Entscheidungsstichwort (Thema)

Doppelbesteuerungsabkommen Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

"Grenzgänger" im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS ist nur, wer sich an jedem Arbeitstag von seinem Wohnort über die Grenze an seine Arbeitsstätte begibt und nach Beendigung seiner Arbeit wieder täglich in seinen Wohnort zurückkehrt.

Das Finanzamt ist an eine bei der Schlußbesprechung einer Betriebsprüfung geäußerte Rechtsauffassung für die Veranlagung grundsätzlich nicht gebunden, und zwar auch dann nicht, wenn

 

Normenkette

DBA CHE Art. 4, 13; EStG § 19; AO § 162; OECD-MA 25; DBA CHE Art. 4 Abs. 2; AO § 162 Abs. 9-11

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Bf. Grenzgänger im Sinne von Art. 4 Abs. 2 des Abkommens zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern (DBAS) vom 15. Juli 1931 (RGBl 1934 II S. 38, RStBl 1934 S. 199, in Verbindung mit der Bekanntmachung der Bundesregierung über die Vermeidung von Doppelbesteuerungen im Verhältnis zur Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 27. Juni 1951, BGBl 1951 II S. 151, BStBl 1951 I S. 284) ist. Der Bf. hat seinen Wohnsitz in A. (Schweiz). Er ist Gesellschafter- Geschäftsführer der X.-GmbH in B. und außerdem Hauptaktionär und Vorstandsmitglied der Z.-AG in A. Bei der GmbH war der Bf. überwiegend im Außendienst tätig und im Wirtschaftsjahr 1955/1956 nach seinen Angaben an mehr als 130 Tagen für die GmbH in der Bundesrepublik auf Reisen. Das Finanzamt hat den Bf. für 1955 zunächst entsprechend seiner Einkommensteuererklärung nur mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zur Einkommensteuer herangezogen, die Bezüge aus seiner Arbeitnehmertätigkeit als Geschäftsführer der X.-GmbH dagegen nach Art. 4 Abs. 2 DBAS bei der Einkommensteuer unberücksichtigt gelassen. Im Anschluß an eine Betriebsprüfung bei der GmbH kam das Finanzamt zu der Auffassung, der Bf. sei kein Grenzgänger im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS, und der von der GmbH an ihn gezahlte Arbeitslohn unterliege daher entgegen der bisherigen Beurteilung durch das Finanzamt der deutschen Einkommensteuer. Es berichtigte die ursprüngliche Einkommensteuerveranlagung für 1955 gemäß § 222 AO und zog den Bf. auch mit seinen Gehaltsbezügen von der GmbH zur Einkommensteuer heran.

Die Sprungberufung des Bf. hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht ging davon aus, daß im Jahre 1936 ein Verständigungsverfahren zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich über den Begriff "Grenzgänger" im Sinne des Art. 4 Abs. 2 DBAS durchgeführt worden sei und dabei als Grenzgänger nur Personen bezeichnet worden seien, die in einem der beiden Staaten in der Nähe der Grenze arbeiteten und die sich morgens über die Grenze an ihre Arbeitsstätte begäben und abends wieder zu ihrem Wohnsitz zurückkehrten. In einem späteren, in den Jahren 1938 und 1939 durchgeführten Verständigungsverfahren hätten sich die obersten Verwaltungsbehörden der beiden Staaten dahin geeinigt, daß Art. 4 Abs. 2 DBAS nicht anwendbar sei, wenn der Wohnort in der Nähe der Grenze liege, der Arbeitsort aber von der Grenze 30 km und mehr entfernt sei, oder wenn umgekehrt zwar der Arbeitsort in der Nähe der Grenze liege, der Wohnsitz jedoch 30 km oder mehr von der Grenze entfernt sei. Diese Auslegungen seien durch ein internes Protokoll vom 11. Dezember 1953 bestätigt worden. Sie seien für die Finanzbehörden und Finanzgerichte verbindlich, da sie den Willen der an dem Doppelbesteuerungsabkommen beteiligten Staaten wiedergäben. Als "Grenzgänger" im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS kämen danach nur Personen in Betracht, die als Pendler die Grenze in beiden Richtungen täglich einmal überschritten. Das sei bei dem Bf. nicht der Fall, da er an mehr als 130 Tagen des Jahres im Bundesgebiet auf Reisen gewesen sei. Dieser Sachverhalt sei erst durch die bei der GmbH im Frühjahr 1958 durchgeführte Betriebsprüfung bekanntgeworden. Daß bei der Schlußbesprechung zunächst die Grenzgängereigenschaft des Bf. bejaht worden sei, sei unerheblich und ändere nichts an der Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagung.

Der Bf. führt zur Begründung seiner Rb. aus: Nach Art. 4 Abs. 2 DBAS seien die Arbeitseinkünfte der Grenzgänger in dem Staat zu versteuern, in dem sie ihren Wohnsitz hätten. Eine gesetzliche Festlegung des Begriffes "Grenzgänger" fehle. Als solche seien Personen anzusehen, bei denen die räumliche Entfernung zwischen dem Wohnort in dem einen und dem Arbeitsort in dem anderen Staat nicht allzu groß sei. Die in dem Verständigungsverfahren vorgenommene Abgrenzung, daß der Wohnort bzw. der Arbeitsort nicht weiter als 30 km von der Grenze entfernt liegen dürfe, sei zu billigen. In einem anderen Verständigungsverfahren sei zwar außerdem festgelegt worden, daß die Grenzgängereigenschaft voraussetze, daß in Grenznähe wohnende und arbeitende Personen morgens über die Grenze zur Arbeitsstätte gingen und am gleichen Tag an ihren Wohnsitz zurückkehrten. Dies sei jedoch nicht dahin zu verstehen, daß Personen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllten, keine Grenzgänger seien. Nach Art. 4 Abs. 2 DBAS komme die Besteuerung der Arbeitseinkünfte im Wohnsitzland für alle Personen in Betracht, die in dem einen Staat in der Nähe der Grenze ihren Wohnsitz und in dem anderen in der Nähe der Grenze ihren Arbeitsort hätten. Das Wort "Grenzgänger" sei dabei lediglich als Klammerzusatz verwendet. Daß ein Arbeitnehmer an jedem Arbeitstag zweimal die Grenze überschreiten müsse, sei aus dem Wortlaut des Abkommens nicht zu entnehmen. Die Regelung in Art. 4 Abs. 2 DBAS bezwecke, daß derjenige, der in Grenznähe wohne und im Nachbarland wiederum in Grenznähe seiner Arbeit nachgehe, mit seinen Arbeitseinkünften in seinem Wohnsitzland besteuert werde. Der tägliche Grenzübertritt sei demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. Auch wenn der Bf. aus beruflichen Gründen an 130 Tagen während des Jahres von seinem Arbeitsort B. entfernt gewesen sei, müsse Art. 4 Abs. 2 DBAS auf ihn angewendet werden. Die Nichtanwendung der Vorschrift bei der Berichtigungsveranlagung verstoße außerdem aber auch gegen Treu und Glauben; denn bei der Schlußbesprechung der Betriebsprüfung sei über alle streitigen Punkte eine Einigung erzielt worden, auch über die Grenzgängereigenschaft des Bf. Hieran sei das Finanzamt gebunden.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist nicht begründet.

Nach Art. 4 Abs. 1 DBAS werden die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit nach dem mit der Schweiz abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen vom 15. Juli 1931 in dem Staat besteuert, in dessen Gebiet die persönliche Tätigkeit des Arbeitnehmers ausgeübt wird. In Art. 4 Abs. 2 DBAS wird dieser Grundsatz nur für die sogenannten Grenzgänger durchbrochen, deren Arbeitseinkünfte in dem Staat zu besteuern sind, in dem sie ihren Wohnsitz haben. Der Grund für diese Sonderregelung dürfte darin liegen, daß die Grenzgänger den Mittelpunkt ihres Lebens an ihrem Wohnsitz haben und daß sie in dem Land, in dem sie arbeiten, lediglich ihrer Berufstätigkeit nachgehen, ohne engere Bindungen an dieses Land zu haben. Bei Grenzgängern handelt es sich erfahrungsgemäß in der Regel um wirtschaftlich schwächere Arbeitnehmer, bei denen durch die Besteuerung im Land ihres Wohnsitzes wohl erreicht werden soll, daß sie steuerlich nicht anders belastet werden als die Menschen, mit denen sie in ihrem Wohnort zusammenleben. Eine Besteuerung nach den Gesetzen des Staates, in dem sie arbeiten, könnte bei verschiedenen Steuersystemen mit unterschiedlicher Steuerbelastung im Staat ihres Wohnsitzes und ihres Arbeitsortes dazu führen, daß sie steuerlich besser oder schlechter behandelt werden als diejenigen, mit denen sie an ihrem Wohnort zusammenleben. Ob diese Erwägungen überhaupt für leitende Angestellte, insbesondere für gesetzliche Vertreter von juristischen Personen zutreffen, erscheint fraglich. Gegen die Zurechnung dieser Personen zu den Grenzgängern spricht die frühere Regelung in § 14 Abs. 3 StAnpG, die zur Zeit der hier streitigen Veranlagung allerdings bereits aufgehoben war und die auch wegen der Sonderregelung in Art. 8 DBAS für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits keine unmittelbare Bedeutung gehabt hätte. Daß die Direktoren und die Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften unter Umständen bei Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens eine Sonderstellung einnehmen, hat der Senat auch im Urteil VI 300/58 S vom 12. August 1960 (BStBl 1960 III S. 441, Slg. Bd. 71 S. 514) betont. Bereits auf Grund dieser Erwägungen könnte es daher bedenklich erscheinen, den Bf. als Grenzgänger im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS anzusehen. Diese Frage braucht jedoch nicht abschließend entschieden zu werden; denn der Bf. ist auf jeden Fall aus den vom Finanzgericht angeführten Gründen nicht zu den Personen zu rechnen, für die die Sonderregelung in Art. 4 Abs. 2 DBAS getroffen wurde. Wie das Finanzgericht zutreffend ausführt, haben die Vertragsparteien des deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens in einem im Jahre 1936 gemäß Art. 13 DBAS durchgeführten Verständigungsverfahren den Grenzgängerbegriff im Sinn von Art. 4 Abs. 2 des Abkommens u. a. wie folgt umschrieben (siehe Dr. H. J. Meyer-Marsilius, Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, Veröffentlichung der Handelskammer Deutschland-Schweiz 1959 S. 31):

"Als Grenzgänger werden nur die in dem einen Staat in der Nähe der Grenze arbeitenden Personen angesehen, die sich morgens über die Grenze zu ihrer Arbeitsstätte begeben und am gleichen Tage an ihren Wohnsitz zurückkehren ..."

Das Finanzgericht hat in der Vorentscheidung diese Abgrenzung zugrunde gelegt, weil diese von den Vertragsparteien gegebene Erläuterung des Begriffs "Grenzgänger" ihren Willen wiedergebe. Gegen diese Beurteilung bestehen keine rechtlichen Bedenken. Sie entspricht - wie oben ausgeführt - auch dem Sinn und Zweck des Doppelbesteuerungsabkommens. Daß diese Ausnahme von der grundsätzlichen Regelung nur für Personen gewollt ist, die sich lediglich für die Dauer ihrer in Grenznähe geleisteten Arbeit in den Nachbarstaat begeben und die nach Beendigung ihrer Tagesarbeit täglich wieder in das Land ihres Wohnsitzes zurückkehren, ist verständlich. Der täglichen Rückkehr in den Wohnsitzstaat kommt daher wesentliche Bedeutung zu. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, kann deshalb ein Arbeitnehmer als Grenzgänger im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS behandelt werden. Hält sich dagegen ein Arbeitnehmer - wie es der Bf. getan hat - im Rahmen seiner beruflichen Betätigung längere Zeit in weit von der Grenze entfernt liegenden Gebieten der Bundesrepublik auf, so fehlt die enge räumliche Bindung an seinen Wohnsitzstaat Schweiz. Die Ausnahmeregelung in Art. 4 Abs. 2 DBAS kann daher, wie das Finanzgericht zutreffend angenommen hat, auf ihr keine Anwendung finden. Das gleiche gilt umgekehrt auch für die in Deutschland wohnenden und in der Schweiz berufstätigen Arbeitnehmer. Keiner der an dem DBAS beteiligten Staaten ist daher benachteiligt oder hat gegenüber dem anderen Vorteile aus dieser Abgrenzung des Begriffes "Grenzgänger".

Auch der weitere Einwand des Bf., die Heranziehung seiner Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zur Einkommensteuer in der Bundesrepublik verstoße gegen Treu und Glauben, ist nicht begründet. Das Finanzgericht hat in einer den Senat nach § 288 Ziff. 1 AO bindenden Weise festgestellt, daß das Finanzamt erst durch die Betriebsprüfung im Jahre 1958 Kenntnis davon erhalten hat, daß der Bf. an mehr als 130 Tagen des Jahres im Bundesgebiet beruflich tätig war. Dieser Umstand rechtfertigt eine Neuveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO. Wenn auch bei der Schlußbesprechung aus dem Bekanntwerden dieser neuen Tatsache noch nicht sofort die entsprechenden rechtlichen Folgerungen gezogen wurden, so ist dies doch noch im Zuge der Auswertung der bei der Betriebsprüfung getroffenen Feststellungen geschehen. Selbst wenn bei der Schlußbesprechung die Grenzgängereigenschaft des Bf. ausdrücklich bejaht worden sein sollte, würde dies eine andere Beurteilung bei der Berichtigungsveranlagung nicht ausschließen; denn diese unrichtige Rechtsauffassung konnte im Zuge der Auswertung des Prüfungsberichts richtiggestellt werden, weil über den Steueranspruch nicht bei der Betriebsprüfung, sondern erst bei der Veranlagung durch das Finanzamt entschieden wird (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs VI 167/61 U vom 20. Juli 1962, BStBl 1963 III S. 23). Ebensowenig wäre übrigens der Steuerpflichtige an eine bei einer Schlußbesprechung gegebene Zusage gebunden (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs VI 299/61 U vom 6. Juli 1962, BStBl 1962 III S. 355). In dem endgültigen Prüfungsbericht vom 11. Juli 1958 wurde vom Betriebsprüfer zutreffend die Auffassung vertreten, daß der Bf. kein Grenzgänger im Sinne von Art. 4 Abs. 2 DBAS sei. Dieser endgültige Prüfungsbericht führte zu Verhandlungen zwischen dem Finanzamt und dem Bf., außerdem zur Anrufung der Oberfinanzdirektion Y. und schließlich zur Vornahme einer berichtigten Einkommensteuerveranlagung für 1955. Die Berichtigung der durch die Betriebsprüfung als fehlerhaft festgestellten ursprünglichen Veranlagung für das Streitjahr 1955 verstößt unter diesen Umständen nicht gegen Treu und Glauben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410773

BStBl III 1963, 212

BFHE 1963, 580

BFHE 76, 580

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