Entscheidungsstichwort (Thema)

Würdigung eines Schreibens als Klage

 

Leitsatz (NV)

Prozeßerklärungen sind so auszulegen, daß im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht.

 

Normenkette

FGO § 64 Abs. 1, § 47 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

Bei der Veranlagung des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) zur Einkommensteuer 1990 berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wegen mangelnden Nachweises nicht in voller Höhe. Der Einspruch des Klägers blieb im wesentlichen ohne Erfolg. Die Einspruchsentscheidung des FA wurde dem Kläger am 4. November 1992 zugestellt. Am 20. November 1992 ging bei dem FA ein Schreiben des Klägers mit folgendem Wortlaut ein:

"Hiermit lege ich Widerspruch gegen den Einspruchsbescheid vom 28. 10. 1992 ein. Eine ausführliche Begründung folgt demnächst. Außerdem teile ich hiermit mit, daß Herr S. nicht mehr mein Steuerbevollmächtigter ist. Bitte senden Sie zukünftig die Korrespondenz direkt an mich."

Nachdem ihn das FA um Mitteilung ersucht hatte, ob dieses Schreiben eine Klage darstellen sollte, nahm der Kläger in einem Schreiben vom 26. Dezember 1992 zu dem in der Einspruchsentscheidung dargestellten Sachverhalt Stellung und führte zusätzlich aus:

" ... Bitte überprüfen Sie daraufhin nochmal die Unterlagen. Falls dies nicht möglich ist, soll der Widerspruch gegen den Einspruchsbescheid ... als Klage gelten."

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Es entschied, das Schreiben des Klägers vom 20. November 1992 könne nicht als Klage ausgelegt werden, da es nicht erkennen lasse, daß die gerichtliche Nachprüfung eines Verwaltungsakts begehrt werde. Das zweite Schreiben des Klägers vom 26. Dezember 1992 sei erst nach Ablauf der Klagefrist eingegangen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1994, 573 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Abweichung der Vorentscheidung von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH). Er trägt vor, nachdem er im vorausgegangenen behördlichen Einspruchsverfahren einen Rechtsbehelf eingelegt und begründet hatte, habe es keine andere Möglichkeit gegeben, als daß er mit dem weiteren Rechtsmittelschreiben nunmehr eine Überprüfung des Bescheids des FA auf dem dafür vorgesehenen Rechtsweg gewollt habe.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das FG hat zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen, da der Kläger mit seinem Schreiben vom 20. November 1992 fristgemäß die Klage beim FA angebracht hatte.

Eine Klage ist gemäß § 64 Abs. 1 FGO schriftlich bei dem Gericht zu erheben. Es genügt jedoch, wenn die Klage innerhalb der Frist des § 47 Abs. 1 FGO bei der Behörde angebracht wird, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 47 Abs. 2 Satz 1 FGO). Inhaltlich liegt eine Klageerhebung nur vor, wenn um gerichtlichen Rechtsschutz in Form eines Urteils nachgesucht wird (BFH-Urteil vom 28. Juni 1989 I R 67/85, BFHE 157, 305, BStBl II 1989, 848); dieses Begehren muß sich aus der Rechtsbehelfsschrift selbst ergeben (vgl. z. B. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 65 FGO Tz. 1b).

Als Prozeßhandlung ist das Anbringen eines Rechtsbehelfs in gleicher Weise wie bürgerlich-rechtliche Willenserklärungen der Auslegung zugänglich, wobei nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern der in der Erklärung ver körperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln ist; auf die korrekte Bezeichnung des Rechtsbehelfs kommt es daher nicht an. Darüber hinaus ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung grundsätzlich davon auszugehen, daß der Steuerpflichtige den Rechtsbehelf einlegen wollte, der seinen Belangen entspricht und zu dem von ihm angestrebten Erfolg führen kann (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 18. Dezember 1985 I R 30/85, BFH/NV 1986, 675, m. w. N.). Prozeßerklärungen sind so auszulegen, daß im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maß stäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 18. Juni 1996 VI ZR 325/95, NJW- Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 1996, 1210).

Nach diesen Grundsätzen ist das Schreiben des Klägers vom 20. November 1992, auch wenn es an das FA gerichtet und als Widerspruch bezeichnet ist, als Klage zu werten. Denn dem Schriftsatz ist eindeutig zu entnehmen, daß der Kläger, der nun nicht mehr durch einen Steuerberater oder Rechtsanwalt vertreten war, sich mit dem Ersuchen um rechtliche Überprüfung gegen die Einspruchsentscheidung wendet. In dieser Situation entspricht es seinem wohlverstandenen Interesse, nicht nur einen Antrag auf sog. schlichte Änderung beim FA zu stellen (§ 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a, Satz 2 der Abgabenordnung -- AO 1977 --), sondern eine Nachprüfung durch das Gericht im Rahmen eines Klageverfahrens herbeizuführen. Daß der Kläger das Gericht nicht ausdrücklich erwähnt hat, ist dabei ohne Belang. Auch auf die Frage, ob das -- vom FG als Klage beurteilte -- Schreiben vom 26. Dezember 1992 eine für die Klageerhebung schädliche Bedingung enthält und ob wegen Versäumnis der Klagefrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu prüfen ist, kommt es nicht an.

Die Vorentscheidung, die von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war daher aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang materiell über die von dem Kläger erhobene Klage zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421901

BFH/NV 1997, 363

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