Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewährung von Akteneinsicht durch Überlassung von Aktenbestandteilen

 

Leitsatz (NV)

1. Die Entscheidung über die Versendung, Aushändigung oder Übersendung der Akten zum Zwecke der Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist eine Ermessensentscheidung, die der BFH im Beschwerdeverfahren selbst treffen kann.

2. Pflichtgemäßer Ermessensausübung kann es unter bestimmten Umständen entsprechen, einem Stpfl. im Klageverfahren gegen einen Einkommensteuerbescheid Belege wieder auszuhändigen, damit er die für die Anerkennung von Werbungskosten notwendigen Zuordnungen vornehmen kann.

3. Gemäß § 78 FGO ist nicht das FA, sondern das FG zur Gewährung von Akteneinsicht verpflichtet.

 

Normenkette

FGO § 78

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Der Antragsteller und Beschwerdegegner (Antragsteller) unterhielt in den Streitjahren einen umfangreichen Wertpapierbestand. In den Anlagen KSO seiner Einkommensteuererklärungen führte er die aus den Wertpapieren erzielten Einnahmen aus Kapitalvermögen sowie die anzurechnenden Körperschaft- und Kapitalertragsteuern auf. Außerdem machte er in erheblichem Umfang Schuldzinsen aus einem Kontokorrentkonto, über das er die Anschaffungskosten von Wertpapieren finanziert hatte, als Werbungskosten geltend. Zum Nachweis seiner Angaben reichte er u. a. Depotauszüge sowie mehrere hundert Erträgnisgutschriften (Dividendengutschriften, Zinsgutschriften) ein.

Im Anschluß an eine abgekürzte Außenprüfung erkannte der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt - FA -) in gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheiden die Schuldzinsen nicht an, weil die fremdfinanzierten Anlagen seiner Ansicht nach nicht in Einkunftserzielungsabsicht erworben worden waren.

In dem dagegen geführten Klageverfahren, das bei dem Finanzgericht (FG) anhängig ist, gab der Berichterstatter mit Verfügung vom 20. September 1988 dem Antragsteller auf, für jedes einzelne in den Streitjahren besessene Wertpapier anzugeben, welche Kapitalerträge das betreffende Wertpapier erbracht und welche Schuldzinsen er zur Finanzierung der Anschaffungskosten dieses Wertpapieres gezahlt habe.

Daraufhin begehrte der Antragsteller, ihm zur Erfüllung der gerichtlichen Verfügung die Dividendengutschriften der Jahre 1981 bis 1984 sowie die Depotaufstellungen der Banken zum 1. Januar 1982 bis 1. Januar 1985 leihweise herauszugeben.

Mit Beschluß vom 27. Januar 1988 gab das FG dem Antrag in der Form statt, daß es dem FA aufgab, dem Antragsteller die Unterlagen auszuhändigen.

Dagegen hat das FA Beschwerde eingelegt, mit der es im wesentlichen Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) rügt.

Das FA beantragt, den Beschluß des FG vom 27. Januar 1989 aufzuheben und den Antrag abzuweisen, hilfsweise, das FG zur anderweitigen Ausübung des Ermessens dahingehend zu verpflichten, daß dem Antragsteller Einsicht in die dem Gericht vorgelegten Akten zu gewähren ist, ihm die Aushändigung von Teilen der Akten jedoch nicht zusteht.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde ist zulässig, aber im wesentlichen unbegründet.

1. Die Entscheidung des FG über den Antrag auf Aushändigung der Belege ist mit der Beschwerde anfechtbar (§ 128 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Entscheidungen der FGe über die Art und Weise der Gewährung von Akteneinsicht sind keine prozeßleitenden Verfügungen i. S. des § 128 Abs. 2 FGO (vgl. BFH-Beschlüsse vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; vom 29. April 1987 VIII B 4/87, BFH/NV 1987, 796; vom 17. Januar 1989 X B 180/88, BFH/NV 1989, 645).

2. Das FG hat zu Recht angenommen, daß die Erträgnisgutschriften und die Depotaufstellungen dem Antragsteller auszuhändigen sind.

Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO haben die Beteiligten nur den Anspruch, die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einzusehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen zu lassen. Die Entscheidung über Versendung, Aushändigung oder Übersendung der Akten zum Zwecke einer Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist dagegen eine Ermessensentscheidung (vgl. Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; in BFH/NV 1987, 796; in BFH/NV 1989, 645).

Der erkennende Senat kann sich entgegen der Auffassung des FA nicht auf eine Überprüfung der Ermessensausübung durch das FG beschränken. Der BFH ist als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und deshalb gehalten, eigenes Ermessen auszuüben (vgl. Beschluß in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475, m. w. N.).

Bei dem Gebrauch des Ermessens ist der vom Gesetzgeber in § 78 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten. Danach ist den Beteiligten grundsätzlich zuzumuten, sich zur Ausübung ihres Rechts auf Akteneinsicht zum Gericht zu begeben. Ausnahmen von diesem Grundsatz können sich daraus ergeben, daß aufgrund besonderer Umstände eine Einsichtnahme in die Akten in der Geschäftsstelle undurchführbar oder für die Beteiligten unzumutbar ist (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 26. August 1981 2 BvR 637/81, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1982, 77). Immer muß es sich jedoch um einen Sonderfall handeln. Ein solcher ist nicht etwa schon im Hinblick auf die mit jeder Einsichtnahme bei Gericht verbundenen Zeitaufwendungen, Unbequemlichkeiten oder wirtschaftlichen Nachteilen mehr oder minder großen Gewichts gegeben. Anderenfalls würde das vom Gesetzgeber gewollte Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil verkehrt (vgl. Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; BFH/NV 1987, 796; BFH/NV 1989, 645).

In Anwendung dieser Grundsätze ist es gerechtfertigt, dem Antragsteller die Unterlagen zur Einsichtnahme auszuhändigen. Im Streitfall geht es nicht allein darum, daß ein umfangreicher Akteninhalt, bestehend aus Erklärungen, Schriftverkehr, einzelnen Belegen usw. auf seine Prozeßerheblichkeit durchzusehen ist. Die Besonderheiten bestehen vielmehr darin, daß der Antragsteller die mehreren hundert Erträgnisgutschriften und Depotauszüge einzeln auswerten muß. Er muß die Einnahmen für jedes von ihm erworbene und später wieder veräußerte Wertpapier und die auf die Anschaffungskosten eines jeden Papiers entfallenden Schuldzinsen durch Abgleich mit den Salden auf dem Bankkonto ermitteln. Angesichts des hohen Umschlags an Wertpapieren wäre die Durchführung solcher Arbeiten an Gerichtsstelle nicht nur nicht sachdienlich, sondern auch durch das Interesse, Verlustrisiken zu vermeiden, nicht gerechtfertigt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es nicht um die Herausgabe der kompletten Steuerakten geht, sondern lediglich um die vom Antragsteller zum Nachweis seiner Angaben mit den Steuererklärungen vorgelegten Belege. Diese haben ihre Funktion als Nachweismittel zumindest teilweise erfüllt. Der Antragsteller hat die Einnahmen aus den Wertpapieren sowie die anzurechnenden Körperschaft- und Kapitalertragsteuerbeträge in seinen Steuererklärungen angegeben und das FA hat deren Richtigkeit überprüft. Streit bestehe hinsichtlich dieser Beträge nicht.

Der Antragsteller kann schließlich auch nicht darauf verwiesen werden, sich etwa Fotokopien von den Belegen anfertigen zu lassen. Unter den genannten Umständen ist es für den Antragsteller unzumutbar, die damit verbundenen nicht unerheblichen Kosten zu tragen.

3. Rechtswidrig ist der angefochtene Beschluß aber insoweit, als dem FA die Aushändigung der streitigen Aktenbestandsteile aufgegeben wurde. Gemäß § 78 FGO ist nicht das FA, sondern das FG zur Gewährung von Akteneinsicht verpflichtet. Bei ihm können die Gerichtsakten und vorgelegten Akten eingesehen werden und von ihm sollen Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilt werden. Das FG muß daher entscheiden, ob und in welcher Art und Weise es Akteneinsicht zuläßt, und es muß die für die Ermöglichung der Akteneinsicht erforderlichen Maßnahmen selbst durchführen. Eine Rechtsgrundlage dafür, das FA in den Vorgang der Einsichtgewährung einzubeziehen und ihm eigene Aufgaben zu übertragen, bietet § 78 FGO nicht. Etwas anderes kann sich auch nicht aus der Überlegung des FG ergeben, daß das FA die ihm gehörigen Steuerakten führt. § 78 FGO beinhaltet eine spezialgesetzliche Aufgabenzuweisung für das finanzgerichtliche Verfahren. Das FG kann sich allenfalls im Wege der Amtshilfe (§ 13 FGO) an das FA wenden, wenn die Unterstützung des FA bei der Durchführung der Akteneinsicht zweckmäßig ist. Davon hat das FG aber erkennbar keinen Gebrauch gemacht und auch keinen Gebrauch machen wollen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 416906

BFH/NV 1991, 99

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