Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Gewerbesteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vorschrift des § 234 AO a. F. (ß 232 AO n. F.) ist auch auf Bescheide anzuwenden, durch die unanfechtbare Gewerbesteuermeßbescheide gemäß 35 b GewStG "ersetzt" werden.

 

Normenkette

AO §§ 234, 232; GewStG § 35b

 

Tatbestand

Streitig ist, inwieweit der Gewerbesteuermeßbescheid 1955, der zum Teil auf einer für verfassungswidrig erklärten Norm beruht, berichtigt werden kann.

Für die Revisionsbeklagte (die Steuerpflichtige - Stpfl. -) wurde durch unanfechtbaren Bescheid vom 11. Oktober 1956 ein Gewerbesteuermeßbetrag festgesetzt, wobei dem gewerblichen Gewinn gemäß § 8 Ziff. 6 GewStG Bezüge des Gesellschafter-Geschäftsführers hinzugerechnet wurden. Im Jahr 1959 fand bei der Stpfl. eine Betriebsprüfung statt. Im Anschluß daran erhöhte der Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) den Gewinn aus Gewerbebetrieb infolge der Auflösung einer in den Jahren 1951 bis 1953 gebildeten Gewerbesteuerrückstellung. Dementsprechend änderte das FA den Körperschaftsteuerbescheid 1955 und erließ gemäß § 35 b GewStG am 12. Oktober 1959 einen neuen Gewerbesteuermeßbescheid.

Auf den Einspruch der Stpfl. hob das FA den nach § 35 b GewStG erlassenen Berichtigungsbescheid auf und setzte den Meßbetrag wieder auf den ursprünglichen Betrag herab. Dies geschah, weil das Bundesverfassungsgericht (VerfG) durch Urteil 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl 1962 I S. 500) § 8 Ziff. 6 GewStG teilweise für nichtig erklärt hatte.

Mit der Berufung beantragte die Stpfl., den Gewerbesteuermeßbetrag unter vollem Abzug der nach § 8 Ziff. 6 GewStG hinzugerechneten Beträge neu festzusetzen. Sie machte geltend, die Berichtigung werde nicht durch § 234 AO eingeschränkt, weil diese Vorschrift eine änderung von Steuerbescheiden voraussetze, während nach § 35 b GewStG der ursprüngliche Gewerbesteuermeßbescheid von Amts wegen durch einen neuen Bescheid ersetzt werde. Außerdem sei die Berichtigung durch § 36 a GewStG 1962 begründet.

Das Finanzgericht (FG), dessen Urteil in den "Entscheidungen der Finanzgerichte" 1964 S. 600 veröffentlicht ist, gab der Berufung der Stpfl. statt.

Es führte zur Begründung aus, § 234 AO sei im Falle der hier nach § 35 b GewStG vorgenommenen Berichtigung des Gewerbesteuermeßbescheids nicht anwendbar. § 234 AO betreffe nur änderungsbescheide nach § 35 b GewStG; hingegen würden die früheren Gewerbesteuermeßbescheide durch neue ersetzt. Die Anwendung des § 234 AO würde dazu führen, daß das FA, wenn der zugrunde zu legende Einkommen- oder Körperschaftsteuerbescheid nach § 222 AO geändert worden sei, stets prüfen müsse, ob die änderung auf § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO oder auf § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO beruhe, weil je nachdem § 234 AO anwendbar sei oder nicht. Eine solche Prüfung habe der Gesetzgeber durch die Schaffung des § 35 b GewStG nicht gewollt.

Hiergegen wendet sich die Rb. des Vorstehers des FA (Revision des FA).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Dem FG ist darin beizutreten, daß § 35 b GewStG eine selbständige Berichtigungsvorschrift darstellt. Ihre Anwendung setzt, soweit sie hier in Betracht kommt, lediglich voraus, daß der Körperschaftsteuerbescheid geändert wird und die änderung die Höhe des Gewinns aus Gewerbebetrieb berührt (ß 35 b Abs. 1 Satz 1). Worauf die änderung des Körperschaftsteuerbescheides beruht, ist dabei ohne Bedeutung. Vor allem ist die Anwendbarkeit des § 35 b GewStG nicht daran geknüpft, daß die Voraussetzungen des § 222 AO vorliegen (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - IV 19/65 U vom 6. Mai 1965, BStBl 1965 III S. 419, Slg. Bd. 82 S. 476; I 157/64 vom 9. Februar 1965, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 S. 414). Wie das FG ebenfalls zutreffend ausgeführt hat, kann daher § 234 AO bei Berichtigungsbescheiden nach § 35 b GewStG nicht in der Weise zur Anwendung kommen, daß das FA zu prüfen hat, ob die änderung des Körperschaftsteuerbescheids auf § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO beruht, § 234 AO mithin einer Unterschreitung des ursprünglich festgesetzten Gewerbesteuermeßbetrags im Wege steht, oder ob eine änderung auch oder allein nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO vorliegt, die eine Anwendung des § 234 AO ausschließt (BFH-Urteil V 66/59 U vom 22. Februar 1962, BStBl 1962 III S. 228, Slg. Bd. 74 S. 616). Diese Prüfung ist nur anzustellen, wenn die Berichtigung des Gewerbesteuermeßbescheids unmittelbar auf § 222 AO beruht, d. h. wenn neue Tatsachen von einigem Gewicht mit Wirkung auch für die Gewerbesteuer festgestellt werden. Ein solcher Fall liegt indessen hier nicht vor, weil die Gewinnänderung des Jahres 1955 nicht auf neuen Tatsachen, sondern ausschließlich auf einer Folgewirkung aus früheren Jahren, nämlich der Auflösung früher gebildeter Rückstellungen beruht.

Wenn aber auch bei einer Berichtigung nach § 35 b GewStG das FA die Voraussetzungen des § 234 AO nicht unter dem Gesichtspunkt des § 222 AO zu prüfen braucht, so schließt dies die Anwendbarkeit des § 234 AO in diesen Fällen nicht schlechthin aus. Die Anwendung des § 234 AO bedeutet hier vielmehr, daß gegenüber Gewinnerhöhungen Umstände zugunsten des Steuerpflichtigen mit der Einschränkung zu berücksichtigen sind, daß nicht unter den Gewerbesteuermeßbetrag herabgegangen werden kann, der im ursprünglichen unanfechtbar gewordenen Gewerbesteuermeßbescheid festgesetzt worden ist.

Bei wörtlicher Auslegung des § 234 AO und des § 35 b GewStG können allerdings Zweifel an der Anwendbarkeit des § 234 AO auftauchen. Nach § 234 AO ist bei Steuerbescheiden, die frühere Steuerbescheide ändern, der neue Bescheid selbständig anfechtbar, soweit die änderung reicht. Hingegen sieht § 35 b GewStG vor, daß der Gewerbesteuermeßbescheid von Amts wegen durch einen neuen Bescheid ersetzt wird. Diese Bedenken halten jedoch einer näheren Prüfung nicht stand.

Die steuerlichen Verfahrensvorschriften verwenden die Begriffe änderung und Ersetzung nebeneinander (ß 92 Abs. 1 AO, §§ 68, 110 Abs. 2 FGO). Worin sich beide Begriffe unterscheiden, sagt das Gesetz nicht. Tipke-Kruse (Reichsabgabenordnung, 2. Aufl., § 93 Anm. 6) sehen das Wesen der änderung darin, daß sie die Verfügung der Form nach bestehen läßt, ihr aber einen anderen Inhalt gibt, und verstehen demgegenüber die Ersetzung als die Zurücknahme eines bestehenden und den Erlaß eines denselben Gegenstand betreffenden, der Form nach neuen Bescheids. Indes weisen sie unter Bezugnahme auf die Ausführungen von Woerner (Deutsches Steuerrecht 1965 S. 408) darauf hin, daß die AO bei der Verwendung der Begriffe änderung und Ersetzung eine begriffliche Schärfe weithin vermissen lasse und daß in den meisten Fällen, in denen das Gesetz von Ersetzung spreche (ß 212 b Abs. 3 Satz 1, § 218 Abs. 4, § 225 a AO und § 35 b GewStG) dieser Begriff im Sinne von änderung verstanden werde.

Die sinngemäße und an der Systematik des Steuerverfahrensrechts auszurichtende Auslegung bestätigt die übereinstimmende Bedeutung von Ersetzung im Sinne des § 35 b GewStG und änderung im Sinne des § 234 AO. Die Vorschrift des § 234 AO soll der Tatsache Rechnung tragen, daß der berichtigte Bescheid unanfechtbar geworden ist, die in ihm enthaltene Festsetzung oder Feststellung daher vom Steuerpflichtigen nicht mehr angegriffen werden kann. Der Steuerpflichtige soll bei einer späteren Berichtigung zu seinen Ungunsten im Wege der Anfechtung nicht mehr erreichen dürfen als die Beseitigung der durch den Berichtigungsbescheid eingetretenen Verschlechterung (BFH-Urteil I 392/61 U vom 17. März 1964, BStBl 1964 III S. 373, Slg. Bd. 79 S. 392). Diese Erwägungen greifen auch durch, wenn unanfechtbare Gewerbesteuermeßbescheide nach § 35 b GewStG berichtigt werden. § 35 b GewStG ist eine Vereinfachungsvorschrift, die es ermöglichen soll, die änderung des Gewinns im Einkommensteuerbescheid, Körperschaftsteuerbescheid oder Feststellungsbescheid ohne weiteres bei der Festsetzung des Gewerbeertrags im Gewerbesteuermeßbescheid zu berücksichtigen (BFH-Urteil IV 19/65 U, a. a. O.). Führt diese Berichtigung zu einer Verschlechterung gegenüber der Festsetzung in einem früheren unanfechtbaren Gewerbesteuermeßbescheid, so hindert § 234 AO nicht, zugunsten des Steuerpflichtigen wieder auf den ursprünglich festgesetzten Betrag herabzugehen. Indes rechtfertigt es der Gesetzeszweck nicht, dem Steuerpflichtigen im Falle der Anfechtung des Berichtigungsbescheids im vollen Umfang den Status wieder zu gewähren, den er durch die Unanfechtbarkeit des ursprünglichen Bescheids eingebüßt hat. Er würde dadurch günstiger gestellt als andere Steuerpflichtige, bei denen eine Berichtigung zu ihren Ungunsten nicht Platz greift. Mit Recht hat daher die Rechtsprechung des BFH § 234 AO auch auf Berichtigungen nach § 21 Abs. 4 AO angewandt, obwohl diese dem § 35 b GewStG ähnliche Vorschrift nach ihrem Wortsinn ebenfalls einen Fall der Ersetzung regelt (BFH-Urteile VI 97/56 U vom 21. Februar 1958, BStBl 1958 III S. 167, Slg. Bd. 66 S. 427; IV 286/58 U vom 15. Dezember 1961, BStBl 1962 III S. 142, Slg. Bd. 74 S. 375).

Die Anwendbarkeit des § 234 AO wird auch nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Stpfl. ihr Begehren auf Herabsetzung des ursprünglichen Gewerbesteuermeßbetrags mit der vom BVerfG ausgesprochenen Verfassungswidrigkeit des § 8 Ziff. 6 GewStG begründet (BFH-Urteil I 286/62 U vom 7. Oktober 1964, BStBl 1965 III S. 103, Slg. Bd. 81 S. 286).

Schließlich bietet auch § 36 a Abs. 1 GewStG 1962 nicht die Möglichkeit, die Hinzurechnung nach § 8 Ziff. 6 GewStG in vollem Umfang zu beseitigen. Diese Vorschrift will den Steuerpflichtigen für eine übergangszeit diejenigen Rechte einräumen, die ihnen im Falle einer Anfechtung des Gewerbesteuermeßbescheids zugestanden hätten. Der vorliegende Fall liegt indes anders. Hier hat die Stpfl. den Berichtigungsbescheid tatsächlich angefochten. Ihre Anfechtungsmöglichkeiten sind jedoch durch § 234 AO eingeschränkt, dessen Anwendung durch § 36 a Abs. 1 GewStG 1962 nicht berührt wird (BFH-Urteil I 204/63 U vom 19. Oktober 1965, BStBl 1965 III S. 669).

Da die Vorentscheidung von einer anderen Auslegung des § 35 b GewStG ausgegangen ist, war sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Berufung der Stpfl. ist als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412026

BStBl III 1966, 331

BFHE 1966, 340

BFHE 85, 340

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