Leitsatz (amtlich)

1. Eine Abweichung von der Entscheidung eines Senats im Sinn des § 11 Abs. 3 FGO liegt auch dann vor, wenn ein in verschiedenen Gesetzen verwendeter gleicher Rechtsbegriff unterschiedlich ausgelegt wird.

2. Ein Pflegekindschaftsverhältnis ist steuerrechtlich in den Fällen nicht anzuerkennen, in denen der "Pflegevater" nicht nur ein Kind, sondern auch die Mutter des Kindes in seinen Haushalt aufnimmt und mit dieser gemeinsam die Obhut und Pflege des Kindes ausübt.

 

Normenkette

FGO § 11 Abs. 3; VStG § 5 Abs. 1 Nr. 3; EStG § 32 Abs. 2 Nr. 3

 

Tatbestand

I. 1. Der III. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat durch Beschluß III R 108/66 vom 15. Mai 1970 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 99 S. 142 - BFH 99, 142 -, BStBl II 1970, 559) den Großen Senat des BFH nach § 11 Abs. 3 FGO, hilfsweise nach § 11 Abs. 4 FGO, zur Entscheidung folgender Rechtsfrage angerufen:

Ist steuerlich ein Pflegekindschaftsverhältnis auch in den Fällen anzuerkennen, in denen der Pflegevater nicht nur ein Kind, sondern auch die Mutter des Kindes in seinen Haushalt aufnimmt und mit dieser gemeinsam die Obhut und Pflege des Kindes ausübt?

2. In dem bei dem III. Senat anhängigen Revisionsverfahren ist streitig, ob dem Kläger (Steuerpflichtiger) bei seiner auf den 1. Januar 1965 vorzunehmenden Vermögenssteuerveranlagung (nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG) ein Freibetrag für seinen unehelichen Sohn wegen Vorliegens eines Pflegekindschaftsverhältnisses zusteht. Der Steuerpflichtige lebte am Veranlagungsstichtag mit dem Kind und der Mutter des Kindes in gemeinsamem Haushalt zusammen, so, als ob er mit der Mutter verheiratet und er der eheliche Vater des Kindes wäre. Hinsichtlich Obhut, Fürsorge, Unterhalt und Erziehung hatte er die tatsächliche Stellung eines Familienvaters. Das Kind ist in dem gemeinsamen Heim aufgewachsen und erhielt auch den Namen des Steuerpflichtigen. Eine Ehelichkeitserklärung (§ 1723 BGB a.F.) hat nicht stattgefunden.

Das Finanzamt (FA) versagte den Freibetrag, da der Sohn kein Pflegekind sei. Das Finanzgericht (FG) bestätigte unter Bezugnahme auf die ständige Rechtsprechung des BFH (vgl. Grundsatzentscheidung VI 99/62 S vom 14. Januar 1962, BFH 76, 342, BStBl III 1963, 124) die Entscheidung des FA, da das Kind nicht vollständig aus dem Obhuts- und Pflegekindsverhältnis zu seiner leiblichen Mutter ausgeschieden sei.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassenen Revision beantragt der Steuerpflichtige, das Urteil des FG aufzuheben und ihm den beantragten Freibetrag zu gewähren. Er ist der Auffassung, daß das FG ein Pflegekindschaftsverhältnis zu Unrecht verneint habe.

3. Nach Ansicht des III. Senats ist dem Steuerpflichtigen der Freibetrag nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG zu gewähren, da ein Pflegekindschaftsverhältnis anzuerkennen sei. Das Kind werde vom Steuerpflichtigen auf die Dauer wie ein eigenes Kind betreut (Hinweis auf BFH-Urteil VI 394/65 vom 24. Mai 1968, BFH 93, 53, BStBl II 1968, 674). Die Rechtsprechung des VI. Senats, die darüber hinaus die völlige Lösung der natürlichen Beziehung zwischen den leiblichen Eltern und dem Kinde verlange (vgl. BFH-Urteil VI 99/62 S, a.a.O.), sei zu eng.

Ein Pflegekindschaftsverhältnis müsse steuerlich auch dann anerkannt werden, wenn die Mutter des Kindes ebenfalls im Haushalt des Pflegevaters lebe und dem Pflegevater tatsächlich die Obhut und Pflege des Kindes in dem Umfange überlasse, wie wenn sie mit ihm verheiratet wäre. Es sei nicht entscheidend, ob bürgerlich-rechtlich die Obhut und Pflege allein der Mutter zustünden. Die Sorge für die Person des Kindes könne gerade darin bestehen, daß das Kind einer dritten Person als Pflegekind überlassen werde (vgl. BFH-Urteil IV 359/52 U vom 17. Dezember 1952, BFH 57, 186, BStBl III 1953, 74).

Der III. Senat sieht sich an einer Entscheidung in diesem Sinne durch die angeführte Rechtsprechung des VI. Senats gehindert. Auf Anfrage habe der VI. Senat mitgeteilt, daß er bei seiner Rechtsprechung verbleibe. Die Anrufung des Großen Senats nach § 11 Abs.3 FGO sei deshalb geboten. Für den Fall, daß eine Anrufung nach § 11 Abs.3 FGO für unzulässig gehalten werde, lege der III. Senat die Rechtsfrage dem Großen Senat nach § 11 Abs.4 FGO zur Entscheidung vor, weil es sich um eine grundsätzliche Rechtsfrage handle und die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Entscheidung des Großen Senats erforderten.

4. In seiner Stellungnahme zu dem Anrufungsbeschluß des III. Senats weist der Steuerpflichtige auf das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969 (Bundesgesetzblatt I S. 1243 --BGBl I, 1243--) hin. Durch dieses Gesetz sei die bisherige Vorschrift des § 1589 Abs.2 BGB, derzufolge der Vater mit seinem nichtehelichen Kind als nicht verwandt gelte, gestrichen worden. Die einschlägigen steuerlichen Vorschriften müßten zeitgemäß ausgelegt werden.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

II.

Die Anrufung des Großen Senats ist zulässig.

1. Der Große Senat entscheidet, weil der III. Senat in der bezeichneten Rechtsfrage von einer Entscheidung des VI. Senats abweichen will (§ 11 Abs. 3 FGO). Zwar liegt der Auslegung des Begriffs Pflegekind durch den VI. Senat die Vorschrift des § 32 Abs. 2 Nr. 3 EStG zugrunde, während für den vorlegenden III. Senat § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG maßgebend ist. Eine Anrufung des Großen Senats ist aber nicht nur bei unterschiedlicher Auslegung derselben Gesetzesvorschrift erforderlich, sondern auch dann, wenn der gleiche Rechtsgrundsatz oder -begriff in verschiedenen Gesetzen zum Ausdruck kommt und von zwei Senaten unterschiedlich aufgefaßt und gehandhabt wird (vgl. Beschluß des Großen Senats des Bundesgerichtshofs - BGH - für Zivilsachen GSZ 1-3/53 vom 30. März 1963, Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 9 S. 179 - BGHZ 9, 179 -). Der Begriff des Pflegekindes muß im Vermögensteuerrecht und im Einkommensteuerrecht (Lohnsteuerrecht) einheitlich ausgelegt werden. Dafür spricht bereits, daß der Begriff in der für das Gesamtgebiet des Steuerrechts geltenden Vorschrift des § 10 Nr. 6 StAnpG aufgeführt ist. Vor allem ergibt sich die Notwendigkeit übereinstimmender Auslegung aus dem besonderen Verhältnis der Vermögensteuer zur Einkommensteuer. Das VStG bezweckt eine Ergänzung des EStG, wie sich bereits aus der geschichtlichen Entwicklung des Vermögensteuerrechts ergibt (vgl. Fuisting, Die Preußischen direkten Steuern, 2. Bd.: Kommentar zum Ergänzungssteuergesetz, 2. Aufl., 1905, Anm. 1 und 2 zu § 1; Dürschke, Kommentar zum Vermögensteuergesetz, 4. Aufl., 1970, S. 268 f.). Das Verhältnis der beiden gesetzlichen Regelungen kommt auch äußerlich darin zum Ausdruck, daß die Vorschriften des § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG und des § 32 Abs. 2 Nr. 3 EStG (§ 8 Abs. 2 LStDV) bei der Bezeichnung der einzelnen Gruppen steuerlich berücksichtigungsfähiger Kinder und in der Reihenfolge ihrer Aufzählung wörtlich übereinstimmen.

2. Da die Anrufung nach § 11 Abs. 3 FGO zulässig ist, braucht der Große Senat zu der unter dem Gesichtspunkt grundsätzlicher Bedeutung nach § 11 Abs. 4 FGO lediglich hilfsweise beschlossenen Vorlage nicht Stellung zu nehmen. Er entscheidet deshalb nur auf Grund der Divergenz-Anrufung in der für diesen Fall maßgebenden Besetzung (§ 11 Abs. 2 Satz 2 FGO).

III.

1. Bei der Entscheidung der vorgelegten Rechtsfrage ist außer Betracht zu lassen, daß der Steuerpflichtige der leibliche Vater des Kindes ist, mit dem er und die Mutter des Kindes zusammenleben. Die zur Entscheidung vorgelegte Rechtsfrage bezieht sich allgemein auf die Fälle, "in denen der Pflegevater nicht nur ein Kind, sondern auch die Mutter des Kindes in seinen Haushalt aufnimmt". Gleichwohl hat der Große Senat dazu Stellung zu nehmen, ob bei der Bestimmung der Merkmale eines Pflegekindschaftsverhältnisses dem Umstand Bedeutung zukommt, daß die Pflegeperson der uneheliche Vater des Kindes ist (unten 2.).

a) Der Begriff Pflegekind ist in den Steuergesetzen nicht bestimmt. Der Wortsinn läßt verschiedene Deutungen zu. Der Ausdruck ist dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen. Nach Auffassung des RFH, der sich darin in Übereinstimmung mit der Volksanschauung sah, lag ein Pflegekindschaftsverhältnis nur vor, wenn ein Kind tatsächlich mit Willen und Wissen seiner leiblichen Eltern aus deren Obhut und Fürsorge ausgeschieden war und im Haushalt des Pflegevaters seine Heimat hatte (vgl. Urteil VI A 80/37 vom 3. Februar 1937, Sammlung der Entscheidungen und Gutachten des Reichsfinanzhofs Bd. 41 S. 87 - RFH 41, 87 -, RStBl 1937, 868). In ähnlicher Weise hatte bereits das Preußische Oberverwaltungsgericht in dem zur Einkommensteuer ergangenen Urteil VI 19/97 vom 6. Dezember 1897 (Entscheidungen in Staatssteuersachen Bd. 6 S. 282) Pflegekinder als fremde, für dauernd zur Pflege aufgenommene Kinder bezeichnet.

Das geltende bürgerliche Recht kennt im Gegensatz zu früheren, bis zum Inkrafttreten des BGB in Geltung gewesenen Partikularrechten das Institut der Pflegekindschaft nicht (vgl. Staudinger, Kommentar zum BGB, Rdnr. 72 f. vor § 1741). Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) verstand unter einem Pflegekind "ein von seinen Eltern verlassenes Kind" (Teil II, § 753). Der Begriff des Pflegekindes spielt auch in verschiedenen Gebieten des geltenden öffentlichen Rechts eine Rolle. Dabei zeigen sich unterschiedliche Merkmale, die ihre Erklärung in den verschiedenen Zwecken der gesetzlichen Regelungen finden und die deshalb für das Steuerrecht nicht übernommen werden können (vgl. § 52 Abs. 2 Strafgesetzbuch; §§ 4, 31 Jugendwohlfahrtsgesetz; § 18 Abs. 1 Nr. 5 Bundesbesoldungsgesetz; § 2 Abs. 1 Nr. 6 Bundeskindergeldgesetz; § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Reichsversicherungsordnung; § 39 Abs. 2 Nr. 7 Angestelltenversicherungsgesetz; § 60 Abs. 2 Nr. 7 Reichsknappschaftsgesetz; § 7 Abs. 1 Nr. 7 und Abs. 2 Wohngeldgesetz). Der Begriff wird bald in engerem, bald in weiterem Sinne verwendet. Sowohl die engere Auslegung nach der bisherigen Steuerrechtsprechung als auch die vom III. Senat vertretene Auslegung halten sich im Rahmen des möglichen Wortsinns des § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG und des § 32 Abs. 2 Nr. 3 EStG. Der maßgebende Sinn ergibt sich deshalb aus dem inneren Zusammenhang und dem Zweck dieser Vorschriften.

b) Gesetzessystematische Erwägungen sprechen für die engere Auslegung.

Das Gesetz stellt Pflegekinder in eine Reihe mit ehelichen Kindern, ehelichen Stiefkindern, für ehelich erklärten Kindern, Adoptivkindern und unehelichen Kindern im Verhältnis zur leiblichen Mutter. Das Pflegekindschaftsverhältnis muß daher den anderen genannten Kindschaftsverhältnissen ähnlich sein. Es erfordert ein besonders enges familiäres Band. Das ergibt sich schon daraus, daß das Pflegekindschaftsverhältnis steuerrechtlich unter Umständen sogar über das 25. (27.) Lebensjahr des Kindes hinauswirken und weiterhin zur Gewährung von Kinderfreibeträgen führen kann (§ 5 Abs. 1 Nr. 3 Sätze 3, 5 und 6 VStG, § 32 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Das familiäre Band ist um so wichtiger, als der Begriff nicht die Haushaltszugehörigkeit des Kindes voraussetzt (vgl. BFH-Urteil IV 102/54 U vom 17. März 1955, BFH 60, 419, BStBl III 1955, 161). Das ist vor allem deshalb bedeutsam, weil das Pflegekind unter Umständen in die Zusammenveranlagung mit dem Pflegevater einzubeziehen ist. Zwar ist für das Gebiet der Einkommensbesteuerung die Zusammenveranlagung von Eltern und Kindern (früher § 27 EStG) inzwischen beseitigt worden. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Begriff Pflegekind zu einer Zeit in das EStG aufgenommen wurde, als die einkommensteuerrechtliche Zusammenveranlagung - vor allem mit der Wirkung für die Tarifprogression - noch bestand. Wenngleich dieses Institut der Zusammenveranlagung inzwischen aufgehoben wurde, so blieb jedoch der Pflegekindbegriff hierdurch unberührt. Für das Vermögensteuerrecht gilt die Zusammenveranlagung weiter (§ 11 Abs. 2 VStG). Die Vorschrift ist verfassungsgemäß (vgl. BFH-Urteil III 19/65 vom 1. Dezember 1967, BFH 91, 254, BStBl II 1968, 332; Beschluß des BVerfG 1 BvL 7/65 vom 6. Februar 1968, BStBl II 1968, 133). Für die Auslegung der Vorschrift ist die zu dem früheren § 27 EStG ergangene Rechtsprechung weiterhin sinngemäß anwendbar. Danach kann, wenn ein Kind in mehreren Kindschaftsverhältnissen steht, unter Umständen das Pflegekind vorgehen und die Zusammenveranlagung mit diesem vorzunehmen sein (vgl. BFH-Urteil IV 398/54 U vom 24. November 1955, BFH 62, 41, BStBl III 1956, 16).

Setzt nach alledem der im VStG und im EStG verwendete Begriff des Pflegekindes ein besonders enges, tatsächlich bestehendes familiäres Band zu den Pflegeeltern voraus, so ist es durch die Natur der Sache ausgeschlossen, daß das Kind gleichzeitig auch zu anderen Personen solche engen tatsächlichen Beziehungen unterhält. Schon diese Erwägungen rechtfertigen es, mit der bisherigen Rechtsprechung des BFH ein Pflegekindschaftsverhältnis nur dann anzunehmen, wenn das Kind aus dem natürlichen oder rechtlich begründeten Obhuts- und Pflegeverhältnis zu seinen leiblichen Eltern ebenso wie zu nur rechtlichen Eltern ausgeschieden ist. Die in mehreren RFH-Urteilen vertretene entgegenstehende Auffassung (vgl. VI A 101/36 vom 11. März 1936, RStBl 1936, 695; VI A 936/35 vom 19. November 1936, RStBl 1937, 167; IV 79/40 vom 22. August 1940, RStBl 1940, 913) war durch die früheren Vorschriften über die Bedeutung der Haushaltszugehörigkeit für die Zusammenveranlagung beeinflußt. Das Bestreben war, einerseits möglichst dem Haushaltsvorstand, der für das Kind sorgte, aus wirtschaftlichen Gründen die Kinderermäßigung zukommen zu lassen, andererseits das Kind in die Zusammenveranlagung mit ihm einzubeziehen (vgl. RFH-Urteile VI A 2092/29 vom 22. Januar 1930, RStBl 1930, 194; VI A 1851/30 vom 26. November 1930, RStBl 1931, 275; VI A 80/37, a. a. O.). Mit dem Wegfall des Merkmals der Haushaltszugehörigkeit in den Vorschriften über die Zusammenveranlagung und mit der Lösung der Freibetragsgewährung von der Zusammenveranlagung sind jene, die frühere Rechtsprechung des RFH kennzeichnenden Erwägungen überholt. Im übrigen stellte bereits das RFH-Urteil IV 152/42 vom 11. Februar 1943 (RStBl 1943, 274) den Gesichtspunkt des Ausscheidens des Kindes aus der Obhut und Fürsorge der leiblichen Eltern in den Vordergrund.

c) Die sich aus den vorstehenden Erwägungen ergebende enge Auslegung des Begriffes Pflegekind wird auch dem Zweck der gesetzlichen Regelungen am besten gerecht.

In dem System von Steuerermäßigungen sowohl bei der Vermögensteuer als auch bei der Einkommensteuer (Lohnsteuer) hat der Begriff des Pflegekindes eine andere Funktion als beispielsweise im Sozialrecht. Eine engere Auslegung des steuerrechtlichen Begriffs schließt anderweite Steuerermäßigungen nicht aus, während im Sozialrecht für den durch engere Auslegung Betroffenen jegliche Anspruchsgrundlage entfällt. So bleibt es den Steuerpflichtigen unbenommen, bei der Einkommensteuer Unterhaltsaufwendungen für Kinder, die als Pflegekinder nicht anerkannt sind, unter dem Gesichtspunkt der außergewöhnlichen Belastung (§§ 33, 33a EStG) geltend zu machen und bei der Vermögensteuer den Kapitalwert von Unterhaltsverpflichtungen im Rahmen der Ermittlung des steuerpflichtigen Vermögens abzuziehen (§ 118 BewG 1965; vgl. Urteil des Obersten Finanzgerichtshofs - OFH - III 63/49 U vom 19. Dezember 1949, Amtsblatt des Bayerischen Staatsministeriums der Finanzen 1950 S. 37 - FMBl 1950, 37 -; BFH-Urteil VI 175/56 U vom 25. Oktober 1957, BFH 65, 546, BStBl III 1957, 444). Diese abgestufte Berücksichtigung von Unterhaltsaufwendungen und Unterhaltslasten entspricht dem Grundgedanken der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Hinzu kommt eine weitere Überlegung. Würde bei der Bestimmung des steuerrechtlichen Pflegekindbegriffs auf das Erfordernis des Ausscheidens aus jedwedem sonstigen Obhut- und Fürsorgeverhältnis verzichtet, so ergäben sich kaum lösbare Abgrenzungsschwierigkeiten. Das gilt zunächst für die Fälle, in denen Pflegekinder nicht im Haushalt der Pflegeeltern leben, sondern auswärts, z. B. in einem Internat, untergebracht sind. Ein Kind kann nur ein Zuhause, nur eine Heimat haben (vgl. RFH-Urteil VI A 80/37, a. a. O.). Wegen der naturgegebenen starken Bindungen des Kindes an die leiblichen Eltern kann mit hinreichender Sicherheit von einem Zuhause bei den Pflegepersonen erst dann die Rede sein, wenn jenes natürliche Obhut- und Fürsorgeverhältnis gelöst ist. Sodann erlaubt nur dieses Merkmal sachgerechte Lösungen in den Fällen, in denen das Kind im Haushalt der Pflegeperson lebt. Leben die Eltern oder ein Elternteil noch und bestehen die normalen Beziehungen zu diesen fort, so könnte nicht mehr mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, ob das Kind sein Zuhause bei den Pflegepersonen hat. Daher ist für die Annahme einer Pflegekindschaft nur Raum, wenn sich die Eltern um das Kind nicht mehr kümmern (vgl. BFH-Urteile IV 359/52 U vom 17. Dezember 1952, BFH 57, 186, BStBl III 1953, 74; VI 99/62 S, a. a. O.). Ist hiernach ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einer dritten Person ausgeschlossen, solange sich - trotz räumlicher Trennung - ein leiblicher Elternteil noch um das Kind kümmert, so muß dies um so mehr gelten, wenn der Elternteil sogar mit dem Kinde zusammenlebt, und zwar auch dann, wenn dies in einem mit einem Dritten geteilten Haushalt geschieht. Denn in diesem Falle ist die tatsächliche Beziehung zu dem Kinde besonders eng. Dabei kann es nun keinen Unterschied machen, ob die in dieser Weise zusammenlebenden Personen Verwandte sind, z. B. Kinder im Haushalt der Großeltern, der Geschwister, des Onkels usw., ob es sich um weibliche oder um männliche Pflegepersonen handelt - im letzten Fall: ob die Mutter des Kindes mit dem Mann in eheähnlicher Gemeinschaft lebt (sogenannte Onkelehe) - oder ob gar der Mann der leibliche Vater des unehelichen Kindes ist. In allen diesen Fällen gebietet es die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, ein Pflegekindschaftsverhältnis des Dritten zu dem Kinde zu verneinen.

In Fällen, in denen rechtlich alleinstehende Personen mit einem Kinde in gemeinsamem Haushalt leben, ergäben sich bei Zugrundelegung des weiten Pflegekindschaftsbegriffs im übrigen einkommensteuerliche Auswirkungen, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sein können. Leben Personen, die nicht miteinander verheiratet sind, mit einem Kinde zusammen, das zu jeder dieser Personen in einem Kindschaftsverhältnis steht, so lägen zwei "Halbfamilien" vor, mit der Folge, daß beide Personen nicht nur je einen Kinderfreibetrag, sondern auch den Sonderfreibetrag nach § 32 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b EStG, also insgesamt vier Freibeträge erhielten. Dieses Ergebnis wäre nach der geltenden gesetzlichen Regelung ebenso unvermeidlich wie unvertretbar. Berücksichtigt man, daß nicht getrennt lebende Eheleute für ihr Kind nur einen Kinderfreibetrag erhalten, so zeigt sich, daß die Bejahung eines Pflegekindschaftsverhältnisses in den genannten Fällen zu einer durch nichts gerechtfertigten steuerlichen Begünstigung nichtehelicher Gemeinschaften führen würde. Ein solches Ergebnis wäre mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 des GG) unvereinbar.

2. Der sich aus den vorstehenden Erwägungen ergebende steuerrechtliche Begriff des Pflegekindes ist auch für die Beurteilung der Fälle maßgebend, in denen der Vater eines unehelichen Kindes mit dem Kind und dessen Mutter in einer ehe- und familienähnlichen Gemeinschaft zusammenlebt.

a) Die Teilhabe des leiblichen Vaters an der Ausübung des Personensorgerechts der Mutter kann nicht als Überlassung des Kindes durch die Mutter aufgefaßt werden. Zwar kann, worauf der III. Senat in dem Anrufungsbeschluß unter Bezugnahme auf das BFH-Urteil IV 359/52 U (a. a. O.) mit Recht hinweist, die Personensorge gerade darin bestehen, daß das Kind einer anderen Person als Pflegekind überlassen wird. Ein solcher Fall liegt indessen dann nicht vor, wenn die leiblichen Eltern in einer eheähnlichen Gemeinschaft zusammenleben. Denn dann bleibt das Kind in der Obhut der Mutter, so weitgehend die Teilhabe des Vaters an der Pflege und Erziehung des Kindes im Einzelfall auch sein mag. Das natürliche und rechtlich begründete intakte Verhältnis des Kindes zu seiner Mutter bildet das stärkere Band. Das gilt vor allem dann, wenn der Mutter das Personensorgerecht zusteht. Denn der bürgerlich-rechtliche Status einer Person ist auch dann von tatsächlichem Gewicht, wenn er im Alltag nicht besonders in Erscheinung tritt. Demgegenüber besaß nach bisherigem Recht der Vater des unehelichen Kindes in bezug auf das Kind keinerlei Befugnisse, nicht einmal das Recht zum persönlichen Umgang mit dem Kind. In dieser Hinsicht war er ausschließlich auf die Erlaubnis der Mutter angewiesen.

Behandelte man das Kind als Pflegekind seines leiblichen Vaters, so wäre die steuerliche Wirkung die gleiche, als ob der Vater das Kind für ehelich hätte erklären lassen (§§ 1723 ff. BGB a. F.). Durch die Ehelichkeitserklärung erlangte ein uneheliches Kind im Verhältnis zum Vater die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes (§ 1736 BGB a. F.), ohne das der Vater genötigt gewesen wäre, die Mutter des Kindes zu heiraten. Für diesen Fall gewährte bisher schon das Steuerrecht dem Vater einen Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 2 Nr. 3c EStG, § 5 Abs. 1 Nr. 3 VStG). Es kann nicht der Sinn der Auslegung des Pflegekindschaftsbegriffes sein, ein Ergebnis zu bewirken, das dem Steuerpflichtigen sonst nur zustatten käme, wenn er von den durch das bürgerliche Recht gebotenen Möglichkeiten in der dort vorgesehenen, wichtige Rechte und Pflichten begründenden Weise Gebrauch gemacht hätte.

b) Gegen diese Beurteilung können verfassungsrechtliche Bedenken nicht erhoben werden. Der Begriff der "Familie" im Sinne der Schutzvorschrift des Art. 6 Abs. 1 GG umfaßt nur die rechtlich verbundenen Eltern und Kinder. Familie in diesem Sinn war nach dem bisherigen Recht bei einer Haushaltsgemeinschaft, die aus den nicht verheirateten Eltern und ihrem unehelichen Kinde bestand, lediglich die von Mutter und Kind gebildete engere Gemeinschaft (BVerfG-Beschluß 1 BVL 45/56 vom 23. Oktober 1958, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 8 S. 210 [215] - BVerfGE 8, 210 [215] -). Eine Einbeziehung des leiblichen Vaters kommt erst seit der Neuregelung des Nichtehelichenrechts durch das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969, a. a. O., in Betracht (vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Kommentar zum GG, Rdnr. 16 zu Art. 6).

Eine andere rechtliche Beurteilung ist schließlich auch nicht im Hinblick auf Art. 6 Abs. 5 GG geboten. Der Gesetzgeber hat für das Gebiet des Zivilrechts den Verfassungsauftrag des Art. 6 Abs. 5 GG mit dem Gesetz vom 19. August 1969 mit Wirkung vom 1. Juli 1970 ausgeführt (Art. 12, § 27). Erst seit dieser grundlegenden Rechtsänderung kommt eine Anpassung der sich auf nichteheliche Kinder beziehenden steuerlichen Vorschriften in Betracht. Die Frage ist, ob. in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen auch dem leiblichen Vater eines nichtehelichen Kindes ein Kinderfreibetrag zu gewähren ist. Dabei handelt es sich um ein Gesetzgebungsproblem (vgl. Begründung der Bundesregierung zum StÄndG 1971, Bundestagsdrucksache VI/1313; dazu Bundestagsdrucksache VI/1477). Mit der Auslegung des Begriffes Pflegekind hat dies nichts zu tun.

Bei der Auslegung dieses Begriffes wie auch sonst bei einfachen Gesetzen war zwar bisher schon der Grundsatz des Art. 6 Abs. 5 GG als Richtlinie zu beachten (vgl. BVerfG-Beschluß 1 BvL 45/56, a. a. O.). Auf ihn kann jedoch nicht eine erweiternde Auslegung des Begriffs Pflegekind gestützt werden, die lediglich für die Fälle Bedeutung hätte, in denen es sich um ein nichteheliches Kind der Pflegeperson handelte. Denn eine solche Auslegung wäre mit dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht zu vereinbaren. Der Begriff des Pflegekindes kann nur einheitlich für nichteheliche wie für eheliche Kinder ausgelegt werden.

3. Der Große Senat kommt somit zu dem Ergebnis, daß an der bisherigen Auslegung des Begriffs Pflegekind festzuhalten ist. Die vom III. Senat gestellte Rechtsfrage ist deshalb wie folgt zu entscheiden:

Ein Pflegekindschaftsverhältnis ist steuerrechtlich in den Fällen nicht anzuerkennen, in denen der "Pflegevater" nicht nur ein Kind, sondern auch die Mutter des Kindes in seinen Haushalt aufnimmt und mit dieser gemeinsam die Obhut und Pflege des Kindes ausübt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 412952

BStBl II 1971, 274

BFHE 101, 247

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