Entscheidungsstichwort (Thema)

Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Steuerbescheides im Revisionsverfahren nach revisionsrechtlichen Maßstäben zu beurteilen

 

Leitsatz (NV)

1. Zur notwendigen Begründung des FG-Urteils.

2. Bekanntgabe von Einkommensteuerbescheiden an Ehegatten.

3. Zur Verletzung rechtlichen Gehörs bei unzureichender Erörterung der Streitsache.

 

Normenkette

FGO §§ 69, 116 Nr. 5, § 119 Nrn. 3, 5; AO 1977 § 122 Abs. 2, § 155

 

Tatbestand

Die Antragsteller sind miteinander verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Anstragsteller unterhielt einen Gewerbebetrieb. Eine zunächst für die Veranlagungszeiträume 1980 bis 1982 angeordnete Außenprüfung wurde auf die Veranlagungszeiträume 1971 bis 1979 erweitert. Nach Auffassung des Prüfers ergaben sich ungeklärte Vermögenszuwächse, die zu Hinzuschätzungen führten.

Der Antragsgegner (das Finanzamt - FA -) folgte dieser Beurteilung. Die Änderungsbescheide für 1974, 1976, 1978 bis 1982 ergingen am 14. November 1984, die für 1971, 1972 und 1977 am 13. Dezember 1984 und die für 1973 und 1975 am 19. Dezember 1984. Mit Schreiben vom 26. November 1984 - beim FA eingegangen am 5. Dezember 1984 - erhoben die Antragsteller Einspruch. Die Einsprüche wurden mangels näherer Begründung zurückgewiesen.

Bezüglich der (noch streitbefangenen) Bescheide 1971 bis 1973, 1975 und 1977 wies das Finanzgericht (FG) die Klage ab; im übrigen hob es die angefochtenen Bescheide 1974, 1976 bis 1981 gemäß § 100 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf.

Zur Begründung führte das FG aus, daß die Bescheide, die zwar an die Antragsteller gerichtet, aber nur dem Antragsteller unter seiner Geschäftsadresse bekanntgegeben worden seien, weder nichtig noch unwirksam seien. Es genüge, daß ein zusammengefaßter Bescheid in den ,,Machtbereich" eines Empfängers gelange, sofern sich die zusammenveranlagten Personen gegenseitig zur Empfangnahme bevollmächtigt hätten. Die in § 155 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO 1977) vorgesehene Übermittlung unter der gemeinsamen Anschrift sei nicht erforderlich. Im übrigen wäre ein Bekanntgabefehler in entsprechender Anwendung des § 9 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) geheilt.

Die Bescheide seien bestandskräftig geworden, da die vor Bekanntgabe erhobenen Einsprüche unzulässig und gegenstandslos seien.

Mit der zugleich eingelegten Revision machen die Antragsteller geltend, daß die Entscheidung des FG nicht mit Gründen versehen sei. Die Begründung des FG stütze sich auf den erst am 1. Januar 1986 in Kraft getretenen § 155 Abs. 5 AO 1977. Das Gericht setze sich mit dem im Zeitpunkt der Übermittlung der Bescheide geltenden Recht nicht auseinander.

Daneben haben die Antragsteller Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Klärungsbedürftig seien die Fragen, ob § 155 Abs. 5 AO 1977 auf Bescheide, die vor dem 1. Januar 1986 ergangen seien, angewandt werden könne, ob es genüge, daß der Bescheid in den Machtbereich nur eines Empfängers gelange, und ob aus der durch Vordrucke erzwungenen gemeinsamen Unterschrift auf eine Bevollmächtigung geschlossen werden könne. Die sog. ,,Regelrechtsprechung" des Bundesfinanzhofs (BFH) habe keine allgemeine Anerkennung gefunden.

Von grundsätzlicher Bedeutung sei auch die Frage, ob § 9 VwZG analog angewendet werden könne.

Darüber hinaus weiche das FG-Urteil von der Rechtsprechung des BFH ab. Die Aussage, daß die Ehegatten durch die Wahl der Zusammenveranlagung als gegenseitige Bevollmächtigte gelten, bedeute eine Abweichung von der sog. Regelrechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 19. Mai 1987 VIII R 39/83, BFHE 149, 518, BStBl II 187, 590); die generelle Aussage, daß Einsprüche gegen Bescheide vor deren Bekanntgabe unzulässig seien, stehe im Widerspruch zu dem Urteil vom 25. Januar 1983 VIII R 54/79 (BFHE 137, 544, BStBl II 1983, 543).

Auch habe das FG das Recht der Antragsteller auf rechtliches Gehör verletzt. § 155 Abs. 5 AO 1977 und § 9 VwZG seien in der mündlichen Verhandlung nicht angesprochen worden; auch sei das FG nicht auf die zu frühe Einlegung des Einspruchs eingegangen.

Den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stützen die Antragsteller auf § 69 Abs. 2 Satz 1 FGO. An der Rechtmäßigkeit der Bescheide ergäben sich nach den Ausführungen zur Begründung der Revision und der Nichtzulassungsbeschwerde erhebliche Zweifel. Die Aufrechterhaltung der Vollziehbarkeit sei außerdem eine unbillige, nicht durch öffentliche Interessen gebotene Härte. Zur Abwehr der Vollstreckung hätten die Antragsteller . . . DM gezahlt; für 1977 bestehe noch ein Rückstand in Höhe von . . . DM.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag ist unbegründet.

1. An der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide bestehen keine ernstlichen Zweifel. Bei einem bereits in der Revisionsinstanz schwebenden Rechtsstreit ist diese Frage nach revisionsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Ernstliche Zweifel am Bestand der angefochtenen Bescheide können nur dann vorliegen, wenn unter Beachtung der eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsaktes zu rechnen ist.

a) Die Entscheidung des FG war mit Gründen versehen. Eine Entscheidung ist nicht mit Gründen versehen, wenn das Gericht selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergeht und der Entscheidung nicht zu entnehmen ist, welcher Sachverhalt ihr zugrunde liegt oder auf welche rechtlichen Erwägungen die Entscheidung gestützt wird (vgl. BFH-Beschluß vom 30. Juli 1990 V R 49/87, BFH/NV 1991, 325). Ein Mangel i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt dagegen nicht vor, wenn die Begründung (lediglich) lückenhaft, ungenügend, widersprüchlich, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend ist.

Mängel in diesem Sinne sind nicht erkennbar; das FG hat sich eingehend mit der Frage der Bekanntgabe auseinandergesetzt.

b) Auch über die Nichtzulassungsbeschwerde können die Antragsteller nicht zum Erfolg gelangen.

aa) Die von den Antragstellern dargestellten Rechtsfragen haben keine grundsätzliche Bedeutung i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO; Klärungsbedarf ist nicht vorhanden.

(1) Nach der in den Streitjahren maßgeblichen Rechtslage hat die Rechtsprechung des BFH grundsätzlich die Bekanntgabe einer Ausfertigung an zusammenveranlagte Eheleute genügen lassen, da bei Abgabe einer gemeinsamen Steuererklärung, die von beiden unterschrieben ist, davon ausgegangen werden könne, daß sich die Eheleute stillschweigend gegenseitig zur Empfangnahme der Bescheide bevollmächtigt hätten; eine Ausnahme gelte z. B. im Falle des Getrenntlebens, da hier die Annahme gegenseitiger Bevollmächtigung zweifelhaft sei (vgl. BFH-Urteile vom 5. November 1981 IV R 179/79, BFHE 134, 395, BStBl II 1982, 208; vom 26. März 1985 VIII R 225/83, BFHE 143, 491, BStBl II 1985, 603; in BFHE 149, 518, BStBl II 1987, 590, und vom 16. Mai 1990 X R 147/87, BFHE 161, 398, BStBl II 1990, 942).

Klärungsbedarf besteht auch nicht hinsichtlich der Frage, ob die Geschäftsadresse zum Machtbereich des Steuerpflichtigen gehört. Nach der allgemeinen Definition ist ein Verwaltungsakt zugegangen, wenn er derart in den Machtbereich des Bekanntgabeadressaten gelangt ist, daß diesem die Kenntnisnahme möglich war und nach den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs auch erwartet werden konnte (BFH-Urteil vom 14. März 1990 X R 104/88, BFHE 160, 207, BStBl II 1990, 612; ständige Rechtsprechung).

Nach dieser Definition macht es grundsätzlich keinen Unterschied, ob der Verwaltungsakt an die Wohnadresse oder an die Geschäftsadresse gerichtet ist. Ob die tatsächlichen Voraussetzungen, die für den Zugang erforderlich sind, vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalles.

(2) Die Anwendbarkeit des § 155 AO 1977 ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz, nämlich ab 1. Januar 1986 (vgl. Art. 1 Nr. 22 Buchst. b, Art. 25 Abs. 2 des Steuerbereinigungsgesetzes - StBereinG - vom 19. Dezember 1985, BGBl I 1985, 2436, BStBl I 1985, 735).

(3) Auch die Frage der Heilung eines Bekanntgabemangels bei der Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO 1977 ist beantwortet (vgl. BFH-Urteile vom 8. Dezember 1988 IV R 24/87, BFHE 155, 472, BStBl II 1989, 346, und vom 14. Dezember 1989 III R 49/89, BFH/NV 1991, 288).

bb) Das angefochtene Urteil weicht nicht von den Urteilen in BFHE 137, 544, BStBl II 1983, 543, und in BFHE 149, 518, BStBl II 1987, 590 ab.

In dem Fall des Urteils in BFHE 137, 544, BStBl II 1983, 543 hatte das FA bereits den Anschein der Bekanntgabe erweckt, so daß sich der insoweit erhobene Einspruch auch auf den später zugestellten Teil des Bescheides erstreckte. Im Streitfall waren die angefochtenen Bescheide zum Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs weder ganz noch teilweise bekanntgegeben worden; auch den Anschein einer Bekanntgabe hatte das FA nicht hervorgerufen.

Ebenso ist nicht erkennbar, daß das angefochtene Urteil von dem Urteil in BFHE 149, 518, BStBl II 1987, 590 abweicht. Dieses Urteil enthält im Kern die Aussage, daß bei zusammenveranlagten Eheleuten ein Verspätungszuschlag in einem zusammengefaßten Bescheid festgesetzt werden kann. Eine Abweichung von diesem Urteil ist nicht ersichtlich.

cc) Die Entscheidung des FG beruht nicht auf der Verletzung rechtlichen Gehörs. In dem Protokoll über die mündliche Verhandlung wird ausdrücklich hervorgehoben, daß der Rechtsstreit in verfahrensrechtlicher Hinsicht ausführlich erörtert wurde. Es ist daher ausgeschlossen, daß das FG seine Entscheidung auf einen mit den Beteiligten nicht erörterten neuen rechtlichen Gesichtspunkt gestützt hat (dazu vgl. BFH-Urteil vom 19. September 1990 X R 79/88, BFHE 162, 199, BStBl II 1991, 100). Daß bei der Erörterung möglicherweise nicht alle für die Entscheidung maßgeblichen Rechtsnormen im einzelnen angesprochen sein sollten, führt nicht zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (vgl. BFH-Urteile vom 25. Februar 1976 I R 77/74, BFHE 118, 361, BStBl II 1976, 431, und vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, BStBl II 1984, 697).

2. Die Vollziehung der angefochtenen Bescheide hat keine unbillige Härte zur Folge. Eine Aussetzung der Vollziehung gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 2. Alternative FGO kann nur in Betracht kommen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Hat der Rechtsbehelf - wie im Streitfall - in der Hauptsache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg, ist die Aussetzung der Vollziehung zu versagen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. Dezember 1967 IV B 26/67, BFHE 90, 318, BStBl II 1968, 84, und vom 19. April 1968 IV B 3/66, BFHE 92, 314, BStBl II 1968, 538).

 

Fundstellen

Haufe-Index 418441

BFH/NV 1992, 641

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