/85, BFHE 154, 13, BStBl II 1988, 955; ferner Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz. 7451) mit der Folge, daß verfahrensrechtlich nur der Änderungsbescheid zur Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis wird.

c) Die Klägerin hat den Verfahrensfehler ausdrücklich gerügt. Im übrigen hätte der Senat den Mangel, der als Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens zu beurteilen ist, auch ohne Revisionsrüge aufzugreifen (BFH-Urteil vom 7. Mai 1987 V R 56/79, BFHE 150, 85, BStBl II 1987, 582).

Die Vorentscheidung war daher aufzuheben, um dem FG Gelegenheit zu geben, das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 74 FGO auszusetzen. Sofern das FA die ursprüngliche Steuerfestsetzungen nicht aufhebt und es damit zu einer Fortsetzung des Klageverfahrens kommen sollte, wird das FG bei seiner Entscheidung auch die Regelung des § 174 Abs. 3 AO 1977 (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 1984 V R 67/82, BFHE 141, 490, BStBl II 1984, 788) zu berücksichtigen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 416957

BFH/NV 1990, 722

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