Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlerhaftes Auswahlermessen bei Haftungsinanspruchnahme

 

Leitsatz (NV)

Das Auswahlermessen bei Inanspruchnahme eines Geschäftsführers als Haftungsschuldner ist jedenfalls dann fehlerhaft ausgeübt, wenn das FA hinsichtlich der Verhältnisse in der Geschäftsführung einer Gesellschaft von einem falschen Sachverhalt ausgegangen ist.

 

Normenkette

AO §§ 105, 109, 118 S. 1

 

Tatbestand

Der Kläger war ab Ende 1970 alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer einer GmbH, die sich vorwiegend mit der Errichtung von Sportstätten- und Freizeitanlagen beschäftigte. Neben dem Kläger war noch A zum alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer bestellt, der die Geschäftsführung aber nur vertretungsweise wahrnehmen sollte. Die GmbH wurde nach Eröffnung des Anschlußkonkursverfahrens im November 1973 aufgelöst.

Am 10. Oktober 1973 gab die GmbH für Januar bis Juli 1973 eine berichtigte Umsatzsteuervoranmeldung ab. Mit ihr wurde ein Umsatz in Höhe von 703 962 DM nachgemeldet. Er betraf eine Sportstätte die vom Kunden im April 1973 abgenommen worden war. Der Buchhalter der GmbH hatte lediglich die Abschlußzahlung in Höhe von 15 800 DM der Umsatzsteuer unterworfen. Da bei der Abgabe der berichtigten Umsatzsteuervoranmeldung im Oktober 1973 bereits das Vergleichsverfahren eröffnet war, wurde die nachgemeldete Umsatzsteuer in Höhe von 77 435,82 DM nicht beglichen.

Wegen dieses Betrages nahm das FA den Kläger als Haftungsschuldner durch den angefochtenen Bescheid in Anspruch. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger beim FG Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids.

Das FG hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme über die Frage, ob der GmbH in den Monaten April und Mai 1973 Mittel zur Begleichung der Umsatzsteuer zur Verfügung gestanden haben, die Klage abgewiesen.

Es führte aus, der Kläger hafte als alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer insoweit persönlich neben der GmbH, als durch schuldhafte Verletzung der ihm auferlegten Pflichten Steueransprüche verkürzt worden seien. Das sei hier insofern der Fall gewesen, als die Umsatzsteuerrückstände aufgelaufen seien, zum einen durch verspätete, nämlich erst zum 1. April 1973 vorgenommene Einstellung eines Buchhalters und zum anderen dadurch, daß es der Kläger unterlassen habe, den mit dem Geschäftsgebaren der GmbH nicht vertrauten Buchhalter ordnungsgemäß zu überwachen. Bei ordnungsgemäßer Überwachung hätte es dem Kläger auffallen müssen, daß die Bauleistung hinsichtlich der Sportstätte - bis auf die Abschlußzahlung - nicht umsatzversteuert worden sei. Daß der GmbH bei Aufdeckung des Irrtums im Oktober 1973 zur Bezahlung der Umsatzsteuer keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung gestanden hätten, entlaste ihn deshalb nicht, weil er für die Entrichtung der Umsatzsteuer ausreichende Rücklagen hätte bilden müssen, was zu tun er unterlassen habe.

Mit der Revision beantragt der Kläger, unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils den Haftungsbescheid aufzuheben, hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Der Kläger rügt unrichtige Anwendung der §§ 109, 118 AO, hilfsweise mangelnde Sachaufklärung. Unrichtig angewendet habe das FG die Haftungsvorschrift des § 109 AO insofern, als es davon ausgegangen sei, daß er, der Kläger, für die Entrichtung der Umsatzsteuer Rücklagen hätte bilden müssen, zumal der Zusammenbruch der GmbH nicht unvorhersehbar eingetreten sei. Hierbei habe das FG verkannt, daß es für die Frage des Verschuldens auf den Zeitpunkt der Fälligkeit der jeweiligen Umsatzsteuerschuld - hier also der Umsatzsteuervorauszahlung zum 10. Mai 1973 ankomme. Im finanzgerichtlichen Urteil fehlten - wegen der unrichtigen Betrachtung in bezug auf die Verpflichtung zur Rücklagenbildung - jegliche Feststellungen, ob zu diesem Zeitpunkt noch genügend Mittel zur Begleichung der Umsatzsteuervorauszahlung vorhanden gewesen seien.

Das FG habe es weiter - unter Verstoß gegen § 102 FGO - unterlassen, die Frage zu prüfen, ob das FA bei der Inanspruchnahme des Klägers als Haftungsschuldner sein Ermessen sachgerecht ausgeübt habe (§ 118 AO). Dies wäre um so mehr erforderlich gewesen, als weder im Haftungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung die für eine sachgerechte Ermessensausübung maßgeblichen Erwägungen kenntlich gemacht seien. Es müsse sogar von einer fehlerhaften Ermessensausübung ausgegangen werden, weil der Kläger in der Einspruchsentscheidung als ,,alleiniger" Geschäftsführer der GmbH bezeichnet sei, während tatsächlich - wie das FG festgestellt habe - noch ein weiterer Geschäftsführer in der Person des A vorhanden gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils ist der Haftungsbescheid vom 28. November 1973 in Form der Einspruchsentscheidung vom 8. November 1976 aufzuheben.

1. Die Entscheidung darüber, ob der Kläger als Geschäftsführer der GmbH bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 109, 103 AO gemäß § 118 AO als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen sei, ist eine Ermessensentscheidung (Urteile des BFH vom 1. Juni 1965 VII 228/63 U, BFHE 82, 689, BStBl III 1965, 495, und vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508). Diese Ermessensentscheidung ist von den Gerichten nach § 102 FGO (nur) darauf zu überprüfen, ob der angefochtene Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Eine solche von Amts wegen durchzuführende Überprüfung setzt indessen voraus, daß die Ermessensentscheidung des FA erkennbar durchgeführt worden ist. Das FA muß folglich seine Ermessenserwägungen spätestens in der Einspruchsentscheidung kundtun, damit sie von den FG überprüft werden können (vgl. BFH-Urteil vom 18. September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801; Herrmann / Heuer / Raupach, EStG/KStG, 19. Aufl., § 38 EStG Anm. 34 E 38; Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, 7. Aufl., § 191 AO 1977 Anm. 62, 90, 110, 111; Tipke/Kruse, AO/FGO, 10. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 15).

2. Im Streitfall sind der Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung, die in dem finanzgerichtlichen Urteil in Bezug genommen sind, in der Frage sachgerechter Ermessensausübung der revisionsrichterlichen Würdigung zugänglich (vgl. Ziemer/Birkholz, FGO, 3. Aufl., Rdnr. 11 zu § 118 FGO; BFH-Urteil vom 14. September 1967 V 108/63, BFHE 90, 193, BStBl II 1968, 193). Diese Würdigung ergibt, daß im Haftungsbescheid und der Einspruchsentscheidung keine Erwägungen zur Ausübung des Ermessens enthalten sind, was bereits für sich allein den Ausführungen in den unter Ziff. 1 genannten Urteilen des BFH zuwiderläuft.

Es kommt aber hinzu, daß das FA - wenn es aus den im Haftungsbescheid und in der Einspruchsentscheidung enthaltenen Angaben das Ermessen stillschweigend ausgeübt haben sollte - ersichtlich von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist. Denn in der Einspruchsentscheidung ist angegeben, der Kläger sei der ,,alleinige" Geschäftsführer der GmbH gewesen, während zufolge den finanzgerichtlichen und für den erkennenden Senat mangels Verfahrensrügen verbindlichen Feststellungen (§ 118 Abs. 2 FGO) neben dem Kläger ein weiterer Geschäftsführer, nämlich A, bestellt und auch tätig gewesen sei. Bei dieser Sachlage hat der erkennende Senat davon auszugehen, daß es das FA - infolge und auf der Grundlage des seinerseits unterstellten Sachverhalts - ungeprüft gelassen hat, ob die Auswahl des Klägers als Haftungsschuldner sachgerechter Ermessensbetätigung entsprach. Da somit jedenfalls nicht von einer auf dem zutreffenden Sachverhalt beruhenden Ermessensausübung ausgegangen werden kann, ist der Haftungsbescheid in Form der Einspruchsentscheidung rechtswidrig (vgl. das genannte Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508 unter Ziff. 1 am Ende). Dies hat das FG im Rahmen der ihm bei Ermessensentscheidungen nach § 102 FGO zukommenden Prüfung verkannt, so daß seine Entscheidung aufzuheben ist.

3. Die Sache ist spruchreif. Unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils ist der Haftungsbescheid vom 28. November 1973 in Form der Einspruchsentscheidung vom 8. November 1976 aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414448

BFH/NV 1987, 137

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