Entscheidungsstichwort (Thema)

Beschränkung einer rückwirkenden gesetzlichen Neuregelung auf noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Fälle - Beitrittsrecht des BMF

 

Leitsatz (amtlich)

Beschränkt der Gesetzgeber eine rückwirkende gesetzliche Neuregelung, die er aufgrund einer Entscheidung des BVerfG treffen muß, auf die noch nicht bestandskräftig abgeschlossenen Fälle, so besteht kein Anspruch auf Änderung bestandskräftiger Bescheide. Die Beschränkung der Rückwirkung auf noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Fälle ist verfassungsgemäß.

 

Orientierungssatz

1. Rückwirkende Neuregelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 durch § 54 EStG i.d.F. des StÄndG 1991.

2. Das in § 122 Abs. 2 FGO geregelte Beitrittsrecht des BMF verletzt weder die Grundrechte des jeweiligen Klägers noch die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG (Anschluß an BFH-Urteil vom 2.6.1992 VII R 35/90). Es steht mit den Wertungen des GG im Einklang, wenn dem BMF bei Steuerfällen im Hinblick auf die Haushaltsinteressen eine besondere Stellung eingeräumt wird.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; GG Art. 19 Abs. 4; EStG § 54 Fassung: 1991-06-24; BVerfGG § 79 Abs. 2, § 82 Abs. 1; FGO § 122 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist verheiratet und wurde in dem im Revisionsverfahren allein noch offenen Streitjahr 1985 mit seiner Ehefrau gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt. Mit dieser hat er vier 1971 bis 1978 geborene Kinder. Ferner hat der Kläger ein weiteres 1968 geborenes Kind, welches sich im Jahr 1985 in der Ausbildung befand und bei der Mutter gemeldet war.

Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1985 erging im Jahre 1986. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 28. Dezember 1990 legte der Kläger dann gegen den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid Einspruch mit der Begründung ein, die darin berücksichtigten Kinderfreibeträge seien nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) zu niedrig angesetzt worden. Nachdem der Kläger nach Ablauf von sechs Monaten nach Einlegung dieses Einspruchs Untätigkeitsklage erhoben hatte, wies der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) den Einspruch zurück.

Der Kläger begehrte sodann im Klageverfahren, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung und Änderung des Einkommensteuerbescheides Kinderfreibeträge in Höhe von 5 560 DM abzüglich der bereits gewährten Kinderfreibeträge zu gewähren. Hilfsweise beantragte der Kläger, das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr entsprechend zu ändern. Das FA stimmte der Sprungklage hinsichtlich dieses Verpflichtungsantrags zu.

Das Finanzgericht (FG) wies in seinem in Finanz-Rundschau (FR) 1992, 692 veröffentlichten Urteil den Hauptantrag gegen die Einspruchsentscheidung ab, weil der Einspruch verspätet eingelegt worden und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Jahresfrist des § 110 Abs.3 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht möglich sei. Dem hilfsweise gestellten Verpflichtungsantrag gab das FG jedoch teilweise statt, indem es das FA verpflichtete, den streitigen Einkommensteuerbescheid zu ändern und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung weiterer Kinderfreibeträge von 2 400 DM (4 344 DM abzüglich 1 944 DM bereits gewährter Kinderfreibeträge) festzusetzen.

Diese Entscheidung begründete das FG damit, daß das FA nach § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 zur Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids verpflichtet sei. Die durch das BVerfG festgestellte Verfassungswidrigkeit der Regelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 sei eine Tatsache, die zu einer niedrigeren Steuer führe. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe nämlich zu § 165 AO 1977 entschieden, daß die Ungewißheit darüber, wie der Gesetzgeber die durch Entscheidungen des BVerfG notwendig werdende Neuregelung gestalte, eine ungewisse Tatsache sei (Hinweis auf Urteil des erkennenden Senats vom 9. August 1991 III R 41/88, BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219). Infolgedessen sei die Neuregelung der Kinderfreibeträge durch das Steueränderungsgesetz (StÄndG 1991) als eine nunmehr gewiß gewordene Tatsache anzusehen, die dem Kläger nachträglich bekanntgeworden sei. An dem nachträglichen Bekanntwerden der Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge und der Neuregelung durch das StÄndG 1991 treffe den Kläger auch kein grobes Verschulden. Der Kläger habe nicht grob schuldhaft gehandelt, indem er auf die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen gesetzlichen Regelung der Kinderfreibeträge für das Jahr 1985 vertraut habe.

Der Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides für 1985 stehe § 79 Abs.2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) nicht entgegen. Die Frage, ob ein bestandskräftiger Bescheid bei einer rückwirkenden Verfassungswidrigkeitserklärung einer gesetzlichen Regelung noch geändert werden könne, richte sich nicht nach § 79 Abs.2 BVerfGG,sondern allein nach dem für den Bescheid maßgeblichen Verfahrensrecht.

Hiergegen wendet sich das FA mit der vom FG zugelassenen Revision. Das FA rügt die Verletzung des § 54 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977.

Das FA macht geltend, eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr könne schon deswegen nicht erfolgen, weil der durch das StÄndG 1991 eingefügte § 54 EStG abschließend regele, daß erhöhte Kinderfreibeträge für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 nur bei noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheiden zu berücksichtigen seien. Eine Änderung von bestandskräftigen Bescheiden sei damit ausgeschlossen. Selbst wenn man aber davon ausgehe, daß § 54 EStG dem § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nicht vorgehe, seien die Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Änderung seines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides für 1985 nicht gegeben. § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 setze voraus, daß eine neue Tatsache nachträglich bekanntgeworden sei. Eine neue Tatsache liege nur dann vor, wenn das FA bei Kenntnis der Tatsache im Zeitpunkt seiner Entscheidung nach damaligen Rechtserkenntnissen die Steuer niedriger festgesetzt hätte. Im Zeitpunkt des Erlasses des Einkommensteuerbescheides 1985 (im Jahre 1986) habe die erst im Jahre 1990 ergangene Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 noch nicht vorgelegen. Das FA habe daher nach damaligen Rechtserkenntnissen die Steuer nicht niedriger festsetzen können, als es in dem bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für 1985 geschehen sei.

Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren beigetreten. Er trägt ergänzend vor, daß § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nur Tatsachen erfasse, die im Zeitpunkt des Erlasses des bestandskräftigen Steuerbescheides schon vorgelegen hätten, aber dem FA nicht bekanntgewesen seien. Nachträglich entstandene Tatsachen fielen dagegen nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung. Im Streitfall sei die Tatsache "Erhöhung der Kinderfreibeträge 1983 bis 1985" mit dem Zeitpunkt der Verkündung des StÄndG 1991 (24. Juni 1991) und damit nach Erlaß des Einkommensteuerbescheides für 1985 eingetreten. Die Neuregelung der Kinderfreibeträge durch das StÄndG 1991 sei auch kein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977. Ein rückwirkendes Ereignis im Sinne dieser Vorschrift müsse den Sachverhalt verändern und dabei derart in die Vergangenheit zurückwirken, daß ein Bedürfnis bestehe, die bestandskräftige Steuerfestsetzung an die Sachverhaltsänderung anzupassen. Eine rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Vorschriften, wie sie im § 54 EStG vorgenommen worden sei, erfülle diese Voraussetzung nicht, weil sie nicht den bestandskräftig geregelten Einzelfall, sondern die rechtlichen Grundlagen eines solchen Steuerverwaltungsaktes umgestalte (Hinweis auf BFH-Urteil vom 9. August 1990 X R 5/88, BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55).

Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, entscheidend für die Anwendung des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 sei, daß es um Tatsächlichkeiten des Kinderunterhalts wie Essen, Trinken, Wohnen, Kleidung, Kulturkonsum usw. gehe. Daß diese Tatsachen typisierend in erhöhtem Umfang zu berücksichtigen seien, hätte vom FA bereits bei Erlaß des Einkommensteuerbescheides 1985 mindestens im Wege der vorläufigen Veranlagung beachtet werden müssen. Das erforderliche Mehr des Kinderunterhalts sei daher als Tatsache schon bei Erlaß des Steuerbescheides vorhanden gewesen und durch die spätere Entscheidung des BVerfG als neue Tatsache rechtlich relevant geworden.

§ 79 Abs.2 BVerfG stehe der Änderung des bestandskräftigen Steuerbescheides nicht entgegen, da diese Bestimmung von der Nichtigkeitserklärung einer gesetzlichen Regelung durch das BVerfG ausgehe. Das BVerfG habe die Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 aber nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar mit der Verfassung erklärt. Die Unvereinbarkeitserklärung sei ein Minus gegenüber der Nichtigkeitserklärung. Dieses Minus habe entweder das BVerfG oder der Gesetzgeber nur durch eine ausdrückliche Berichtigungssperre für bestandskräftige Steuerbescheide beseitigen können. Dies sei aber nicht geschehen. § 54 EStG enthalte keine solche Berichtigungssperre.

Im übrigen regt der Kläger an, das Revisionsverfahren auszusetzen und wegen des Beitritts des BMF die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 122 Abs.2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) einzuholen. Durch den Beitritt des BMF entspreche das Revisionsverfahren nicht mehr den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, des fairen Verfahrens, der absoluten Waffengleichheit, der Sachgemäßheit und dem prozessualen Willkürverbot sowie der Zumutbarkeit. Es sei mit Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG) im Finanzprozeß unvereinbar, daß über § 122 Abs.1 FGO zusätzlich zur Parteistellung des FA Haushaltsinteressen durch den BMF wahrgenommen würden. Wegen dieser Rechtsfrage sei unter dem Aktenzeichen 2 BvR 1258/92 eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG anhängig. Diese Verfassungsbeschwerde sei gegen das Urteil des BFH vom 2. Juni 1992 VII R 35/90 (BFH/NV 1993, 46) eingelegt worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.

1. Entgegen den Auffassungen des FG und des Klägers bietet § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 keine Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung des FA zur Änderung des gegen den Kläger ergangenen bestandskräftigen Steuerbescheids für das Jahr 1985. Diese Bestimmung setzt bezogen auf den Streitfall voraus, daß nach Erlaß des Steuerbescheides Tatsachen bekanntgeworden sind, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Kläger kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen nachträglich bekanntgeworden sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

a) Dabei kann offenbleiben, ob die zu § 165 AO 1977 ergangene Entscheidung des erkennenden Senats in BFHE 166, 1, BStBl II 1992, 219 dazu zwingt, die aufgrund der Entscheidung des BVerfG in BStBl II 1990, 664 erforderlich gewordene gesetzliche Neuregelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 als eine Tatsache i.S. des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 anzusehen. Ferner kann dahinstehen, ob bei Bejahung dieser Frage nur die gesetzliche Neuregelung als Tatsache gelten könnte oder ob daneben auch die vorausgegangene Entscheidung des BVerfG oder --wie der Kläger meint-- noch davor das bei Erlaß des Steuerbescheides (schwebende) verfassungsrechtliche Erfordernis der Berücksichtigung eines höheren Kinderunterhalts als Tatsachen in diesem Sinne in Betracht kommen könnten.

Denn unabhängig davon und unabhängig von der weiteren Frage, ob die etwaige Tatsache nachträglich entstanden wäre und § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 darauf angewendet werden könnte, führen all diese möglicherweise als Tatsachen in Betracht kommenden Umstände jedenfalls nicht zu einer niedrigeren Steuer, wie es diese Bestimmung voraussetzt. Selbst wenn dem FA bei Erlaß des Einkommensteuerbescheides für 1985 die Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge bewußt gewesen wäre, hätte es die geltende gesetzliche Regelung weiter anwenden müssen. Denn die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann nur durch das BVerfG festgestellt werden (Art.100 Abs.1 GG). Auch die Vorläufigkeitserklärung des Steuerbescheids, die nach Auffassung des Klägers erforderlich gewesen wäre, hätte für sich allein keine niedrigere Steuerfestsetzung bewirken können. Diese Wirkung hätte zwar unter Umständen die Entscheidung des BVerfG haben können. Sie hat sie aber nicht gehabt, weil das BVerfG die Regelung der Kinderfreibeträge in den Jahren 1983 bis 1985 nur für unvereinbar mit dem GG erklärt und eine Neuregelung durch den Gesetzgeber verlangt hat. Ob sich im Streitfall wegen der Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge eine niedrigere Steuer ergab, hing in dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmen also von der Entscheidung des Gesetzgebers ab.

b) Der Gesetzgeber hat in dem durch das StÄndG 1991 eingefügten § 54 EStG die Berücksichtigung höherer Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 ausdrücklich auf die noch nicht bestandskräftigen Steuerbescheide beschränkt. Für eine Auslegung, daß § 54 EStG auch die Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide zulasse, ist angesichts des klaren Wortlauts der Bestimmung kein Raum. Da im Streitfall der Einkommensteuerbescheid für 1985 bestandskräftig ist, führt § 54 EStG hier nicht zu einer niedrigeren Steuer. Die aufgrund der Entscheidung des BVerfG erfolgte Neuregelung der Kinderfreibeträge für 1983 bis 1985 kann folglich die Anwendung des § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nicht begründen.

2. Aus ähnlichen Erwägungen scheidet auch die Anwendung des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 aus. Nach dieser Bestimmung ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, daß steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).

a) In diesem Zusammenhang kann der Senat wiederum offenlassen, ob eine rückwirkende gesetzliche Neuregelung ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 sein kann. Der X.Senat des BFH hat diese Frage in BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55 verneint.

b) Selbst wenn der erkennende Senat dieser Auffassung des X.Senat des BFH bei einer wegen Verfassungswidrigkeit einer Norm zwingend erforderlichen rückwirkenden Neuregelung nicht folgen würde, lägen jedenfalls die weiteren Voraussetzungen des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nicht vor. Diese Bestimmung fordert nämlich, daß das rückwirkende Ereignis steuerliche Wirkung auf den betreffenden Steuerfall hat. Die rückwirkende Neuregelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 durch § 54 EStG müßte also auch für den Streitfall gelten. Das ist jedoch, wie oben dargelegt worden ist, nicht der Fall.

3. Die Rechtslage wird im Streitfall nach alldem entscheidend durch § 54 EStG bestimmt. Diese Regelung stützt sich zu Recht auf § 79 Abs.2 BVerfGG i.V.m. § 82 Abs.1 BVerfGG. Der erkennende Senat teilt nicht die Auffassung des Klägers, daß § 79 Abs.2 BVerfGG nur für Fälle gelte, in denen das BVerfG ein Gesetz für nichtig erklärt habe, dagegen keine Anwendung finde, wenn das BVerfG nur eine Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem GG ausgesprochen habe. Das BVerfG hat wiederholt entschieden, daß § 79 Abs.2 BVerfGG analog anzuwenden ist, wenn ein Gesetz nicht für nichtig, sondern für unvereinbar mit dem GG erklärt wird (Entscheidungen des BVerfG vom 21. Mai 1974 1 BvL 22/71 und 21/72, BVerfGE 37, 217, 262, und vom 22. März 1990 2 BvL 1/86, BVerfGE 81, 363, 384). Es ist auch nicht einzusehen, warum die Beschränkbarkeit der Auswirkungen einer Entscheidung des BVerfG auf nicht bestandskräftige Verwaltungsakte bei der Nichtigerklärung von Gesetzen gelten soll, bei der weniger einschneidenden Unvereinbarkeitserklärung aber nicht.

Die analoge Anwendung des § 79 Abs.2 BVerfGG auf gesetzliche Regelungen, die vom BVerfG für unvereinbar mit dem GG erklärt worden sind, bedeutet, daß der Gesetzgeber die erforderliche gesetzliche Neuregelung auf noch nicht bestandskräftig entschiedene Fälle beschränken kann. Das hat der Gesetzgeber in § 54 EStG für die Neuregelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 getan.

4. Die Ungleichbehandlung von noch offenen und bereits bestandskräftig entschiedenen Fällen verstößt nicht gegen das GG, insbesondere nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art.3 Abs.1 GG. Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit des § 79 Abs.2 BVerfGG in einer Reihe von Entscheidungen bestätigt (Entscheidungen des BVerfG vom 12. Dezember 1957 1 BvR 678/57, BVerfGE 7, 194, 195 ff.; vom 7. Juli 1960 2 BvR 435, 440/60, BVerfGE 11, 263, 265; vom 3. November 1965 1 BvR 62/61, BVerfGE 19, 150, 166, und vom 16. Januar 1980 1 BvR 127, 679/78, BVerfGE 53, 115, 130). Zwar befriedigt die Ungleichbehandlung der Steuerpflichtigen durch Regelungen wie in § 54 EStG nicht das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall. Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit im Einzelfall steht aber im Widerstreit zu der rechtsstaatlichen Forderung nach Rechtssicherheit, wozu auch die Rechtsbeständigkeit bestandskräftiger Entscheidungen gehört. Wenn der Gesetzgeber in diesem Widerstreit in § 79 Abs.2 BVerfGG ähnlich wie z.B. bei Verjährungsvorschriften der Rechtssicherheit den Vorzug gegeben hat, so ist dies nicht zu beanstanden.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des BVerfG vom 25. September 1992 2 BvL 5/91, 8/91, 14/91 (BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413). Dort hat das BVerfG ausgeführt, daß bei einer rückwirkenden Neuregelung von allgemeinen einkommensteuerrechtlichen Tatbeständen eine Unterscheidung zwischen rechtsförmlich abgeschlossenen und noch anhängigen Verfahren "schwerlich sachgerecht" sei. Diese Ausführungen beziehen sich aber auf eine rückwirkende Neuregelung, zu der der Gesetzgeber nicht gezwungen ist, sondern die er freiwillig trifft, obwohl das BVerfG nur eine Neuregelung für die Zukunft für erforderlich gehalten hat. In einem solchen Fall mag es nicht gerechtfertigt sein, daß der Gesetzgeber die rückwirkende Neuregelung auf noch nicht bestandskräftig entschiedene Fälle beschränkt, wenn er sich überhaupt zu einer Neuregelung entschließt. Bei der rückwirkenden Neuregelung der Kinderfreibeträge für die Jahre 1983 bis 1985 geht es dagegen um eine rückwirkende Neuregelung, die der Gesetzgeber treffen mußte. Diese Verpflichtung ging nach § 79 Abs.2 BVerfGG i.V.m. § 82 Abs.1 BVerfGG nicht über die noch anhängigen Verfahren hinaus.

5. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Sein Urteil war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6. Der Senat sieht sich an dieser Entscheidung nicht durch die vom Kläger gegen § 122 Abs.2 Satz 1 FGO geltend gemachten Bedenken gehindert.

a) Obwohl der Kläger auf eine wegen dieser Frage beim BVerfG anhängige Verfassungsbeschwerde hinweist, ist eine Aussetzung des Revisionsverfahrens nach der Rechtsprechung des BFH (s. u.a. Entscheidung des erkennenden Senats vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde nicht geboten. Nach dieser Rechtsprechung kann eine Aussetzung u.a. geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtlos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist.

Der Senat kann nicht beurteilen, ob es sich bei der vom Kläger genannten Verfassungsbeschwerde um ein geeignetes Musterverfahren gegen die Gültigkeit des § 122 Abs.2 Satz 2 FGO handelt. Unter den im Streitfall gegebenen Umständen sieht der Senat eine Verfassungsbeschwerde jedenfalls als offensichtlich aussichtslos an.

Der VII.Senat des BFH hat in dem Urteil in BFH/NV 1993, 46, das nach dem Vortrag des Klägers mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen worden ist, eingehend dargelegt, daß das in § 122 Abs.2 FGO geregelte Beitrittsrecht des BMF weder die Grundrechte des jeweiligen Klägers noch die Rechtsweggarantie des Art.19 Abs.4 GG verletzt. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung des VII.Senats des BFH an.

Wie der VII.Senat des BFH ausgeführt hat, wird durch das Beitrittsrecht dem vom BMF in besonderem Maße zu vertretenden allgemeinen Interesse am Ausgang des Verfahrens Rechnung getragen. Streitfälle im Steuerrecht haben häufig eine weit über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Entgegen der Auffassung des Klägers erschöpft sich diese Bedeutung nicht in Haushaltsinteressen, sondern es kann z.B. auch um Fragen der Steuerstruktur, der Praktikabilität usw. gehen. Im übrigen steht es mit den Wertungen des GG im Einklang, wenn dem BMF bei Steuerfällen im Hinblick auf die Haushaltsinteressen eine besondere Stellung eingeräumt wird. Nach Art.108 Abs.3 GG hat der BMF bei von den Landesfinanzbehörden verwalteten Steuern, die ganz oder zum Teil dem Bund zufließen, ein Weisungsrecht gegenüber den Finanzbehörden der Länder.

Die Einkommensteuer, um die es im Streitfall geht, ist eine Steuer, die zum Teil dem Bund zufließt (Art.106 Abs.3 GG). Der BMF hätte folglich im Streitfall über sein Weisungsrecht die Schriftsätze des FA an den BFH bis ins einzelne gehend beeinflussen können. Unter diesen Umständen ist es für den Senat nicht einsichtig, daß Rechte des Klägers verletzt sein könnten, wenn der BMF wegen des durch § 122 Abs.2 FGO ermöglichten Beitritts zum Verfahren seine Stellungnahme unmittelbar gegenüber dem BFH abgegeben hat. Mehr als eine schriftliche Stellungnahme des BMF ist im Streitfall nicht erfolgt, da die Beteiligten übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65034

BFH/NV 1994, 41

BStBl II 1994, 389

BFHE 173, 383

BFHE 1994, 383

BB 1994, 710

BB 1994, 710-712 (LT)

DB 1994, 860-862 (LT)

DStR 1994, 654-655 (KT)

DStZ 1994, 412-413 (KT)

HFR 1994, 382-383 (LT)

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