Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Verzinsung nicht rechtshängig gewordener Erstattungsansprüche

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Verzinsung nach § 236 AO 1977 kommt nur für Erstattungsansprüche in Betracht, die als solche rechtshängig gewesen sind.

2. Eine entsprechende Anwendung des § 236 AO 1977 auf Erstattungsansprüche, die Gegenstand eines nach § 363 Abs. 1 AO 1977 ausgesetzten Rechtsbehelfsverfahrens waren, ist nicht möglich.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 233, 236, 363 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Münster

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hatte gegen den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) einen Rechtsstreit wegen Körperschaftsteuer 1965 bis 1968 geführt. Der BFH hat durch Urteil vom 14. März 1979 I R 206 /78 ihrem Begehren entsprochen. Für die Dauer des Rechtsstreits war beim FA die Bearbeitung der Einsprüche der Klägerin gegen die Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1976 zurückgestellt worden, weil die gleiche Rechtsfrage streitig war. Nach Zustellung des BFH-Urteils vom 14. März 1979 gab das FA den Einsprüchen der Klägerin am 10. Mai 1979 statt. Die Stattgabe führte zur Erstattung von Körperschaftsteuern zwischen 38 000 DM und 72 000 DM für jedes der Streitjahre 1969 bis 1976.

Am 16. Mai 1979 beantragte die Klägerin beim FA, die erstatteten Körperschaftsteuerbeträge zu verzinsen. Den Antrag lehnte das FA am 29. Mai 1979 ab. Der Einspruch und die Klage blieben ohne Erfolg.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 236 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verzinsung der nach Aufhebung der Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1977 erstatteten Steuern.

1. Der Anspruch auf Prozeßzinsen ist im Streitfall ausschließlich nach § 236 Abs. 1 AO 1977 zu beurteilen, da die Zinspflicht frühestens mit Eintritt der Rechtskraft des BFH-Urteils vom 14. März 1979 I R 206/78 entstehen konnte und damals die AO 1977 galt (Art. 97 § 15 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -; BFH-Urteil vom 26. April 1985 III R 24/82, BFHE 143, 408, BStBl II 1985, 546).

2. Nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sind Erstattungs- und Vergütungsansprüche zu verzinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder aufgrund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Zwar wurden die ursprünglich erlassenen Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1977 am 10. Mai 1979 aufgehoben. Auch bedeutete die Aufhebung der Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1977 eine Herabsetzung der ursprünglich festgesetzten Steuern. Diese Herabsetzung beruhte jedoch i. S. des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nicht auf einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung.

Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt auch nach § 236 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative AO 1977 eine Verzinsung nur für solche erstatteten Steuerbeträge in Betracht, bezüglich derer Rechtshängigkeit bestand (vgl. BFH-Urteil vom 31. Oktober 1974 IV R 160/69, BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370, zur insoweit gleichlautenden Vorschrift des § 111 FGO sowie die einhellige Meinung im Schrifttum, z. B. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 236 AO 1977 Tz. 4; Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 236 Rdnr. 5). Eine Steuer wird nur dann ,,auf Grund" einer gerichtlichen Entscheidung herabgesetzt, wenn die Finanzbehörde die Steuer nach Aufhebung des angefochtenen Bescheides durch das Gericht gemäß § 100 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 2 Satz 2 FGO festsetzt. Zwar ist der Revision zuzugeben, daß allein aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht zwingend folgt, daß der ,,Erstattungsanspruch" rechtshängig geworden sein muß. Jedoch zeigt die - anderenfalls entbehrliche - ausdrückliche Regelung in § 236 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 für die Änderung von Folgebescheiden, daß der Gesetzgeber mit der 2. Alternative des Abs. 1 Satz 1 die Fälle gerade nicht erfassen wollte, in denen die Erstattung lediglich mittelbare Folge einer gerichtlichen Entscheidung ist.

3. Ein Anspruch auf Verzinsung der vom FA erstatteten Beträge läßt sich auch nicht aus § 236 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 ableiten. Die Aufhebungsbescheide des FA zur Körperschaftsteuer 1969 bis 1977 sind keine Folgebescheide i. S. dieser Vorschrift.

a) Die AO 1977 enthält keine generelle Erläuterung des Begriffs Folgebescheid. Wie sich aus dem Zusammenhang der Vorschriften der §§ 182 Abs. 1, 171 Abs. 10, 175 Abs. 1 Nr. 1 und 351 Abs. 2 AO 1977 ergibt, verwendet die AO 1977 den Begriff Folgebescheid für Verwaltungsakte, die die Regelungen eines Feststellungs-, Steuermeßbescheides oder eines sonstigen für die Festsetzung einer Steuer verbindlichen Verwaltungsaktes (sog. Grundlagenbescheid) als bindend übernehmen. Für steuerliche Grundlagenbescheide ist die Bindungswirkung ausdrücklich gesetzlich bestimmt. Werden Besteuerungsgrundlagen gesondert festgestellt, so bindet der Grundlagenbescheid den Folgebescheid, soweit sein feststellender Inhalt reicht (§ 182 Abs. 1 AO 1977).

Neben Feststellungs- und Steuermeßbescheiden kommen auch Steuerbescheide als Grundlagenbescheide in Betracht, soweit sie gesondert festzustellende Besteuerungsgrundlagen enthalten (vgl. z. B. § 10 a Abs. 1 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Eine Bindungswirkung kann sich daneben auch aus unselbständigen Besteuerungsgrundlagen eines Steuerbescheides ergeben, falls die Bindung ausdrücklich angeordnet wird (vgl. z. B. § 47 Abs. 2 des Körperschaftsteuergesetzes - KStG - 1977).

b) Die von der Klägerin im Revisionsverfahren I R 206/78 angefochtenen Körperschaftsteuerbescheide 1965 bis 1968 enthielten keine Feststellungen, denen Bindungswirkung für die Veranlagung zur Körperschaftsteuer 1969 bis 1977 zukommt. Es fehlt insoweit an der gesetzlichen Anordnung einer Bindungswirkung. Im Steuerrecht gilt der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung. Dieser verpflichtet das FA, einen Sachverhalt für jeden Jahresbescheid neu und unabhängig von der für frühere Jahre vertretenen Auffassung zu ermitteln und steuerrechtlich zu beurteilen (vgl. BFH-Urteil vom 25. November 1975 VIII R 116/74, BFHE 117, 247, BStBl II 1976, 155, 158).

c) Den Körperschaftsteuerbescheiden 1965 bis 1968 kommt auch nicht deshalb die Bedeutung von Grundlagenbescheiden zu, weil das FA die Bearbeitung der Einsprüche gegen die Körperschaftsteuerbescheide 1969 bis 1977 mit Rücksicht auf den anhängigen Rechtsstreit zurückgestellt und seine Entscheidung erkennbar vom Ausgang dieses Parallelverfahrens abhängig gemacht hatte. Die Vorgreiflichkeit einer anderen Entscheidung kann rechtlich gesehen nur auf der Bindungswirkung eines Grundlagenbescheides beruhen. Eine solche Bindungswirkung muß gesetzlich angeordnet sein. Die Aussetzung des Einspruchsverfahrens kann die Vorgreiflichkeit allein nicht begründen. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß nach allgemeiner Meinung eine Aussetzung des Verfahrens wegen Vorgreiflichkeit auch dann als zulässig angesehen wird, wenn die in dem anderen Verfahren zu erwartende Entscheidung nicht bindend ist, sondern nur einen rechtlich erheblichen Einfluß auf die Entscheidung in den auszusetzenden Verfahren ausüben kann (vgl. Ziemer / Haarmann / Lohse / Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Rdnr. 2718; vgl. zum Begriff der Vorgreiflichkeit auch Tipke / Kruse, a.a.O., § 74 FGO Tz. 2; Hartmann in Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, Zivilprozeßordnung, 46. Aufl., § 148 Anm. 1; Zöller / Stephan, Zivilprozeßordnung, § 148 Rdnr. 5). Die Klägerin hätte die Aussetzung der Einspruchsverfahren selbständig anfechten und damit die Rechtsfrage einer Klärung zuführen können, um die Rechtshängigkeit herbeizuführen und damit eine Verzinsung sicherzustellen.

4. Eine entsprechende Anwendung des § 236 AO 1977 auf Erstattungsansprüche, die Gegenstand eines wegen Vorgreiflichkeit gemäß § 363 Abs. 1 AO 1977 ausgesetzten Rechtsbehelfsverfahrens sind, kommt nicht in Betracht. Dies folgt allerdings nicht unmittelbar aus dem in § 233 AO 1977 festgelegten Grundsatz, daß Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nur verzinst werden, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Denn selbst wenn § 236 AO 1977 hiernach als Ausnahmevorschrift zu werten sein sollte, so würde dies nicht von vornherein eine Analogie ausschließen (vgl. Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., S. 339; Tipke / Kruse, a.a.O., § 4 AO 1977 Tz. 79 und 122). So hat auch die Rechtsprechung Prozeßzinsen nach den dem § 236 AO 1977 insoweit entsprechenden früheren Vorschriften gewährt, falls die rechtshängigen Erstattungsansprüche nicht auf der Herabsetzung einer festgesetzten Steuerschuld beruhten (vgl. BFH-Urteile vom 16. März 1973 VI R 91/69, BFHE 109, 161, BStBl II 1973, 550, und vom 11. Dezember 1973 VII R 35/71, BFHE 111, 286, BStBl II 1974, 408). Sie hat jedoch eine analoge Anwendung auf das außergerichtliche Vorverfahren ausdrücklich abgelehnt (Urteil in BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370).

Es kann dahinstehen, ob nach dem Grundgedanken des § 236 AO 1977 und dem dieser Vorschrift immanenten Telos eine Verzinsung von Erstattungsansprüchen im Rechtsbehelfsverfahren zumindest dann geboten wäre, wenn es dem Rechtsbehelfsführer wegen der Aussetzung des Verfahrens verwehrt ist, die Streitsache rechtshängig zu machen. Denn nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift kann nicht davon ausgegangen werden, daß eine entsprechende ausdrückliche Regelung nur versehentlich unterblieben ist.

Der Gesetzgeber hat die Verzinsung von Erstattungsansprüchen, die sich als Folge einer gerichtlichen Entscheidung ergeben, erstmals in § 155 der Reichsabgabenordnung (AO) in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl I 1961, 981) eingeführt. Die Regelung wurde ab dem 1. Januar 1966 in § 111 FGO vom 6. Oktober 1965 (BGBl I 1965, 1477) übernommen und ab 29. Juni 1975 bis zum Inkrafttreten der AO 1977 durch § 4 b des Steuersäumnisgesetzes in der Fassung des Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl I 1975, 1509) ersetzt. Sachliche Änderungen waren mit den jeweiligen Neufassungen nicht verbunden.

Bis zur Einführung der FGO war die Aussetzung des Einspruchsverfahrens nach § 259 Abs. 2 AO nur mit Zustimmung des Steuerpflichtigen zulässig. Erst mit dem durch § 162 Nr. 40 FGO eingefügten § 244 AO, der inhaltlich dem § 363 Abs. 1 AO 1977 entsprach, wurde der Finanzbehörde die Möglichkeit eingeräumt, die Entscheidung über den Rechtsbehelf auch gegen den Willen des Rechtsbehelfsführers auszusetzen.

Es hätte nahegelegen, bereits im Rahmen der Einführung der FGO oder bei den späteren Gesetzesänderungen eine ergänzende Regelung für ausgesetzte Rechtsbehelfsverfahren zu treffen, wenn dies gewollt gewesen wäre. Es kann daher nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber diese Fälle nicht bedacht hat und sie, wenn er sie bedacht hätte, den rechtshängigen Ansprüchen gleichgestellt hätte.

5. Eine entsprechende Anwendung des § 236 AO 1977 ist auch nicht deshalb erforderlich, um der Gefahr einer mißbräuchlichen Aussetzung des Einspruchsverfahrens durch die Finanzbehörde zur Verhinderung des im Falle der Rechtshängigkeit entstehenden Zinsanspruchs zu begegnen. Hält der Rechtsbehelfsführer die Voraussetzungen für eine Aussetzung des außergerichtlichen Vorverfahrens für nicht gegeben, so kann er entweder die Aussetzungsverfügung als solche anfechten oder aber Klage nach § 46 FGO erheben. War die Aussetzungsverfügung nicht gerechtfertigt, so ist die Klage nach § 46 FGO zulässig. Damit ist die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes eröffnet (vgl. BFH-Urteil vom 25. Oktober 1973 VII R 15/71, BFHE 111, 1, BStBl II 1974, 116).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415653

BFH/NV 1988, 619

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