Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat das FG durch Entscheidung zum Nachteil des Stpfl. die Steuer auf einen Betrag von mehr als 200 DM erhöht, so ist damit eine vor dem 1. September 1961 anhängig gewesene Sache revisionsfähig geworden.

Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebietet nur, auf die Möglichkeit, nicht auf die Absicht der Verböserung hinzuweisen. Beantragt das FA im Berufungsverfahren eine Steuererhöhung und setzt sich der Stpfl. mit diesem Antrag auseinander, so braucht ihm das FG die Möglichkeit der Verböserung nicht noch ausdrücklich mitzuteilen.

 

Normenkette

AO § 243 Abs. 3, § 248/1, § 286 Abs. 1; FGO § 115/1, § 184 Abs. 2 Ziff. 2

 

Tatbestand

Die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige - Stpfl. -) gab in ihrer Einkommensteuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1956 einen nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelten Gewinn von 1.822,15 DM aus ihrer Tätigkeit als Hausgewerbetreibende der Damenoberbekleidungs-Industrie an. Als Betriebsausgaben erklärte sie dabei einen als "Rechnungsabgrenzung" bezeichneten Betrag von 2.200 DM am 31. Dezember 1956 noch nicht bezahlter Betriebsteuern, den der Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) nicht zum Abzug zuließ. Im Einspruchsverfahren hielt das FA die Streichung dieses Postens aufrecht. Auch die Berufung blieb ohne Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) gab dem Antrag des FA auf Vornahme einer Betriebsprüfung im Rechtsmittelverfahren nicht statt, da bezüglich des Streitgegenstandes keine Unklarheiten vorhanden seien, die nur auf diese Weise beseitigt werden könnten. Die Einkommensteuererklärung enthalte alle für die Durchführung der Veranlagung 1956 erforderlichen Angaben. Diesen sei das FA mit Ausnahme der als Rechnungsabgrenzungsposten unter den Ausgaben erschienenen 2.200 DM nicht gefolgt. Was im Rahmen der weiterhin vorläufigen Veranlagung nach § 100 Abs. 2 AO steuerlich noch geschehe, bleibe der durch das FA vorzunehmenden späteren Betriebsprüfung vorbehalten. Im übrigen habe das FA mit Recht bei der Gewinnermittlungsart nur die tatsächlich geleisteten Ausgaben zum Abzug zugelassen. Dazu gehöre aber nicht der als Rechnungsabgrenzungsposten bezeichnete Betrag von 2.200 DM. In dieser auf der klaren Regelung des § 4 Abs. 3 EStG beruhenden steuerlichen Behandlung, die von der Gewinnbesteuerung auf Grund Vermögensvergleichs abweiche, könne auch dann kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) gesehen werden, wenn der zulässige nachträgliche Abzug der Betriebsteuern im Veranlagungszeitraum der tatsächlichen Zahlung wegen der dann vorliegenden abweichenden Verhältnisse, insbesondere des inzwischen eingetretenen rechtlichen Wandels hinsichtlich der Ehegattenbesteuerung, sich nicht mehr so vorteilhaft für die Stpfl. auswirke, wie dies im Veranlagungszeitraum 1956 bei ihrer getrennten Veranlagung nach Steuerklasse I der Fall wäre.

Auf Antrag des FA erhöhte das FG außerdem den Gewinn 1956 gemäß § 243 Abs. 3 AO um einen Betrag von (748 DM Rückstellung für Steuern + 337 DM Abgrenzungsposten =) 1085 DM, der sich aus der Bilanz der Stpfl. zum 31. Dezember 1955 ergab, die bis dahin den Gewinn nach dem Vermögensvergleich ermittelt hatte und 1956 zur Einnahmenüberschußrechnung übergegangen war. Der Passivposten habe bereits den Gewinn 1955 gemindert. Der gleiche Betrag dürfe sich daher nicht nochmals 1956 oder in späteren Jahren ergebnismindernd auswirken. Im Jahr des übergangs von der Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich zur Einnahmenüberschußrechnung müsse das Betriebsergebnis um die zurückgestellten Beträge erhöht werden.

Mit der Rb. (Revision) werden die Nichtanwendung bestehenden Rechts durch Verletzung der amtlichen Ermittlungspflicht nach § 243 Abs. 1 AO, ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten durch die steuerliche Behandlung des Rechnungsabgrenzungspostens von 2.200 DM und wesentliche Verfahrensmängel gerügt, die in der Versagung ausreichenden rechtlichen Gehörs und in der Verböserung ohne vorherige Bekanntgabe zu erblicken seien.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Zulässigkeit der Revision

Der Wert des ursprünglichen Streitgegenstandes, 192 DM Einkommensteuer für den Veranlagungszeitraum 1956, hätte allerdings gemäß § 184 Abs. 2 Ziff. 2 FGO in Verbindung mit § 286 Abs. 1 AO a. F. für die vor dem 1. September 1961 anhängig gewordene Sache die damals für die Rb. geltende Streitwertgrenze von 200 DM nicht erreicht. Dadurch, daß das FG gemäß § 243 Abs. 3 AO die Einkommensteuer zum Nachteil der Stpfl. von 192 DM auf 364 DM heraufgesetzt hat, ist ein im Gesetz nicht ausdrücklich geregelter Fall eingetreten, der nach dem Sinn der Rechtsmittelbeschränkung durch einen Mindeststreitwert auszulegen ist. Das FG hat in Fortführung des nach der AO a. F. mindestens "insoweit bestehenden" verlängerten Veranlagungsverfahrens den strittigen Steuerbetrag über die Streitwertgrenze von 200 DM hinaus erhöht. Dann muß sich aber auch die Zulässigkeit eines dagegen erhobenen Rechtsmittels nach diesem höheren Betrag richten. Andernfalls würde bei weiterer Zugrundelegung des ursprünglichen Streitwertes für die Prüfung der Revisionsfähigkeit dem Steuerpflichtigen jeglicher Rechtsschutz gegen die Verböserung genommen werden. Die Zulässigkeit der Revision kann auch nicht deshalb verneint werden, weil der Wert des gesamten Streitgegenstandes in Höhe von 364 DM auf Grundlage des am 28. Februar 1962 ergangenen FG - Urteils unter dem durch § 286 Abs. 1 AO geforderten Wert des Streitgegenstandes von 1.000 DM liegt. Für die Zulässigkeit der Revision kommt es auf den durch die Verböserung des FA erhöhten Wert des Streitgegenstandes zur Zeit der unzweifelhaft vor dem 1. September 1961 eingetretenen Rechtshängigkeit beim FG an (Art. 18 des Steueränderungsgesetzes - StändG - vom 13. Juli 1961, BGBl I S. 981).

Das FA hatte den Steuerbescheid nur allgemein als vorläufig nach § 100 AO erklärt, ohne eine der verschiedenen gesetzlichen Möglichkeiten nach dieser Vorschrift hervorzuheben. Daraus wäre zu schließen, daß das FA die Besteuerung auf § 100 Abs. 1 AO stützen wollte, da diese Vorschrift im Gegensatz zu § 100 Abs. 2 AO nicht als Grundlage der vorläufigen Besteuerung angegeben zu werden braucht. Welche Bedeutung der dadurch zunächst entstandenen Unklarheit zukommt, kann dahingestellt bleiben. Die fehlende Begründung der Vorläufigkeit bewirkt keine Nichtigkeit der Steuerfestsetzung, sondern macht sie nur anfechtbar. Das FA hat aber bereits durch die Einspruchsentscheidung ausdrücklich klargestellt, daß der vorläufige Steuerbescheid auf § 100 Abs. 2 AO gestützt werde, dessen Voraussetzungen auch gegeben sind.

Unbegründetheit der Revision

Der "Rechnungsabgrenzungsposten" von 2.200 DM ist mit Recht aus der Einnahmenüberschußrechnung 1956 gestrichen worden. Für die Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG kommen nur tatsächlich geleistete Betriebsausgaben, nicht am Schluß des Veranlagungszeitraums vorhandene, später zu erfüllende Verbindlichkeiten in Betracht. Was die Stpfl. hierzu ausführt, bestätigt nur die Richtigkeit der Entscheidung des FG. Der Betrag von 2.200 DM ist deshalb bei der Einnahmenüberschußrechnung des Veranlagungszeitraums 1956 mit Recht nicht gewinnmindernd zugelassen worden, weil er andernfalls bei der späteren Verausgabung zum zweiten Mal den Gewinn gemindert hätte. Dabei ist es gleichgültig, ob er ganz oder teilweise bereits in früheren Bilanzen erschienen ist oder sich in späteren Einnahmenüberschußrechnungen, wenn auch isoliert, als nachträgliche Betriebsausgabe auswirkt.

Worin bei dieser klaren materiellen Rechtslage eine Verletzung des geltenden Rechts oder der Ermittlungspflicht durch das FA und das FG liegen soll, vermag der Senat nicht zu erkennen.

Die Vorinstanz hat den von der Stpfl. im Veranlagungszeitraum 1956 vorgenommenen übergang von der Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich zur Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG mit Recht zum Anlaß genommen, einen Betrag von 1.085 DM dem Gewinn des ersten Jahres nach dem übergang zur Einnahmenüberschußrechnung unter Anwendung der in Abschn. 19 EStR und Anl. 2 hierzu aufgestellten Grundsätze hinzuzurechnen. Der Senat ist zwar mit der sogenannten Einkommensteuer-Kommission "Untersuchungen zum Einkommensteuerrecht", Schriftenreihe des Bundesministers der Finanzen Heft 7 S. 97, zu §§ 4 und 5 EStG, der Auffassung, daß sich eine ausdrückliche gesetzliche Regelung dieses Vorgangs empfiehlt, hält aber in übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - IV 66/62 U vom 17. Januar 1963, BStBl 1963 III S. 228, Slg. Bd. 76 S. 628) die in den EStR getroffene Regelung für eine sinnvolle und gerechte Auslegung des Gesetzes, da andernfalls derartige Vorgänge nur wegen des Wechsels der Gewinnermittlung zu einer doppelten Gewinnminderung führen würden. Die beiden Passivposten haben bereits den Bilanzgewinn 1955 gemindert. Durch ihre Zurechnung im übergangsjahr 1956, in dem die entsprechenden Verbindlichkeiten nicht getilgt wurden, wird erreicht, daß die tatsächlichen Zahlungen in den späteren Jahren als nachträgliche Betriebsausgaben berücksichtigt werden können.

Ein Sonderfall wie in dem erwähnten BFH-Urteil IV 66/62 U, der abweichend von dem aus Vereinfachungsgründen geltenden Regelfall gegen die Umschichtung bereits im ersten Jahr nach dem Wechsel der Gewinnermittlungsart sprechen würde, liegt nicht vor.

Das FG hat durch die änderung der Besteuerung zum Nachteil der Stpfl. keinen die beantragte Aufhebung der Entscheidung begründenden Verfahrensfehler begangen. Der erkennende Senat ist in übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BFH der Auffassung, daß die Rechtsmittelbehörde aus Gründen rechtlichen Gehörs vor der Entscheidung auf die Möglichkeit einer Verböserung hinweisen muß (vgl. außer dem oben erwähnten BFH-Urteil IV 66/62 U insbesondere das BFH-Urteil VI 264/61 U vom 1. Dezember 1961, BStBl 1962 III S. 140, Slg. Bd. 74 S. 371). Nicht erforderlich ist jedoch der Hinweis auf die Absicht der Verböserung, der eine Festlegung des Gerichts enthalten würde.

Die Besonderheit des vorliegenden Falls besteht darin, daß das FA im Berufungsverfahren die Erhöhung des Gewinns 1956 um den Betrag von 1.085 DM ausdrücklich beantragt hat. Der Stpfl. ist der entsprechende Schriftsatz übersandt worden. Sie hat zu dem Antrag Stellung genommen und sich ebenfalls ausdrücklich gegen die Erhöhung der Steuer gewandt. Es war ihr also durchaus bewußt, daß es zu einer änderung des Steuerbescheids zu ihrem Nachteil kommen könne. Unter diesen Umständen käme dem nochmaligen ausdrücklichen Hinweis auf die Verböserungsmöglichkeit der Charakter einer überflüssigen Formalie zu. Eine solche kann nicht als allein hinreichender Ausdruck des rechtlichen Gehörs gefordert werden. Die Mitteilung der Verböserungsmöglichkeit soll den Stpfl. vor unvorhersehbaren überraschungen schützen und in den Stand setzen, die Steuererhöhung durch Zurücknahme des Rechtsmittels auszuschließen.

In der endgültigen Aufhebung eines ursprünglich angesetzten Erörterungstermins durch einen Finanzrichter, liegt kein wesentlicher Mangel des Verfahrens. Die Stpfl. hatte keine mündliche Verhandlung beantragt. Es läßt sich nicht feststellen, welchem Zweck die Vernehmung der Stpfl. überhaupt dienen sollte, auch wenn sie in der Ladung als erforderlich bezeichnet worden ist. Es würde eine überspitzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bedeuten, wenn ohne Konkretisierung der dadurch angeblich verletzten Rechtsgüter allein der Umstand zur Aufhebung eines Urteils führen könnte, daß das FG hinterher anderen Sinns geworden ist und den Erörterungstermin, wie geschehen, als nicht mehr erforderlich angesehen hat.

Die Revision war demnach in vollem Umfang als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411972

BStBl III 1966, 294

BFHE 1966, 234

BFHE 85, 234

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