Leitsatz (amtlich)

Der Wohnungsbegriff erfordert auch nach Beseitigung der durch die Kriegsverhältnisse gekennzeichneten Wohnungsnot nicht, daß die zu einer Wohnung zusammengefaßten Räume von fremden Wohnungen oder Wohnräumen baulich abgeschlossen sind und einen abschließbaren Zugang vom Freien, von einem Treppenhaus oder von einem Vorraum haben.

 

Normenkette

BewG i.d.F. vor dem BewG 1965 § 52; BewDV i.d.F. vor dem BewG 1965 § 32 Abs. 1 Nr. 4

 

Tatbestand

Die Kläger sind als Miterben Eigentümer eines Grundstücks, auf dem 1922 ein Einfamilienhaus errichtet wurde. Das Grundstück wurde bei der Hauptfeststellung 1935 auch als Einfamilienhaus bewertet. Bei dem auf dem Grundstück befindlichen Bauwerk handelt es sich um ein zweigeschossiges Gebäude, das bis 1959 ausschließlich von der Familie der Kläger bewohnt wurde. Seit dieser Zeit ist das Erdgeschoß an eine Familie vermietet, während das Obergeschoß von der Klägerin zu 1. bewohnt wird. Das vermietete Erdgeschoß besteht aus drei Räumen von zusammen 76 qm Wohnfläche, einer Küche, einer Kammer, einer Toilette und einem Eingangs- und Dielenraum. In einem Kellerraum von 16 qm Größe haben sich die Mieter des Erdgeschosses - wie das FG durch Ergänzung des Tatbestandes feststellte - 1964 ein Bad einrichten lassen. Die Erdgeschoßwohnung kann von außen über den Haupteingang durch die Diele und außerdem durch einen Nebeneingang über einen Zwischenflur betreten werden. Die Klägerin zu 1. bewohnt im Obergeschoß drei Wohnräume mit einer Fläche von zusammen 73 qm und einen nachträglich als Küche eingerichteten Raum. Zu ihrer Wohnung gehören außerdem ein Badezimmer und eine Toilette sowie eine Diele. Das Obergeschoß ist über die Haupttreppe zu erreichen, die in der Diele des Erdgeschosses beginnt. Die Räume im Obergeschoß sind von der Treppe nicht durch eine Wohnungstür getrennt.

Das FA (Beklagter) hat von der seit 1959 geänderten Nutzung des Grundstücks durch die Erklärung zur Hauptfeststellung 1964 für die Einheitsbewertung des Grundbesitzes erfahren. Es führte nach weiteren Ermittlungen zum 1. Januar 1967 eine Artfortschreibung zum Mietwohngrundstück und zugleich eine Fortschreibungsveranlagung des Grundsteuermeßbetrags durch.

Der Einspruch gegen diese Bescheide war erfolglos. Die Klage wurde abgewiesen.

Die Revision rügt, das FG sei seiner Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen nicht hinreichend nachgekommen. Es hätte das Haus in Augenschein nehmen oder einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragen müssen. Insbesondere hätte sich das Gericht nicht mit der von den Klägern vorgelegten Planzeichnung des Kellergeschosses und des Erdgeschosses begnügen dürfen, sondern es hätte auch eine Zeichnung des Obergeschosses anfordern müssen. Daraus hätte sich ergeben, daß nicht nur die Wohnung im Obergeschoß vom Treppenhaus nicht getrennt sei, sondern daß man nicht weniger als fünf Türen abschließen müsse, um Dritte am Betreten der sogenannten Wohnung zu hindern. Außerdem rügt die Revision, daß der ergänzte Tatbestand die Entscheidungsgründe nicht mehr decke, denn man könne jetzt nicht mehr davon ausgehen, daß die Wohnung im Erdgeschoß aus der Sicht des maßgebenden Feststellungszeitpunkts schon acht Jahre bestanden habe, sondern erst drei Jahre, und zwar von dem Zeitpunkt an, in dem die Mieter des Erdgeschosses sich das Bad im Keller hätten einrichten lassen. Daraus ergebe sich, daß die vermietete Wohnung am 1. Januar 1967 nicht von dauerndem Bestand gewesen sei.

Die Revision rügt weiter, daß § 32 Abs. 1 Nr. 4 der Durchführungsverordnung zum Bewertungsgesetz in der Fassung vor dem Bewertungsgesetz 1965 - im folgenden BewDV - unrichtig angewendet worden sei. Mit Rücksicht auf die außerordentliche Wohnungsnot der Jahre 1945 bis 1960 hätte man die Erfordernisse für die Annahme einer Wohnung herabgesetzt. Es sei nunmehr an der Zeit, wieder zu normalen Maßstäben zurückzukehren. Der Lebensstandard der breiten Masse der Bevölkerung sei noch nie so hoch gewesen wie heute. Das wirke sich auch auf die Ansprüche an Wohnungen aus. Die in dem angefochtenen Urteil dargestellten negativen Momente der beiden sogenannten Wohnungen seien so schwerwiegend, daß nicht von zwei Wohnungen nach heutiger Auffassung gesprochen werden könne. Es habe auch nie die Absicht bestanden, das Einfamilienhaus in ein Zweifamilienhaus umzugestalten, sondern es habe für die Kläger der Sitz der Familie sein sollen.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung und den angefochtenen Einheitswertbescheid und Grundsteuerbescheid aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision ist unbegründet.

1. Als Einfamilienhaus sind bewertungsrechtlich solche Wohngrundstücke zu behandeln, die nach ihrer baulichen Gestaltung nicht mehr als eine Wohnung enthalten. Allerdings wird die Art als Einfamilienhaus nicht dadurch beeinträchtigt, daß durch die Abtrennung von Räumen eine oder mehrere weitere Wohnungen geschaffen werden, mit deren dauerndem Bestand nicht gerechnet werden kann (§ 32 Abs. 1 Nr. 4 BewDV).

a) Für die Beantwortung der Frage, ob ein Wohngebäude nur eine Wohnung oder mehrere Wohnungen enthält, ist nicht die architektonische Zielsetzung bei der Erbauung des Gebäudes entscheidend, sondern die bauliche Gestaltung, wie sie sich am maßgeblichen Feststellungszeitpunkt darstellt. Auszugehen ist nicht von dem äußeren Erscheinungsbild des Gebäudes, sondern von der baulichen Gestaltung im Inneren, weil nur sie eine Beurteilung über die Zahl der vorhandenen Wohnungen zuläßt (vgl. Entscheidung des BFH III 323/61 vom 19. Juni 1964, HFR 1965, 152).

b) Das Gesetz enthält keine Legaldefinition des Wohnungsbegriffs im Sinne des § 32 Abs. 1 Nr. 4 BewDV. Den Klägern ist darin zuzustimmen, daß dieser Begriff entsprechend der Veränderung der Wohngepflogenheiten einem gewissen Wandel unterworfen ist, wobei die örtlichen Verhältnisse (insbesondere ländliche oder städtische Verhältnisse) zu einer unterschiedlichen Beurteilung führen können. Bei der Entscheidung, was als Wohnung im Sinne des Bewertungsrechts anzusehen ist, muß jedenfalls die Verkehrsanschauung berücksichtigt werden (§ 1 Abs. 2 StAnpG). Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, ist die bei der Anwendung und Auslegung des § 32 BewDV zu berücksichtigende Verkehrsanschauung jedoch nicht von den allenfalls beteiligten Wirtschaftskreisen (z. B. Makler oder Architekten) abzuleiten, weil sie nicht Verhältnisse betrifft, die durch den Geschäftsverkehr bestimmter Wirtschaftskreise geprägt wurden. Es handelt sich vielmehr um die gerichtsbekannte Auffassung breiter Bevölkerungskreise, die einer besonderen Feststellung durch den Tatrichter nicht bedarf (vgl. BFH-Entscheidung III R 65/68 vom 27. Mai 1970, BFH 99, 493, BStBl II 1970, 678). Aus diesem Grund greift die Verfahrensrüge der Kläger nicht durch, das FG hätte sich für die Anwendung des Wohnungsbegriffs eines Sachverständigen bedienen müssen. Das Gericht konnte vielmehr auf Grund des in den Urteilsgründen wiedergegebenen Sachverhalts seine Entscheidung nach eigener Kenntnis treffen.

Die Kläger haben allerdings auch gerügt, das FG habe die Verpflichtung verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen ausreichend zu erforschen. Der Senat vermag den Klägern nicht darin zuzustimmen, daß das FG eine Ortsbesichtigung hätte durchführen müssen oder wenigstens über die vorgelegten Planskizzen des Kellergeschosses und des Erdgeschosses hinaus auch noch eine maßstabgerechte Zeichnung des Obergeschosses hätte anfertigen lassen müssen. Insbesondere läßt diese Rüge nicht erkennen, zu welchen entscheidungserheblichen tatsächlichen Feststellungen das FG über das unbestrittene Vorbringen der Beteiligten hinaus hätte kommen sollen.

Daß die Wohnung im Obergeschoß keine Abschlußtür zum Treppenhaus hat, ist unstreitig. Das FG hat auch festgestellt, daß sie insgesamt fünf Räume hat. Der Senat ist deshalb der Auffassung, daß die Vorinstanz ohne Rechtsfehler nach ihrer Überzeugung auf Grund des Gesamtergebnisses des Verfahrens, insbesondere der mündlichen Verhandlung, die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, um über die von den Beteiligten beantragten Rechtsfolgen entscheiden zu können.

2. Der Senat hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß unabhängig von den besonderen Wohnverhältnissen in der Nachkriegszeit unter einer Wohnung die Zusammenfassung einer Mehrheit von Räumen zu verstehen sei, die in ihrer Gesamtheit so beschaffen sein müsse, daß sie die Führung eines selbständigen Haushalts ermögliche. Die Einheit, zu der die Räume zusammengefaßt seien, müsse sich insbesondere aus der Lage der Räume zueinander und aus ihrer wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit ergeben. Ferner gehöre es zum Begriff der Wohnung, daß sie gegen andere Wohnungen und Wohnräume abgeschlossen sei und einen selbständigen Zugang habe (vgl. BFH-Entscheidung III 158/55 S vom 16. Dezember 1955, BFH 62, 126, BStBl III 1956, 47, und BFH-Entscheidung III 244/57 U vom 26. September 1958, BFH 68, 410, BStBl III 1959, 157). Der Senat hat jedoch auch ausgesprochen, daß dieser dem Idealfall entsprechende Wohnungsbegriff unter Berücksichtigung der tatsächlich bestehenden Wohnverhältnisse angewendet werden müsse. Aus diesem Grund hatte er in der Vergangenheit für das Vorliegen einer Wohnung insbesondere nicht gefordert, daß die Gesamtheit der Räume, die die Führung eines selbständigen Haushalts ermöglicht, baulich von anderen Wohnungen oder Wohnräumen abgeschlossen sein und einen selbständig abschließbaren Zugang haben müsse (vgl. BFH-Entscheidung III 244/57 U, a. a. O.). Dies wurde in der früheren Rechtsprechung vor allem mit den Wohnverhältnissen der Nachkriegszeit begründet.

Der Senat stimmt den Klägern darin zu, daß die Nachkriegsverhältnisse an dem für die Entscheidung maßgebenden Feststellungszeitpunkt 1. Januar 1967 grundsätzlich als überwunden angesehen werden können. Es ist auch richtig, daß sich im Wohnungsbau, insbesondere in der Gestaltung und Ausstattung von Neubauwohnungen, der zunehmende allgemeine Wohlstand widerspiegelt. Für die Entscheidung, welche Anforderungen nach der Verkehrsauffassung am 1. Januar 1967 an den Wohnungsbegriff zu stellen sind, darf indessen nicht nur auf die Wohnungsbauten aus dieser Zeit abgestellt werden. Es muß vielmehr berücksichtigt werden, daß nach dem Ergebnis der Gebäude- und Wohnungszählung 1968 noch 49 v. H. des gesamten Wohnungsbestandes aus der Zeit vor 1948 stammen und sogar 32 v. H. aus der Zeit vor 1919 (siehe Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1970 S. 240). Von den 51 v. H. Wohnungen, die ab 1949 gebaut worden sind, fällt auch noch ein Teil in die Zeit, in der zur Beseitigung der größten Wohnungsnot Einfachwohnungen gebaut worden sind. Hinzu kommt, daß die Wohnungsnot in den Ballungsgebieten des Wohnungsbedarfs auch heute noch nicht als beseitigt angesehen werden kann. Bei Berücksichtigung dieser Tatsachen ist der Senat der Auffassung, daß gegenwärtig noch keinesfalls Verhältnisse am Wohnungsmarkt bestehen, die es rechtfertigen könnten, für den Wohnungsbegriff im Sinne des § 32 BewDV zu fordern, daß die zu einer Einheit zusammengefaßten Räume einheitlich gegen eine andere Wohnung oder andere Wohnräume abgeschlossen sein müßten. Es muß vielmehr genügen, daß sich die Zusammenfassung der Räume zu einer Einheit aus ihrer Lage zueinander, aus ihrer Zweckbestimmung und aus der dieser Zweckbestimmung entsprechenden tatsächlichen Nutzung ergibt.

Der Senat sieht sich in dieser Auffassung insbesondere durch das II. WoBauG in der Fassung vom 1. September 1965 (BGBl I 1965, 1618) bestätigt. Dieses Gesetz, das in besonderem Maße die Förderung des Baues von Wohnungen bezweckt, die die Entfaltung eines gesunden Familienlebens gewährleisten (§ 1 Abs. 2 des II. WoBauG), geht davon aus, daß in Eigenheimen sowohl abgeschlossene als auch nicht abgeschlossene Wohnungen bestehen und entstehen können (vgl. § 11 des II. WoBauG). In dieser Auffassung des Gesetzgebers sieht der Senat einen besonders sinnfälligen Ausdruck der Verkehrsanschauung, wie sie zur Zeit des hier maßgebenden Feststellungszeitpunkts bestand und auch heute noch besteht. Insoweit decken sich auch die Fachnormen des Deutschen Normenausschusses mit der für die Anwendung des § 32 BewDV maßgebenden Verkehrsanschauung. Die DIN 283 (Hochbaukosten und umbauter Raum, 10. Aufl., Berlin 1960, S. 23) unterscheidet nämlich in ihren Abschnitten 1.11 und 1.12 zwischen abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Wohnungen. Abgeschlossene Wohnungen sind solche, die baulich vollkommen von fremden Wohnungen und Räumen abgeschlossen sind und einen abschließbaren Zugang unmittelbar vom Freien, von einem Treppenhaus oder von einem Vorraum haben. Nicht abgeschlossene Wohnungen erfüllen diese Voraussetzungen nicht, werden aber trotzdem als Wohnungen behandelt.

3. Die Wohnung der Klägerin zu 1. ist dadurch hinreichend als Einheit konkretisiert und räumlich von der Wohnung des Erdgeschosses abgetrennt, daß sich die von ihr bewohnten Räume sämtlich im Obergeschoß befinden. Die Räume sind nach den insoweit unangefochtenen Feststellungen des FG auch geeignet, in ihnen einen selbständigen Haushalt zu führen, denn es sind neben Wohnund Schlafräumen eine Küche, eine Toilette und ein Bad vorhanden. Die Tatsache, daß die Wohnung der Klägerin zu 1. gegenüber der im Erdgeschoß liegenden vermieteten Wohnung nicht durch eine besondere Tür abgeschlossen werden kann und nur über die zur Erdgeschoßwohnung gehörende Diele zu erreichen ist, beeinträchtigt zwar ihren Wert, aber nicht ihren Charakter als Wohnung.

Die Wohnung der Mieter des Erdgeschosses ist ebenfalls durch die Lage der Räume, durch ihre Zweckbestimmung und durch ihre tatsächliche Nutzung in ihrer wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit abgegrenzt. Die Ausstattung der einzelnen Räume ermöglicht es, einen selbständigen Haushalt zu führen. Küche und Toilette sind vorhanden. Außerdem benutzen die Mieter des Erdgeschosses ausschließlich das im Keller eingerichtete Bad. Dieses Bad wäre allerdings nicht erforderlich, um die Gesamtheit der Räume im Erdgeschoß als Wohnung zu qualifizieren; denn nach den Verhältnissen des Feststellungszeitpunkts 1967 kann auf Grund der Verkehrsanschauung nicht davon ausgegangen werden, daß eine Gesamtheit von Räumen nur dann als Wohnung anzusehen wäre, wenn zu ihr ein Bad gehört. Damit ist auch der Einwand der Kläger widerlegt, zum 1. Januar 1967 sei nicht dargetan, daß die zweite Wohnung von dauerndem Bestand sei. Das FG hat unwidersprochen festgestellt, daß das Erdgeschoß des Wohngebäudes der Kläger seit mehr als acht Jahren von einer fremden Familie als Mieter bewohnt werde. Von dieser Feststellung ausgehend hat es zutreffend angenommen, daß von einer am maßgebenden Feststellungszeitpunkt schon acht Jahre bestehenden Wohnung nicht behauptet werden könne, sie sei nicht von dauerndem Bestand. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür und die Kläger haben auch keine dahingehenden Tatsachen vorgetragen, daß eine der beiden Wohnungen vom Feststellungszeitpunkt 1. Januar 1967 aus gesehen in absehbarer Zeit aufgelöst werden würde. Im übrigen spricht die Einrichtung des zweiten Bades im Jahre 1964 durch die Mieter der Erdgeschoßwohnung mehr dafür als dagegen, daß die Räume im Erdgeschoß nicht nur vorübergehend als selbständige Wohnung genutzt werden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 69366

BStBl II 1971, 230

BFHE 1971, 266

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