Leitsatz (amtlich)

Die Rechtskraft eines Urteils, das im Verfahren über einen in vollem Umfange nach § 100 AO für vorläufig erklärten Steuerbescheid ergangen ist, hindert nicht die Anfechtung des endgültigen Bescheides, auch wenn dieser mit dem vorläufigen inhaltsgleich ist und der Streit sich auf dieselben Fragen bezieht, über die im Urteil über den vorläufigen Bescheid entschieden wurde.

 

Normenkette

AO §§ 100, 225; FGO § 110 Abs. 1

 

Tatbestand

In seiner Einkommensteuererklärung für 1964 erklärte der Kläger neben anderen Einkünften in bezug auf den Kaufpreis von 1 Mio. DM einen Veräußerungsgewinn von 950 209 DM, wobei er die Besteuerung nach § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG mit dem Mindestsatz von 10 % nach § 34 Abs. 1 EStG 1963 beantragte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) entsprach diesem Antrag nicht, sondern besteuerte bei der nach § 100 Abs. 2 AO in vollem Umfange vorläufig durchgeführten Veranlagung 1964 den erklärten Veräußerungsgewinn mit dem halben durchschnittlichen Steuersatz (25,4 %). Einspruch und Klage, mit der der Kläger den Ansatz eines Veräußerungserlöses von nur 500 000 DM und die Anwendung eines Steuersatzes von 10 % beantragte, blieben ohne Erfolg. Die hiergegen erhobene Revision wurde durch Beschluß des BFH vom 3. August 1972 VIII R 4/70 wegen Versäumung der Revisionsfrist als unzulässig verworfen.

Inzwischen hatte das FA durch Bescheid vom 20. Oktober 1970 den vorläufigen Einkommensteuerbescheid 1964 für endgültig erklärt. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies das FA, nachdem das klageabweisende Urteil des FG betreffend den vorläufigen Einkommensteuerbescheid 1964 rechtskräftig geworden war, mit der Begründung zurück, das FG habe in seinem Urteil betreffend die vorläufige Veranlagung bereits über den Streitgegenstand entschieden. Diese Entscheidung sei, da keine neuen Tatsachen vorgebracht oder ersichtlich seien, nach § 110 Abs. 1 FGO für die Beteiligten bindend.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG widersprach allerdings zunächst der Auffassung des FA, daß die Klage, weil bereits im Verfahren über den vorläufigen Bescheid ein rechtskräftiges Urteil ergangen sei, als unzulässig beurteilt werden müsse. Rechtsbehelfe gegen einen für endgültig erklärten Steuerbescheid seien, auch wenn der vorläufige Bescheid bestandskräftig geworden sei, grundsätzlich ohne Einschränkung zulässig, und zwar selbst dann, wenn über den vorläufigen Bescheid durch Urteil entschieden worden sei. Die Bindungswirkung des § 110 Abs. 1 FGO greife hier nicht ein, weil die verschiedenen Bescheide, selbst wenn sie inhaltlich gleich seien, sich auf verschiedene Streitgegenstände bezögen. - Die somit zulässige Klage sei aber unbegründet ...

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Revision ergibt folgendes:

I. Der Einwand des FA, die Vorinstanz hätte die Klage schon wegen entgegenstehender Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung als unzulässig abweisen müssen, ist nicht gerechtfertigt. Es entspricht ständiger Rechtsprechung und allgemeiner Auffassung, daß dann, wenn ein nach § 100 AO in vollem Umfange für vorläufig erklärter Bescheid nach § 225 AO durch einen endgültigen Bescheid ersetzt oder - falls eine inhaltliche Änderung nicht in Betracht kommt - für endgültig erklärt wird, der neue Bescheid in vollem Umfang angefochten werden kann, auch wenn der vorläufige Bescheid bereits formell bestandskräftig war. Eine Ausnahme gilt nur insofern, als im Rechtsbehelfsverfahren gegen den endgültigen Bescheid nicht mehr eingewandt werden kann, die Voraussetzungen der Vorläufigkeit hätten nicht vorgelegen (vgl. BFH-Urteile vom 1. April 1966 VI 122/64, BFHE 85, 437, BStBl III 1966, 519; vom 25. Oktober 1973 IV R 80/72, BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142, und vom 12. Dezember 1957 IV 10/57 U, BFHE 66, 401, BStBl III 1958, 154). Im übrigen aber ist der Steuerpflichtige nicht gehalten, seine Einwendungen in materieller Hinsicht bereits gegenüber dem vorläufigen Bescheid geltend zu machen. Er kann den vorläufigen Bescheid unanfechtbar werden lassen und hat gleichwohl gegenüber dem endgültigen Bescheid, auch wenn dieser den vorläufigen Bescheid nur bestätigt, die - von der genannten Ausnahme abgesehen - uneingeschränkte Anfechtungsmöglichkeit (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 225 AO Anm. 6; Woerner, Die Zurücknahme und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 4. Aufl. S. 91). Ein in vollem Umfange vorläufiger Bescheid ist somit, auch wenn er unanfechtbar geworden ist, materiell nicht bestandskräftig (vgl. Kröger, Finanz-Rundschau 1971 S. 483 - FR 1971, 483 -; Woerner, a. a. O., S. 113). Ob die Unanfechtbarkeit des vorläufigen Bescheides ohne oder erst nach Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens eingetreten ist, kann keinen Unterschied machen. Auch im Falle einer gerichtlichen Entscheidung über den vorläufigen Bescheid kann die Rechtskraft des Urteils nicht weiter reichen. Über den Streitgegenstand des Verfahrens betreffend den endgültigen Steuerbescheid ist daher im vorausgegangenen Verfahren über den vorläufigen Steuerbescheid noch nicht i. S. von § 110 Abs. 1 FGO rechtskräftig entschieden worden (so im Ergebnis auch Wismeth, Deutsches Steuerrecht 1971 S. 29). Das FA kann deshalb der Anfechtung des endgültigen Bescheides nicht mit Erfolg den Einwand der "res iudicata" entgegenhalten, wie dies ja auch der Steuerpflichtige nicht kann, wenn das FA im endgültigen Bescheid auf Grund geänderter Rechtsauffassung eine gegenüber dem bereits unanfechtbar gewordenen vorläufigen Bescheid höhere Steuer festsetzt.

II. ...

 

Fundstellen

Haufe-Index 72160

BStBl II 1977, 126

BFHE 1977, 1

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