Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

Ist die Festsetzung der Einkommensteuer wegen noch in einem Grundlagenbescheid festzustellender Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nach § 165 AO vorläufig erfolgt, so endet die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 8 AO nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Finanzbehörde von dem Grundlagenbescheid Kenntnis erhalten hat. Die Vorschrift des § 171 Abs. 10 AO ist gegenüber § 171 Abs. 8 AO nicht vorrangig.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 165, 171 Abs. 8, 10

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute, wenden sich gegen die Änderung des Einkommensteuerbescheides 1978 (Streitjahr).

Der Kläger K erwarb 1977 gemeinsam mit A (Miteigentümer zu je 1/2) eine Wohnung in B im Rahmen eines Bauherrenmodells. Aufgrund einer Aufstellung der Baubetreuungsgesellschaft C machte der Kläger insoweit in seiner Einkommensteuererklärung 1978 bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung Werbungskosten in Höhe von 26 080 DM geltend. In dem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der Abgabenordnung -- AO 1977 --) ergangenen Einkommensteuerbescheid vom 27. Februar 1980 übernahm der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung wie vom Kläger erklärt. Im August 1980 erließ das für die C zuständige FA D einen Feststellungsbescheid für die Bauherrengemeinschaft, mit dem es für die Grundstücksgemeinschaft K/A ohne weitere Verteilung auf den Kläger und A für 1978 einen Werbungskostenüberschuß von 14 381 DM feststellte. Auf Anfrage des FA vom Juli 1982 erklärte das FA D, eine ESt-4 B-Mitteilung könne nicht ausgefertigt werden, da sich die Akten bei der Betriebsprüfungsstelle befänden. Das FA hob daraufhin mit Bescheid vom 17. Dezember 1982 den Vorbehalt der Nachprüfung auf und erklärte den Bescheid nach § 165 Abs. 1 AO 1977 für vorläufig. In den Erläuterungen fügte das FA hinzu: "Die Steuerfestsetzung ist nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung." Bei der Berechnung des zu versteuernden Einkommens setzte es versehentlich keine Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung an. Auf telefonischen Hinweis des nunmehrigen Prozeßbevollmächtigten berichtigte es nach § 129 AO 1977 mit Bescheid vom 21. Januar 1983 die Steuerfestsetzung und berücksichtigte die erklärten Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, auch den Werbungskostenüberschuß in Höhe von 26 080 DM aus der Wohnung in B, und wiederholte den Vorläufigkeitsvermerk sowie dessen Erläuterung. Der Bescheid wurde nicht angefochten.

Im Dezember 1986 übermittelte das FA D die Abschrift einer ESt-4 B-Mitteilung vom 8. August 1980. Darin war als Bauherr die GbR A/K bezeichnet, der für das Streitjahr ein Anteil an den gemeinschaftlichen negativen Einkünften der Bauherrengemeinschaft von insgesamt 14 381 DM (ohne Verteilung auf den Kläger und A) zugewiesen wurde.

Ohne Durchführung eines weiteren Feststellungsverfahrens berücksichtigte das FA im geänderten Einkommensteuerbescheid 1978 vom 19. Februar 1987 den Betrag in voller Höhe als negative Einkünfte des Klägers und erklärte die Steuerfestsetzung für endgültig. Während des Klageverfahrens änderte das FA den angefochtenen Bescheid vom 19. Februar 1987 am 2. April 1992 aus nicht im Streit befindlichen Gründen. Auf Antrag des Klägers wurde der Änderungsbescheid Gegenstand des Verfahrens.

Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage ab. Nach seiner Ansicht konnte das FA am 19. Februar 1987 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1978 erlassen, da die Feststellungsfrist noch nicht abgelaufen war.

Mit ihrer Revision rügen die Kläger eine Verletzung der §§ 169, 171 AO 1977.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Einkommensteuer 1979 auf ... DM festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).

Das FG hat zu Recht entschieden, daß das FA den Einkommensteuerbescheid 1978 gemäß § 165 Abs. 2 AO 1977 i. V. m. § 171 Abs. 8 AO 1977 ändern konnte.

1. Es kann dahingestellt bleiben, ob das FA die ursprüngliche Steuerfestsetzung hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für vorläufig erklären durfte; denn der mit dem Vorläufigkeitsvermerk versehene bestandskräftige Bescheid ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Nachdem die Kläger den ursprünglichen Steuerbescheid haben unanfechtbar werden lassen, können sie Einwendungen gegen die Rechtmäßigkeit der in diesem Steuerbescheid ausgesprochenen vorläufigen Steuerfestsetzung nicht mehr im Verfahren gegen den endgültigen Steuerbescheid nachholen (Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 12. März 1991 IX R 282/87, BFH/NV 1991, 506; vom 15. Juli 1987 X R 19/80, BFHE 150, 459, 461, BStBl II 1987, 746 m. w. N. der Rechtsprechung).

2. Der Einwand der Kläger, der Vorläufigkeitsvermerk sei nichtig, ist unbegründet. Zwar ist die Unwirksamkeit eines Vorläufigkeitsvermerks auch im Verfahren gegen den geänderten Steuerbescheid zu beachten. Im Streitfall sind indes keine Anhaltspunkte für die Nichtigkeit des Vorläufigkeitsvermerks ersichtlich.

Nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 muß das FA Umfang und Grund der Vorläufigkeit angeben. Zum Umfang der Vorläufigkeit muß dem Steuerpflichtigen im Steuerbescheid oder in den Erläuterungen mitgeteilt werden, welche Tatsachen das FA als ungewiß ansieht (BFH-Urteile in BFH/NV 1991, 506; vom 25. April 1985 IV R 64/83, BFHE 143, 500, BStBl II 1985, 648).

Das FA hat den Bescheid vom 21. Januar 1983 hinsichtlich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für vorläufig erklärt. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH (vgl. Entscheidung vom 6. März 1992 III R 47/91, BFHE 167, 290, BStBl II 1992, 588), reicht es aus, wenn durch den Vorbehaltsvermerk jedenfalls mittelbar der Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die Steuerfestsetzung abänderbar sein soll.

Im Streitfall wollte sich das FA ersichtlich eine Änderungsmöglichkeit im Hinblick auf die Einkünfte des Klägers aus der GbR K/A vorbehalten, die es ohne weitere Überprüfung aus der Erklärung der Kläger übernommen hatte. Für die Kläger war auch erkennbar, daß sich die Vorläufigkeit nur auf die hierauf entfallende Steuer beziehen sollte.

Der ursprüngliche Steuerbescheid enthielt zwar (auch) keine Angaben über den Grund der Vorläufigkeit, obwohl das FA gehalten war, zur Begründung des Vorläufigkeitsvermerks dem Steuerpflichtigen mitzuteilen, welche Umstände einer endgültigen Veranlagung entgegenstanden. Die fehlende Begründung führt aber allenfalls zur Rechtswidrigkeit, nicht zur Nichtigkeit des Vorläufigkeitsvermerks (BFH-Entscheidung in BFH/NV 1991, 506; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, § 165 AO Tz. 8 m. w. N.).

3. a) Nach § 165 Abs. 2 AO 1977 ist die vorläufige Steuerfestsetzung aufzuheben oder zu ändern, wenn die Ungewißheit hinsichtlich jener Umstände, die zur vorläufigen Steuerfestsetzung geführt haben, beseitigt ist und die Festsetzungsverjährung noch nicht eingetreten ist (§ 169 AO 1977). Der vorläufige Bescheid löst auch bei rechtswidriger Vorläufigkeitserklärung, sofern sie nicht vom Steuerpflichtigen mit Erfolg angefochten wird, die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 8 AO 1977 aus (vgl. Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanz gerichtsordnung, § 171 AO Rz. 96). Der Umfang der Ablaufhemmung bestimmt sich nach dem Umfang der Vorläufigkeit (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO Tz. 27). Insoweit endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres, nachdem die Finanzbehörde von der Beseitigung der Ungewißheit Kenntnis erhalten hat. Für die Beseitigung der Ungewißheit kommt es i. S. von § 171 Abs. 8 AO 1977 auf die positive Kenntnis des FA an, ein bloßes Kennenmüssen von Tatsachen steht der Kenntnis nicht gleich (vgl. Entscheidungen des BFH vom 26. August 1992 II R 107/90, BFHE 169, 9, BStBl II 1993, 5; vom 26. August 1992 II R 108/90, BFH/NV 1993, 574; vom 14. Juli 1993 X B 37/93, BFH/NV 1994, 148; vgl. Ruban, a.a.O., § 171 AO Rz. 95).

b) Von den für die Wohnung in B anzusetzenden Besteuerungsgrundlagen erhielt das FA mit der im Dezember 1986 übersandten Abschrift der ESt-4 B-Mitteilung positiv Kenntnis. Im Streitfall kann dahingestellt bleiben, ob das FA zunächst einen weiteren Feststellungsbescheid auf der Ebene der Personenmehrheit K/A hätte erlassen müssen. Die Ungewißheit über die Besteuerungsgrundlagen Vermietung und Verpachtung wurde mit Vorliegen der ESt- 4 B-Mitteilung beendet. Aus der Sicht des FA lag damit die Zweifel beseitigende positive Kenntnis der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung vor. Daß es daraus durch vollständigen Ansatz der negativen Einkünfte bei den Klägern falsche rechtliche Schlußfolgerungen gezogen hat, vermag an der Kenntnisnahme nichts zu ändern. Der angefochtene Bescheid vom 19. Februar 1987 erging innerhalb der Jahresfrist des § 171 Abs. 8 AO 1977.

c) Zu Recht geht das FG davon aus, daß § 171 Abs. 10 AO 1977 keine andere Rechtslage begründet. Insbesondere ist diese Vorschrift gegenüber Abs. 8 AO 1977 nicht vorrangig. Entsprechend dem Wortlaut stehen die einzelnen Regelungen des § 171 AO 1977 grundsätzlich selbständig nebeneinander. Wird der Ablauf der Festsetzungsfrist für denselben Steueranspruch nach mehreren Bestimmungen des § 171 AO 1977 gehemmt, sind Voraussetzungen, Umfang und Dauer der Hemmung für jede dieser Bestimmungen gesondert zu prüfen. Maßgeblich für den Ablauf der Festsetzungsfrist ist dann der weitergehende Tatbestand (vgl. Entscheidung des BFH vom 17. Februar 1982 II R 176/80, BFHE 135, 234, BStBl II 1982, 524; Ruban, a.a.O., § 171 AO Rz. 9). Auch Sinn und Zweck des § 171 Abs. 10 AO 1977 können eine vom Wortlaut abweichende Auslegung nicht begründen. Durch diese Vorschrift soll den Finanzbehörden für den Erlaß von Folgebescheiden eine Frist von einem Jahr nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids eingeräumt werden (vgl. BFH-Urteil vom 4. April 1989 VIII R 265/84, BFHE 156, 371, BStBl II 1989, 593; BTDrucks VI/1982, S. 152). Für die Fälle des § 171 Abs. 8 AO 1977, bei denen wegen Ungewißheit die Steuer zunächst vorläufig festgesetzt wurde, soll dem Finanzamt nach dem Wegfall der Ungewißheit ebenfalls eine ausreichende Frist eingeräumt werden, um die entsprechenden steuerlichen Konsequenzen ziehen zu können (vgl. Ruban, a.a.O., § 171 AO Rz. 94; BTDrucks VI/1982, S. 152). Für die Anwendungsbereiche des § 171 Abs. 8 und Abs. 10 AO 1977 bestehen mithin unterschiedliche Vertrauenssituationen.

Im Streitfall mußten die Kläger auch nach Ergehen des Grundlagenbescheids wegen des bestandskräftigen Vorläufigkeitsvermerks weiterhin mit einer Änderung nach den Voraussetzungen des § 171 Abs. 8 AO 1977 rechnen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420555

BFH/NV 1995, 939

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