Leitsatz (amtlich)

Wird die Untätigkeitsklage (§ 46 FGO) vor Ablauf der Sechsmonatsfrist seit der Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben, ohne daß wegen Vorliegens besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist, so kann über die Klage vor Ablauf der Sechsmonatsfrist sachlich nicht entschieden werden.

 

Normenkette

FGO § 46

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) erließ am 8. August 1973 gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer einer GmbH wegen deren Steuerschulden einen auf §§ 103, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) gestützten Haftungsbescheid in Höhe von ... DM. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 20. August 1973 Einspruch eingelegt. Noch bevor das FA über den Einspruch entschieden hatte, erhob der Kläger am 10. September 1973 Klage zum FG mit dem Begehren, den Haftungsbescheid aufzuheben.

Das FG hat mit Urteil vom 30. Januar 1974, das nach der am gleichen Tag durchgeführten mündlichen Verhandlung verkündet wurde, die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Da der Kläger die Klage vor Abschluß des Einspruchsverfahrens erhoben habe, handele es sich um eine sogenannte Untätigkeitsklage nach § 46 FGO. Die Voraussetzungen für die Untätigkeitsklage seien allerdings nicht erfüllt, weil sie bereits vor Ablauf der Sechsmonatsfrist seit der Einlegung des Einspruchs erhoben worden sei und besondere Umstände, die eine vorzeitige Erhebung rechtfertigen könnten, nicht gegeben seien. Gleichwohl sei das Gericht nicht gehalten, mit einer sachlichen Entscheidung über die Klage bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO (20. Februar 1974) zuzuwarten und zu diesem Zweck das Verfahren auszusetzen. Denn die sachliche Prüfung der Klage habe zu dem Ergebnis geführt, daß diese erfolglos bleiben werde, und das FA habe eindeutig zu erkennen gegeben, daß es dem Begehren des Klägers durch eine abhelfende Entscheidung nicht entsprechen werde. Bei dieser Sach- und Rechtslage gebiete es der Gesichtspunkt der Prozeßwirtschaftlichkeit, von einer Aussetzung des Verfahrens abzusehen und bereits vor Ablauf der Sechsmonatsfrist in der Sache selbst zu entscheiden (Hinweise auf Bettermann, NJW 1960, 1081 ff.; Birkholz, Finanz-Rundschau 1967 S. 523 - FR 1967, 523 -; Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 9. März 1966 III B 107/65, NJW 1966, 1043).

Auch der Grundsatz, daß eine sachliche Überprüfung des Rechtsmittelbegehrens in der Regel die Zulässigkeit des Rechtsmittels voraussetze, stehe einer Sachentscheidung nicht im Wege. Durch die Sechsmonatsfrist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO solle lediglich das Ergehen einer für den Rechtsmittelführer günstigen Sachentscheidung vor Ablauf der Sechsmonatsfrist verhindert werden. Dieser Zweck der Sechsmonatsfrist schließe es jedoch nicht aus, die Klage bereits vor ihrem Ablauf aus sachlichen Gründen abzuweisen.

In der Sache selbst habe sich der Erlaß des Haftungsbescheids als berechtigt erwiesen. Denn der Kläger habe die ihm als dem gesetzlichen Vertreter der GmbH (§ 35 GmbHG) obliegenden steuerlichen Pflichten in schuldhafter Weise verletzt.

Mit der Revision verfolgt der Kläger das Klagebegehren weiter.

Er beantragt hilfsweise sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Sache an das FG zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.

1. Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist die Klage ohne vorherigen Abschluß des außergerichtlichen Verfahrens zulässig, wenn über den außergerichtlichen Rechtsbehelf ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist. Die Klage kann jedoch nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs erhoben werden, es sei denn, daß wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Wie der BFH mit Urteil vom 6. Dezember 1972 I R 177/72 (BFHE 107, 489, BStBl II 1973, 228) entschieden hat, ist ein "besonderer Umstand" i. S. dieser Vorschrift nicht allein darin zu sehen, daß es sich bei dem angefochtenen Verwaltungsakt, wie im Streitfall, um einen Haftungsbescheid handelt. Fehlt es aber an einem "besonderen Umstand" i. S. von § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO, so wurde die Klage erst nach Ablauf der Sechsmonatsfrist seit der Einlegung des Einspruchs (20. August 1973), also mit Ablauf des 20. Februar 1974, zulässig (§ 54 FGO i. V. m. § 222 ZPO und §§ 186 ff. BGB). Da diese Frist bei Ergehen der Vorentscheidung, also bei ihrer Verkündung am 30. Januar 1974 (vgl. Ziemer/Birkholz, Finanzgerichtsordnung, § 103 Anm. 3; BFH-Beschluß vom 16. Oktober 1970 VI B 24/70, BFHE 100, 351, BStBl II 1971, 25), nicht abgelaufen war, war die Klage in diesem Zeitpunkt einer Sachentscheidung nicht zugänglich und hätte somit in diesem Stadium des Verfahrens als unzulässig abgewiesen werden müssen (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, Anm. 9 zu § 46; ebenso Kühn/Kutter, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., Bem. 2 zu § 46 FGO; das genannte Urteil I R 177/72 und den BFH-Beschluß vom 22. September 1967 VI B 19/67, BFHE 90, 274 [276], BStBl II 1968, 61).

2. Die Erwägungen, mit denen die Vorinstanz dennoch über die Klage sachlich entschieden hat, sind nicht stichhaltig. Sie sind weder mit dem eindeutigen Wortlaut des § 46 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 FGO noch mit dem von der Vorschrift verfolgten Zweck zu vereinbaren. Da das Gesetz ausdrücklich bestimmt, daß die Klage nicht vor Ablauf der Sechsmonatsfrist erhoben werden "kann", ist dieser Umstand eine "Prozeßvoraussetzung" i. S. einer "Sachentscheidungsvoraussetzung" (vgl. BVerwG-Urteil zu § 75 der Verwaltungsgerichtsordnung vom 20. Januar 1966 I C 24/63, BVerwGE 23, 135, NJW 1966, 750). Dieses Ergebnis wird durch den Sinn der Sechsmonatsfrist bestätigt: Der Verwaltungsbehörde soll für die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf - wenn nicht wegen "besonderer Umstände" des Falles eine kürzere Frist geboten ist - mindestens eine Zeitspanne von einem halben Jahr zustehen (vgl. den genannten BFH-Beschluß VI B 19/67). Innerhalb dieser Zeitspanne hat die Verwaltung die Möglichkeit, dem Steuerpflichtigen einen zureichenden Grund für die Verzögerung ihrer Entscheidung mitzuteilen oder dem Begehren des Steuerpflichtigen - sei es in der Einspruchsentscheidung, sei es in einem Abhilfebescheid nach § 94 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) - zu entsprechen. Der Standpunkt des FG, daß es in einem Fall, in dem die Klage keine Erfolgsaussichten hat, aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit geboten erscheine, bereits vor Ablauf der Sechsmonatsfrist eine Sachentscheidung zu treffen, läuft auf eine Verkürzung dieser gesetzlichen Frist hinaus und findet im Gesetz - auch nach der Zweckbestimmung des § 46 FGO - keine Stütze. Dies gilt auch dann, wenn die Behörde vor Ablauf der Frist zu erkennen gegeben hat, daß sie dem sachlichen Begehren des Steuerpflichtigen nicht abhelfen werde. Denn es ist nicht auszuschließen, daß die Behörde bis zum Ablauf der Frist ihre Auffassung ändert. In der Wahrnehmung dieses Rechtes sowie der Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme vor dem FG bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist wird die Behörde behindert, wenn das FG bereits vorher eine sachliche Entscheidung trifft.

Die Hinweise, auf die sich die Vorinstanz für ihre gegenteilige Auffassung beruft, gehen fehl. Weder den Ausführungen von Birkholz (a. a. O.) noch denen von Bettermann (a. a. O.) läßt sich entnehmen, daß bereits vor Ablauf der Sechsmonatsfrist eine sachliche Entscheidung getroffen werden kann. Der BVerwG-Beschluß vom 9. März 1966 III B 107/65 (NJW 1966, 1043) betrifft einen Sachverhalt, der mit dem hier vorliegenden nicht vergleichbar ist, weil der dort geltend gemachte Anspruch auf Vornahme eines Verwaltungsaktes "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt bestehen" konnte.

Obwohl dem FG im Zeitpunkt des Ergehens seines Urteils die sachliche Entscheidung über die Klage verwehrt war, war es geboten, die Sache unter Aufhebung der Vorentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Die vorzeitig erhobene und deshalb unzulässige Klage wächst nach allgemeiner Auffassung (vgl. BVerwG-Urteil I C 24/63; Gräber, a. a. O.; Kühn/Kutter, a. a. O.), der sich der Senat anschließt, in die Zulässigkeit hinein. Da inzwischen die Frist von sechs Monaten seit Einlegung des außergerichtlichen Rechtsbehelfs verstrichen und der Mangel geheilt ist, war die Klage nicht als unzulässig abzuweisen. Mit dieser Entscheidung weicht der Senat nicht von dem Urteil des I. Senats I R 177/72 ab, weil im dort entschiedenen Fall im Zeitpunkt der Entscheidung über die Revision die (damals neun Monate betragende, vgl. § 158 Abs. 1 FGO i. V. m. der Zweiten Verordnung zur Verlängerung der Übergangsregelung des § 158 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung vom 23. Dezember 1970, BGBl I 1970, 1866) Frist des § 46 Abs. 1 Satz 2 FGO noch nicht verstrichen war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72650

BStBl II 1978, 154

BFHE 1978, 2

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