Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Umfangs der gerichtlichen Überprüfung von Haftungsbescheiden nach §§ 109, 118 AO als zweigliedrigen Entscheidungen.

 

Normenkette

AO §§ 109, 118 S. 1; FGO § 102

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) nahm den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) durch Haftungsbescheid vom 9. Juli 1971 nach §§ 118, 109 der Reichsabgabenordnung (AO) als Geschäftsführer der X-GmbH für deren Umsatzsteuerschulden 1970 in Höhe von 15 051,10 DM in Anspruch.

Der gegen diesen Haftungsbescheid eingelegte Einspruch blieb erfolglos. In seiner Einspruchsentscheidung vom 24. September 1973 führte das FA u. a. aus: Als Geschäftsführer der GmbH sei der Kläger seiner Pflicht, die geschuldete Umsatzsteuer rechtzeitig voranzumelden und zu begleichen, schuldhaft nicht nachgekommen. Dadurch seien die nunmehr geltend gemachten Steuerbeträge verkürzt worden. Die den Kunden in Rechnung gestellten Umsatzsteuerbeträge habe der Kläger für den Fiskus treuhänderisch verwalten und an diesen abführen müssen. Er sei nicht berechtigt gewesen, über sie anderweit zu verfügen. Wenn er dies dennoch getan und sich dadurch selbst die Mittel zur Entrichtung der Umsatzsteuer entzogen habe, so könne er jetzt nicht mit dem Einwand durchdringen, daß ihm die erforderlichen Mittel gefehlt hätten. Schließlich werde der Kläger auch nicht dadurch entlastet, daß ihm der Gesellschafter der GmbH zugesagt habe, die zur Begleichung von Umsatzsteuerschulden erforderlichen Mittel bereitzustellen. Als Geschäftsführer der GmbH habe er sich nicht darauf verlassen können, daß Steuerschulden der GmbH von deren Gesellschafter übernommen würden.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Haftungsbescheids begehrt, stattgegeben. Es hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt: Zwar seien die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlaß des Haftungsbescheids gegeben, da der Kläger durch sein Verhalten schuldhaft die geforderten Umsatzsteuerbeträge verkürzt habe. Dennoch sei der Haftungsbescheid aufzuheben. Der Erlaß eines Haftungsbescheids sei eine Ermessensentscheidung. Aus dem Haftungsbescheid und auch aus der Einspruchsentscheidung sei ersichtlich, daß das FA lediglich das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der §§ 103, 109 AO für den Erlaß eines Haftungsbescheids bejaht habe. Es habe aber keine Erwägungen in der Richtung angestellt, inwieweit es als angemessen angesehen werden könne, von der gesetzlich begründeten Befugnis, den Kläger zur Haftung heranzuziehen, auch Gebrauch zu machen. Hierauf habe nicht verzichtet werden können, da das Verschulden des Klägers gering sei, was allein schon ausreichen könne, von dessen Inanspruchnahme als Haftungsschuldner ganz abzusehen (Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Januar 1961 IV 140/60, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 109, Rechtsspruch 14). Hinzu komme, daß die hier gegebenen Verhältnisse im Vergleich mit anderen Haftungsfällen ganz außergewöhnlich seien. So sei z. B. die mangelnde Eignung des damals 22jährigen Klägers zum Geschäftsführer vom Gesellschafter der GmbH bewußt benutzt und mißbraucht worden. Ferner habe der Kläger angesichts der geringen Erhöhung seines bisherigen Gehalts anläßlich der Bestellung zum Geschäftsführer der GmbH (von 800 DM auf 1 000 DM bis 1 050 DM netto) kaum einen finanziellen Vorteil aus seiner Geschäftsführertätigkeit erzielen können.

Mit der Revision begehrt das FA die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage. Es rügt die Verletzung der §§ 103, 109, 118 AO. Dazu führt es aus, es habe in der Einspruchsentscheidung bei der Prüfung des Verschuldens mittelbar auch zur Ermessensfrage Stellung bezogen. Dies reiche nach dem BFH-Urteil vom 21. Januar 1972 VI R 187/68 (BFHE 104, 294, BStBl II 1972, 364, 366) aus. Da für die Frage der richtigen Ermessensentscheidung auf den Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung abzustellen sei, könne die Inanspruchnahme des Klägers auch nur nach der damaligen Erkenntnislage beurteilt werden. Danach habe man aufgrund der tatsächlichen Feststellungen und des Sachvortrags des Klägers von dessen grobem Verschulden ausgehen können. Die damals nicht bekannte mangelnde Eignung des Klägers sowie der möglicherweise fehlende Vorteil aus der Geschäftsführertätigkeit hätten bei der Ermessensausübung keine Rolle spielen können noch zu spielen brauchen. Diese vom Kläger selbst verschuldete Säumnis könne nicht nachträglich dem FA angelastet werden.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung vor dem Senat verzichtet (§ 121 i. V. m. § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Das FG geht zutreffend davon aus, daß die Entscheidung darüber, ob der Kläger als Geschäftsführer der GmbH bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 109, 103 AO gemäß § 118 AO als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen sei, eine Ermessensentscheidung ist (BFH-Urteil vom 1. Juni 1965 VII 228/63 U, BFHE 82, 689, BStBl III 1965, 495). Diese Ermessensentscheidung ist nach § 102 FGO darauf zu überprüfen, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Die Vorinstanz war rechtlich dabei nicht daran gehindert, die anläßlich dieser Überprüfung in der mündlichen Verhandlung neu gewonnenen Erkenntnisse über den Grad des Verschuldens des Klägers zu verwerten. Das FA beruft sich für seine gegenteilige Meinung auf die Rechtsprechung des BFH, nach der die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung nur auf die Tatsachen abstellen kann, welche der zuständigen Behörde bei ihrer Entscheidung bekannt waren oder bekannt sein konnten (vgl. Urteile vom 26. Januar 1966 II 90/62, BFHE 84, 584, BStBl III 1966, 211; vom 10. Mai 1972 II 57/64, BFHE 105, 458, BStBl II 1972, 649; vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919; vom 18. November 1975 VII R 85/74, BFHE 117, 430, BStBl II 1976, 257, die sämtlich die - hier nicht vorliegende - Fallgestaltung betreffen, daß nach dem Ergehen der letzten Verwaltungsentscheidung neue tatsächliche Umstände eingetreten sind; ferner Urteile vom 1. August 1961 I 100/60 S, BFHE 74, 144, BStBl III 1962, 55; vom 31. März 1976 I R 51/74, BFHE 118, 537, BStBl II 1976, 499, unter Ziff. 2 b für den Fall, daß der Steuerpflichtige im Erlaßverfahren nach § 131 AO nicht bereit war, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken).

Der Senat hat indes angesichts der Besonderheiten des zu entscheidenden Falles keine Veranlassung, zu dieser Rechtsprechung Stellung zu nehmen. Diese Rechtsprechung ist hier auch schon deshalb nicht einschlägig, weil sie zu Verfügungen ergangen ist, mit denen die Verwaltungsbehörde den Antrag auf einen Billigkeitserlaß abgelehnt hatte, während sich der Kläger hier mit einer Anfechtungsklage gegen den ihn belastenden Haftungsbescheid wendet (vgl. auch BFH-Urteil VII R 85/74). Ausschlaggebend ist vielmehr, daß die Entscheidung über die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners zweigliedrig ist. Das FA hat zunächst zu prüfen, ob in der Person oder in den Personen, die es zur Haftung heranziehen will, die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 103 ff. AO, insbesondere des § 109 AO, erfüllt sind. Insoweit ist die Entscheidung keine Ermessensentscheidung, sondern eine von den FG in vollem Umfang überprüfbare Rechtsentscheidung (vgl. auch Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 114 Anm. 13). Führt das Klageverfahren im Rahmen dieser Prüfung aufgrund neuer tatsächlicher Feststellungen oder einer von der Auffassung des FA abweichenden Anwendung der bezeichneten Vorschriften zu anderen Voraussetzungen für die Ermessensentscheidung nach § 118 AO und ermöglichen diese tatsächlichen oder rechtlichen Erkenntnisse eine dem Kläger günstigere Ermessensentscheidung, so ist dem angefochtenen Verwaltungsakt der Boden entzogen. Stellt sich bei der finanzgerichtlichen Überprüfung beispielsweise heraus, daß der vom FA in Anspruch Genommene nicht Geschäftsführer war oder nicht schuldhaft gehandelt hatte, so ist der Haftungsbescheid auch dann als rechtswidrig aufzuheben, wenn das FA bei Erlaß des Haftungsbescheids vom Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 103 ff. AO ausgehen konnte. Dies gilt selbst dann, wenn der in Anspruch Genommene seinen Mitwirkungspflichten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht nachgekommen ist.

Durch die im Rahmen des § 109 AO zu treffende Rechtsentscheidung wird die nach § 118 AO zu treffende Ermessensentscheidung (zweite Entscheidungsstufe), ob die nach § 109 AO für eine Haftung in Betracht kommende Person oder wer von mehreren derartigen Personen in Anspruch genommen werden soll, jedoch in gewisser Weise vorgeprägt. Hat z. B. der Geschäftsführer einer GmbH grob fahrlässig oder gar vorsätzlich Steuern verkürzt, so ist seine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner regelmäßig gerechtfertigt. Hier kann davon ausgegangen werden, daß das FA stillschweigend von seinem Ermessen sachgerecht Gebrauch gemacht hat. Daß die die Ermessensausübung bestimmenden Erwägungen nicht ausdrücklich in den Haftungsbescheid oder die Einspruchsentscheidung aufgenommen werden, ist in diesem Falle unschädlich (Eyermann/Fröhler, a. a. O., § 114 Anm. 6). Trifft den Geschäftsführer dagegen nur ein leichtes Verschulden, so ist seine Inanspruchnahme nicht auch bereits ohne weiteres gerechtfertigt. Hier hat das FA das Für und Wider einer Inanspruchnahme in einer gerichtlich überprüfbaren Weise gegeneinander abzuwägen.

2. Das FG hat in tatsächlicher Hinsicht für den Senat bindend festgestellt (§ 118 Abs. 2 FGO), daß der Kläger aufgrund seines Alters und seiner mangelnden Vorbildung die für eine Geschäftsführertätigkeit erforderliche Eignung nicht besessen hat und daß er vom Gesellschafter der GmbH bewußt mißbraucht worden ist. Nach diesen Feststellungen hat es ohne Rechtsverstoß das Verschulden des Klägers als geringfügig beurteilt, während das FA von einem grob fahrlässigen Verhalten des Klägers ausgegangen ist. Da der Verschuldensgrad für die angefochtene Ermessensentscheidung von Bedeutung war und das FA diesen zuungunsten des Klägers fehlerhaft beurteilt hat, konnte seine Ermessensentscheidung nicht aufrechterhalten werden.

Das FG hat daher im Ergebnis zutreffend den Haftungsbescheid aufgehoben. Damit ist dem FA Gelegenheit gegeben, die Frage der Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner unter Zugrundelegung der rechtlichen Beurteilung des Verschuldens nach dem finanzgerichtlichen Urteil erneut zu prüfen (§ 110 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 72809

BStBl II 1978, 508

BFHE 1979, 126

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