Entscheidungsstichwort (Thema)

Zu den Voraussetzungen für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Es ist in der Regel ohne Bedeutung, auf welche Weise eine Tatsache nachträglich bekanntgeworden ist.

2. Rechtswidrig erlangte Außenprüfungsergebnisse unterliegen nur dann einem Verwertungsverbot, wenn der Steuerpflichtige erfolgreich gegen die Rechtswidrigkeit der betreffenden Prüfungsmaßnahmen vorgegangen ist.

3. Eine einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung kann grundsätzlich auch dann noch durchgeführt werden, wenn die Einkommensteuerveranlagungen der Personen, denen die festgestellten Einkünfte anteilig zugerechnet werden sollen, bereits ergangen und bestandskräftig geworden sind.

4. Verwirkung kann nicht im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid geltend gemacht werden, weil die Prüfung der Verwirkung im Regelfall Ermittlungen erfordert, wie sie für das Steuerfestsetzungsverfahren typisch sind.

5. Die Änderung eines einheitlichen Feststellungsbescheides ist nicht mehr zulässig, wenn die Steuern, für deren Erhebung der Feststellungs-(Änderungs-)bescheid die Grundlage bildet, verjährt sind. Sind nur einzelne dieser Steuern verjährt, so ist der Erlaß eines Änderungsbescheides zulässig, eine Nachforderung der verjährten Steuern aber ausgeschlossen.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 88, 90, 150 Abs. 2 S. 1, § 173 Abs. 1 Nr. 1; AO § 215 Abs. 2

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Gesamtrechtsnachfolger nach dem am 13. April 1975 verstorbenen X (Erblasser). Der Erblasser betrieb bis zu seinem Tode gemeinsam mit seinem Bruder, Y, dem Kläger zu 1, eine Schreinerei und Zimmerei in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR).

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) stellte die Gewinne der GbR mit Feststellungsbescheiden vom 18. Juli 1972 für 1970, vom 7. März 1973 für 1971, vom 13. Juni 1973 für 1972 und vom 14. Oktober 1974 für 1973 endgültig fest.

Aus der am 5. November 1976 durch den Steuerberater der GbR beim FA eingereichten Einkommensteuererklärung 1974 für den Erblasser ergab sich erstmals, daß der Erblasser auch Einkünfte aus Kapitalvermögen bezogen hatte. Nachdem das FA die Zinseinkünfte für die Vorjahre mit dem Steuerberater telefonisch erörtert hatte, teilte dieser mit Schreiben vom 19. November 1976 dem FA die Guthabenbestände der Sparbücher des Erblassers auf den 1. Januar 1972 und den 1. Januar 1973 sowie die Höhe der in 1972 und 1973 gutgeschriebenen Zinsen mit. Zugleich reichte er Vermögensteuererklärungen auf den 1. Januar 1972 und den 1. Januar 1974 ein. Am 29. November 1976 forderte das FA den Steuerberater auf, eine Aufstellung der Einkünfte aus Kapitalvermögen für die Jahre 1965 bis 1971 einzureichen. Daraufhin teilte der Steuerberater mit Schreiben vom 23. Dezember 1976 auch die in diesen Jahren dem Erblasser gutgeschriebenen Zinsbeträge mit.

Das FA erließ am 6. Januar 1977 für die Jahre 1972 und 1973 und am 14. Februar 1977 für die Jahre 1970 und 1971 geänderte Einkommensteuerbescheide.

Am 12. Juli 1977 wurde die GbR zur Betriebsprüfung gemeldet mit der Begründung, daß nach dem Tode des Gesellschafters X bei diesem Steuerhinterziehungen durch Verschweigen von Einkünften aus Kapitalvermögen aufgedeckt worden seien. Die Betriebsprüfung für den Zeitraum 1973 bis 1975 wurde am 25. Januar 1978 angeordnet und begann am 24. April 1978. Mit Verfügung vom 5. Juni 1978 wurde der Prüfungszeitraum auf die Jahre 1970 bis 1972 ausgedehnt. Auf der Rückseite der Anordnung befindet sich der Vermerk: ,,Die Erweiterung der Prüfungsanordnung ist erforderlich, weil mit erheblichen Steuernachforderungen zu rechnen ist." Der Prüfer stellte nicht erklärte Gewinne aus Gewerbebetrieb in Höhe von insgesamt . . . DM fest, die er mit je . . . DM gleichmäßig auf die Jahre 1970 bis 1974 verteilte.

Das FA erließ dementsprechend am 20. Oktober 1978 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Feststellungsbescheide für 1970 bis 1973. Die Mehrgewinne von je . . . DM rechnete es darin dem Erblasser allein zu. Das Einspruchsverfahren blieb erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger unrichtige Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zutreffend die geänderten Feststellungsbescheide für 1970 bis 1973 für rechtmäßig erachtet.

1. Die Voraussetzungen für eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 sind erfüllt.

a) Feststellungsbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 181 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Feststellung der Besteuerungsgrundlagen und zu einer höheren Steuer führen. Nach Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) gilt diese Bestimmung auch für solche Bescheide, die vor Inkrafttreten der AO 1977 am 1. Januar 1977 ergangen sind. Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift sind Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Erforderlich ist, daß die Tatsachen bei Erlaß der ursprünglichen Bescheide bereits vorhanden waren und vom FA bei umfassender Kenntnis des Sachverhalts hätten berücksichtigt werden können (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785, und vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786).

Diese Voraussetzungen waren im Streitfall gegeben. Steuererhöhende Tatsache ist das Vorhandensein der in den ursprünglichen Feststellungsbescheiden nicht berücksichtigten gewerblichen Gewinne der GbR. Diese Tatsache ist dem FA nachträglich bekanntgeworden, da sie bei Erlaß der ersten Feststellungsbescheide für die Streitjahre vorhanden war, das FA aber erst nach Bestandskraft dieser Bescheide von ihr Kenntnis erlangt hat. Es kann dabei offenbleiben, ob das FA bereits durch die Mitteilungen des Steuerberaters volle Kenntnis von den bislang nicht versteuerten Gewinnnen aus Gewerbebetrieb hatte oder ob es diese Kenntnis zumindest teilweise erst durch eine - wie die Kläger meinen - in unzulässiger Weise auf die Jahre 1970 bis 1972 ausgedehnte Betriebsprüfung erlangt hat. Grundsätzlich ist es ohne Bedeutung, auf welche Weise eine Tatsache nachträglich bekanntgeworden ist (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 173 AO 1977 Rdnr. 21). Allerdings können rechtswidrig ermittelte Tatsachen einem Verwertungsverbot unterliegen. Rechtswidrig erlangte Außenprüfungsergebnisse dürfen jedoch nur dann nicht verwertet werden, wenn der Steuerpflichtige erfolgreich gegen die Rechtswidrigkeit der betreffenden Prüfungsmaßnahmen vorgegangen ist (BFH-Urteile vom 27. Juli 1983 I R 210/79, BFHE 139, 221, BStBl II 1984, 285, und vom 23. Februar 1984 IV R 154/82, BFHE 140, 505, BStBl II 1984, 512). Dies ist im Streitfall nicht geschehen.

b) Das FA war an einer Änderung der Feststellungsbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nicht durch einen Verstoß gegen Treu und Glauben oder aus einem anderen Grund gehindert.

aa) Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich ergeben, daß das FA eine Tatsache, die es bei gehöriger Beachtung seiner Ermittlungspflicht (§ 88 AO 1977) hätte aufdecken müssen, als bekannt gegen sich gelten lassen muß. Daß das FA bei Erlaß der ursprünglichen Feststellungsbescheide seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen ist, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Überdies kann sich ein Steuerpflichtiger, der seine Steuererklärungen unvollständig abgegeben hat und damit seiner eigenen Erklärungs- und Mitwirkungspflicht (§ 150 Abs. 2 Satz 1, § 90 Abs. 1 AO 1977) nicht voll nachgekommen ist, nicht darauf berufen, daß das FA seine Ermittlungspflicht verletzt habe (BFH-Urteil vom 19. Oktober 1971 VIII R 27/66, BFHE 103, 404, BStBl II 1972, 106).

bb) Das FA war auch nicht am Erlaß der geänderten Feststellungsbescheide dadurch gehindert, daß es zuvor geänderte und endgültige Einkommensteuerbescheide erlassen hatte, in denen die nacherklärten Zinseinkünfte erfaßt waren. Eine einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung kann und muß grundsätzlich auch dann noch durchgeführt werden, wenn die Einkommensteuerveranlagungen der Personen, denen die festgestellten Einkünfte anteilig zugerechnet werden sollen, bereits ergangen und bestandskräftig geworden sind (BFH-Urteile vom 6. November 1964 VI 210/63 U, BFHE 81, 147, BStBl III 1965, 52, und vom 11. Oktober 1984 IV R 153/82, BFHE 142, 398, BStBl II 1985, 189). Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob das FA vor Ergehen der geänderten Feststellungsbescheide berechtigt war, endgültige Einkommensteueränderungsbescheide zu erlassen, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

cc) Über die von den Klägern geltend gemachte Verwirkung ist nicht im vorliegenden Verfahren zu entscheiden.

Der III. Senat des BFH hat in seinem Urteil vom 31. Oktober 1974 III R 130/73 (BFHE 114, 12, BStBl II 1975, 253) ausgeführt, daß - abgesehen von hier nicht vorliegenden besonderen Ausnahmefällen - das Recht der Finanzbehörde, einen Grundlagenbescheid zu erlassen, nicht verwirkt werden könne. Verwirkt werden könnten nur die Steueransprüche, die auf dem Grundlagenbescheid beruhen. Die Verwirkung könne - anders als die Verjährung - nicht im Verfahren gegen den Grundlagenbescheid geltend gemacht werden, weil die Prüfung der Verwirkung im Regelfall Ermittlungen erfordere, wie sie für das Steuerfestsetzungsverfahren typisch seien. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Das FG hätte somit in seinem Urteil über die Frage der Verwirkung gar nicht zu entscheiden brauchen.

c) Die geänderten Feststellungsbescheide sind auch nicht in rechtsverjährter Zeit erlassen worden.

Da dem FA nachträglich steuererhöhende Tatsachen bekanntgeworden sind, ist der Erlaß der geänderten Feststellungsbescheide insoweit zulässig, als die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen war (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 169 Abs. 1 AO 1977). Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 EGAO 1977 sind im Streitfall die Vorschriften der Reichsabgabenordnung (AO) über die Verjährung anzuwenden. Der Verjährung unterliegen Ansprüche aus den Steuergesetzen (§ 143 AO), wobei der Eintritt der Verjährung bewirkt, daß der Steueranspruch erlischt (§ 148 AO). Wie zur Einheitsbewertung entschieden wurde, ist die Feststellung eines Einheitswerts unzulässig, wenn sämtliche auf ihm beruhenden Steuern verjährt sind und deshalb der Einheitswert keine steuerliche Bedeutung hat (BFH-Urteile vom 16. Mai 1952 III 68/52 U, BFHE 56, 490, BStBl III 1952, 190, und vom 19. Juli 1957 III 192/56 U, BFHE 65, 169, BStBl III 1957, 299). Diese Grundsätze sind sinngemäß auf die einheitlichen Gewinnfeststellungen nach § 215 Abs. 2 AO anzuwenden. Hiernach ist die Feststellung des einheitlichen Gewinns nach § 215 Abs. 2 AO sowie die Änderung eines einheitlichen Feststellungsbescheides unzulässig, wenn die Steuern, für deren Erhebung der Feststellungs-(Änderungs-)bescheid die Grundlage bildet, verjährt sind. Waren nur einzelne dieser Steuern verjährt, so ist der Änderungsbescheid zulässig, eine Nachforderung der verjährten Steuern aber ausgeschlossen (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 143 AO Anm. 2). Der Einwand der Verjährung kann bereits im Verfahren über den Grundlagenbescheid geltend gemacht und geprüft werden (vgl. BFH-Urteile vom 22. Oktober 1959 IV 36/59 U, BFHE 70, 61, BStBl III 1960, 24; vom 12. Juli 1974 III R 88/73, BFHE 113, 55, BStBl II 1974, 666, und in BFHE 114, 12, BStBl II 1975, 253).

Das FG hat ohne Rechtsfehler aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts angenommen, daß der Erblasser hinsichtlich der vom Prüfer ermittelten Mehrgewinne aus Gewerbebetrieb vorsätzlich Steuern hinterzogen hat (§ 392 AO). Die Verjährungsfrist beträgt demnach gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 AO zehn Jahre und war bei Erlaß der geänderten Feststellungsbescheide 1970 bis 1973 am 20. Oktober 1978 noch nicht abgelaufen. Die verlängerte Verjährungsfrist lief auch gegen die Kläger als Gesamtrechtsnachfolger des verstorbenen X (§ 8 des Steueranpassungsgesetzes, § 45 AO 1977). Dies gilt selbst dann, wenn die Kläger von der Steuerhinterziehung nichts gewußt haben (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 169 AO Tz. 10).

 

Fundstellen

Haufe-Index 414129

BFH/NV 1986, 131

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Gold. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge