Leitsatz (amtlich)

Die Änderung eines Artfeststellungsbescheides nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 aufgrund nachträglich bekanntgewordener Tatsachen ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß dem FA bei der ursprünglichen Feststellung ein Rechtsfehler unterlaufen ist, wenn die nachträglich bekanntgewordene Tatsache ungeachtet des unterlaufenen Rechtsfehlers bedeutsam ist.

 

Orientierungssatz

NV: Auf eine die Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ausschließende Verletzung der dem FA obliegenden Ermittlungspflicht kann sich nur derjenige Steuerpflichtige berufen, der seiner Mitwirkungspflicht voll nachgekommen ist, insbesondere seine Erklärungspflicht vollständig und wahrheitsgemäß erfüllt hat (vgl. BFH-Urteil vom 13.11.1985 II R 208/82).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1, § 181 Abs. 1 S. 1; BewG 1974 § 75 Abs. 5-6

 

Verfahrensgang

FG München (Entscheidung vom 05.12.1985; Aktenzeichen IV 96/85)

 

Tatbestand

Die Kläger haben auf dem ihnen zu gleichen Teilen gehörenden Wohngrundstück, einem Reihenhausgrundstück, im Jahre 1979 das Dachgeschoß ausgebaut. Zur baulichen Gestaltung hat das Finanzgericht (FG) festgestellt: Im Erdgeschoß gelangt man hinter dem Windfang in eine Diele, von der aus über eine offene Treppe das Ober- und das Dachgeschoß erreichbar sind. Im Obergeschoß führen von diesem Treppenhaus aus vier Türen in Schlaf- und Sanitärräume. Im Dachgeschoß mündet die Treppe auf einen Vorplatz, von dem aus eine Tür in ein WC und eine weitere Tür in einen ca. 16 qm großen Raum führt, der im Bauplan die Bezeichnung "Hobby u. Gäste" trägt.

In der Erklärung zur Feststellung des Einheitswerts auf den 1.Januar 1980 haben die Kläger angegeben, daß das eigengenutzte Dachgeschoß eine Gesamtfläche von 20 qm aufweise, die sich auf einen Wohn- und Schlafraum, eine Küche und einen Bad- oder Duschraum verteile.

Das Finanzamt (FA) sah das ausgebaute Dachgeschoß als selbständige Wohnung an und stellte durch Bescheid vom 17.März 1980 auf den 1.Januar 1980 die Grundstücksart Zweifamilienhaus und den Einheitswert auf 43 800 DM fest.

Im Jahre 1984 wurde die Bewertungsstelle des FA von der Rechtsbehelfsstelle in Kenntnis davon gesetzt, daß die im Dachgeschoß ausgebauten Räume von insgesamt 20 qm seit 1.Januar 1980 zu 16 qm beruflichen Zwecken des Klägers dienten. Mit auf § 173 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestütztem Änderungsbescheid vom 14.Dezember 1984 hat das FA auf den 1.Januar 1980 die Grundstücksart Einfamilienhaus und den Einheitswert auf 48 900 DM festgestellt. Während es auf den Einspruch der Kläger die Änderung der Wertfeststellung mit Bescheid vom 12.März 1985 zurücknahm, hat es den gegen die geänderte Artfeststellung gerichteten Einspruch als unbegründet zurückgewiesen.

Das FG hat die auf Aufhebung der geänderten Artfeststellung gerichtete Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Seine Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1986, 545 veröffentlicht.

Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Das finanzgerichtliche Urteil ist aufzuheben, weil das FG ohne nähere Prüfung die Zulässigkeit der Änderung der auf den 1.Januar 1980 zunächst getroffenen Artfeststellung bejaht hat.

Nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 sind Steuerbescheide und damit auch Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (§ 181 Abs.1 Satz 1 AO 1977) zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer höheren Steuer führen. Diese Änderungsbefugnis betrifft auch die bei einer Einheitswertfeststellung getroffene Artfeststellung (vgl. Senatsurteil vom 16.September 1987 II R 178/85, BFHE 151, 8, BStBl II 1988, 174).

§ 173 AO 1977 setzt für die Zulässigkeit der Änderung voraus, daß die Unkenntnis von Tatsachen für die ursprüngliche Feststellung ursächlich gewesen sein muß, daß also die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen bei Kenntnis der nachträglich bekanntgewordenen Tatsache im Zeitpunkt des Ergehens des ursprünglichen Verwaltungsakts anders als geschehen vorgenommen worden wäre. Die Rechtserheblichkeit einer nachträglich bekanntgewordenen Tatsache ist somit dann zu verneinen, wenn das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache schon bei der ursprünglichen Feststellung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Entscheidung gekommen wäre (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6.November 1973 VIII R 12/71, BFHE 110, 552, 555, BStBl II 1974, 67). Dabei ist davon auszugehen, daß das FA bei Kenntnis der Tatsache die dem Sachverhalt entsprechende (zutreffende) Entscheidung getroffen hätte (vgl. BFH-Urteil vom 13.April 1972 IV R 27/70, BFHE 105, 445, BStBl II 1972, 648). Diese von der Rechtsprechung zu § 222 Abs.1 Nr.1 der Reichsabgabenordnung (AO) entwickelten Grundsätze gelten auch für § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977. Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde, und der die Finanzämter (FÄ) bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Bescheids gegolten haben (vgl. den Beschluß des Großen Senats des BFH vom 23.November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, 501, BStBl II 1988, 180 unter II 2.b).

Im Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Artfortschreibungsbescheids vom 17.März 1980 war nach der Rechtsprechung des BFH und den einschlägigen Erlassen der obersten Finanzbehörden der Länder bewertungsrechtlich die Annahme zweier Wohnungen und damit der Grundstücksart Zweifamilienhaus (§ 75 Abs.6 des Bewertungsgesetzes --BewG--) auch dann möglich, wenn diese beiden Wohnungen nicht baulich gegeneinander abgeschlossen waren; es genügte vielmehr, daß sich die Zusammenfassung mehrerer Räume zu einer Wohnung aus der Lage dieser Räume zueinander, aus ihrer Zweckbestimmung und der dieser Zweckbestimmung entsprechenden tatsächlichen Nutzung zur Führung eines selbständigen Haushalts ergab (vgl. die Darstellung der Rechtsentwicklung im BFH-Urteil vom 5.Oktober 1984 III R 192/83, BFHE 142, 505, BStBl II 1985, 151, und Gürsching/Stenger, Kommentar zum Bewertungsgesetz und Vermögensteuergesetz, 8.Aufl., § 75 BewG Anm.29 und 51 ff.). Weiter war noch erforderlich, daß die Wohneinheit eine bestimmte Fläche nicht unterschritt. So konnte eine Mehrheit von Räumen jedenfalls dann nicht als Wohnung i.S. des § 75 Abs.5 und 6 BewG angesehen werden, wenn die Gesamtfläche nicht mehr als 23 qm betrug (vgl. BFH-Urteil vom 24.November 1978 III R 81/76, BFHE 126, 565, BStBl II 1979, 255).

Zwar erweist sich die ursprünglich im Bescheid vom 17.März 1980 getroffene Artfeststellung Zweifamilienhaus unter Berücksichtigung der Gesamtfläche der Dachgeschoßräume von nur 20 qm als rechtsfehlerhaft. Dieser Umstand schließt jedoch die Rechtserheblichkeit der nachträglich bekanntgewordenen Tatsache, daß 16 qm dieser Fläche beruflichen Zwecken des Klägers dienten, nicht aus. Denn in Kenntnis dieser Tatsache wäre das FA mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu der Annahme einer zweiten Wohnung, also einer Zusammenfassung von Räumen, die tatsächlich der Führung eines selbständigen Haushaltes dienten, gelangt. Der dem FA bei der ursprünglichen Artfeststellung auf den 1.Januar 1980 unterlaufene Rechtsfehler steht dementsprechend der Änderung nicht entgegen; denn bei Kenntnis der tatsächlichen Nutzung, die die Führung eines selbständigen Haushalts in diesen Räumen ausschließt, hätte das FA auch bei seiner Annahme, daß Räume im Ausmaß von nur 20 qm den Wohnungsbegriff erfüllen, nicht eine zweite (selbständige) Wohneinheit angenommen. Die nachträglich bekanntgewordene Tatsache hat somit nicht den dem FA unterlaufenen Fehler aufgedeckt, sondern unabhängig davon den angenommenen Sachverhalt verändert, weil sie für sich genommen bedeutsam ist.

++/ Die Sache ist nicht spruchreif. Dem FA ist beim Erlaß des ursprünglichen Artfortschreibungsbescheids auf den 1.Januar 1980 ein Ermittlungsfehler unterlaufen. Angesichts der Angaben der Kläger in der Erklärung zur Einheitswertfeststellung auf den 1.Januar 1980, daß die sich auf Wohn/Schlafzimmer, Küche und Bad- oder Duschraum verteilenden Dachgeschoßräume im Ausmaß von 20 qm eigengenutzt waren, hätte sich dem FA die Frage aufdrängen müssen, ob in ihnen --etwa durch Angehörige-- tatsächlich ein selbständiger Haushalt geführt werde. Insoweit wäre eine Rückfrage zur Aufklärung des Sachverhalts geboten gewesen. Auf eine derartige, die Änderung nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 ausschließende Verletzung der der Finanzbehörde obliegenden Ermittlungspflicht (vgl. Senatsurteil vom 13.November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241) kann sich aber nur derjenige Steuerpflichtige berufen, der seiner Mitwirkungspflicht voll nachgekommen ist, insbesondere seine Erklärungspflicht vollständig und wahrheitsgemäß erfüllt hat. Ob dies der Fall ist, ist nicht festgestellt; die Feststellungen des FG zur baulichen Gestaltung, die keine Küche im Dachgeschoß erwähnen, geben Anlaß zu diesbezüglichen Feststellungen. Die Sache war deshalb an das FG zurückzuverweisen. /++

 

Fundstellen

Haufe-Index 62891

BFH/NV 1989, 31

BStBl II 1989, 694

BFHE 157, 220

BFHE 1990, 220

BB 1989, 1544-1544 (L)

HFR 1990, 2 (LT)

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