Leitsatz (amtlich)

1. Im Zweifel ist davon auszugehen, daß eine Zustellung nach § 5 Abs. 2 VwZG spätestens in dem Zeitpunkt vorgenommen ist, in dem das zuzustellende Schriftstück dem Behördenvorsteher vorgelegt wurde.

2. Wurde durch die Unterschrift eines Sachgebietsleiters auf dem Empfangsbekenntnis zwar der Eingang des Urteils bei diesem, nicht aber die bereits vorausgegangene Zustellung des Urteils an die Behörde bestätigt, und läßt sich das genaue Zustellungsdatum nicht ermitteln, so muß der Zustellungsempfänger gegen sich gelten lassen, daß die Zustellung an dem Tag erfolgt ist, an dem das Schriftstück nach dem normalen Verlauf der Dinge erstmals in die Hände eines zeichnungsberechtigten Bediensteten gelangt sein konnte.

 

Normenkette

VwZG § 5 Abs. 2

 

Tatbestand

Das zugunsten der Klägerin ergangene Urteil hat das FG gemäß § 53 Abs. 2 FGO, § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) dem Beklagten (FA) gegen Empfangsbekenntnis zugestellt. Ausweislich der FG-Akte wurde das zuzustellende Urteil vom FG am 8. November 1974 in Lauf gesetzt. Das an das FG zurückgeleitete Empfangsbekenntnis enthält den Bestätigungsvermerk: "Empfangen am 21. November 1974 Finanzamt ... im Auftrag (Unterschrift)."

Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 1974, beim FG eingegangen am 18. Dezember 1974 hat das FA gegen das Urteil des FG Revision eingelegt.

Auf die Verfügung des Vorsitzenden des Senats vom 3. Januar 1975 hat das FA mit Schriftsätzen vom 13. Januar 1975 und vom 16. Januar 1975 u. a. erklärt, mangels eines Gegenbeweises müsse davon ausgegangen werden, daß das Absendedatum 8. November 1974 zutreffend sei. Der Eingang der Ausfertigung des Urteils bei der Posteingangsstelle des FA könne nicht mehr festgestellt werden, da ein Eingangsstempel fehle. Den Empfang am 21. November 1974 habe die für die Erbschaftsteuer zuständige Sachgebietsleiterin bestätigt. Warum sich die Zustellung verzögert habe, könne im einzelnen nicht mehr nachgeprüft werden. Eine Fahrlässigkeit oder gar Verzögerungsabsicht des FA liege nicht vor. Die für das FA bestimmten Ausfertigungen eines Urteils des FG würden zunächst von diesem durch Boten an die OFD ... (Postverteilungsstelle) gesandt. Von hier aus würden sie mit den sonstigen Eingängen von den Amtsboten des FA abgeholt. Auf diesem Wege gelangten sie zwar in die Posteingangsstelle des FA im Hauptgebäude, X-Straße, würden jedoch von dort, ohne mit dem Eingangsstempel versehen zu werden, unmittelbar im allgemeinen Botengang (einmal täglich) der zentralen Rechtsbehelfsstelle in einem anderen Gebäude (X-Straße 3/4) zugeleitet. Dies geschehe, um etwaige Fehlleitungen zu vermeiden, da nicht alle Rechtsbehelfe von der zentralen Rechtsbehelfsstelle bearbeitet würden, sondern zum Teil selbständig von einzelnen Dienststellen, wie z. B. im vorliegenden Falle von der Erbschaftsteuerstelle. Nach Auszeichnung der Urteile auf die empfangende Dienststelle durch den Sachbearbeiter der zentralen Rechtsbehelfsstelle würden die Urteile dann - ebenfalls auf dem allgemeinen Botengang - dem Vorsteher des FA (im Hauptgebäude X-Straße) zugeleitet. Nach dem Sichtvermerk des Vorstehers würden sie von dort - wiederum im allgemeinen Botengang - dem zuständigen Sachgebietsleiter zugehen, sofern dieser den Rechtsbehelf selbständig bearbeite.

Auf diesem Wege sei auch im vorliegenden Falle das Urteil des FG in die Hände der Sachgebietsleiterin der Erbschaftsteuerstelle (im Gebäude X-Straße 3/4) gelangt, die das Empfangsbekenntnis unterschrieben habe. Daß die Revisionsschrift vom 9. Dezember 1974 erst am 18. Dezember 1974 beim FG eingegangen sei, beruhe vermutlich darauf, daß die Schrift weisungsgemäß über die OFD ... geleitet worden sei.

Das FA hat auf Anregung des Vorsitzenden des Senats wegen möglicher Versäumnis der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung auf das schriftsätzliche Vorbringen verwiesen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unzulässig (§ 124 FGO). Sie wurde nicht innerhalb der in § 120 FGO vorgeschriebenen Frist von einem Monat nach Zustellung des Urteils eingelegt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt nicht in Betracht.

Die gesetzliche Revisionsfrist wurde nicht erst am 21. November 1974, dem auf dem Empfangsbekenntnis ausgewiesenen Datum, sondern spätestens am 15. November 1974 in Lauf gesetzt, denn zu diesem Zeitpunkt - wenn nicht früher - wurde die Zustellung des FG-Urteils an das FA bewirkt.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der VI. Senat des BFH angeschlossen hat (vgl. Urteil vom 26. September 1969 VI R 247/66, BFHE 97, 57, BStBl II 1970, 31), ist die Zustellung an eine Behörde gemäß § 5 Abs. 2 VwZG in dem Zeitpunkt wirksam vorgenommen, in dem ein zuständiger zeichnungsberechtigter Beamter von dem Zugang des Schriftstücks Kenntnis erlangt und zur Annahme bereit ist. Das BVerwG hat demgegenüber in ständiger Rechtsprechung (vgl. u. a. Beschluß vom 14. Februar 1966 IV B 112/65, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 340, § 8 VwZG Nr. 5) entschieden, daß bereits der Eingang bei derjenigen Stelle, die die Behörde oder Körperschaft zum Empfang der Post eingerichtet hat, maßgebend ist, und daß es nicht darauf ankommt, zu welchem Zeitpunkt der Behördenvorsteher die Zustellung erhalten hat.

Es mag auf sich beruhen, welcher der beiden Gesetzesauslegungen der Vorzug zu geben ist. Auch braucht nicht entschieden zu werden, ob der zuständige zeichnungsberechtigte Beamte überhaupt befugt wäre, die Annahme der Zustellung zu verweigern. Denn selbst bei Anwendung der vom BSG entwickelten Rechtsgrundsätze ergibt sich im vorliegenden Fall, daß durch das mit Datum "21. November 1974" versehene Empfangsbekenntnis nicht eine wirksame Zustellung beurkundet, sondern nur der Empfang des zuzustellenden Urteils durch den Sachgebietsleiter bestätigt wurde. Die Zustellung war bereits vor diesem Zeitpunkt anläßlich der Zurkenntnisnahme des (zuzustellenden) Urteils durch den Vorsteher des FA rechtswirksam erfolgt. Über diese Zustellung, deren genaues Datum das FA nicht angeben konnte, wurde eine den Empfang bestätigende Urkunde nicht errichtet.

Daß das Urteil des FG nicht erst durch Vorlage an den Sachgebietsleiter, sondern bereits zu einem früheren Zeitpunkt zugestellt wurde, folgt aus den Erklärungen des FA zur Verfügung des Senatsvorsitzenden vom 3. Januar 1975. Diesen Erklärungen ist zu entnehmen, daß - vor dem Sachgebietsleiter - das Urteil zunächst dem Vorsteher des FA vorgelegt wurde, der es ohne eine Weisung, die Entgegennahme der Zustellung abzulehnen, an den zuständigen Sachgebietsleiter weitergeleitet hat. Dieser Vorgang stellt den für das FA verbindlichen Entschluß dar, die Zustellung entgegenzunehmen. Denn aus der Stellung des Vorstehers als Vertreter der Behörde nach außen ergibt sich, daß eine ihm vorgelegte Zustellungssache den Adressaten schlechthin erreicht hat, der nun seinerseits für eine umgehende Annahme oder Ablehnung der Zustellung zu sorgen hat, sofern es hierauf - so das Urteil VI R 247/66 - überhaupt ankommen kann. Verzögerungen bei dieser Entscheidung liegen im Risikobereich der Behörde. Deshalb muß im Zweifel zu deren Lasten von einer Zustellung im Zeitpunkt der Vorlage an den Behördenvorsteher ausgegangen werden.

Steht mithin fest, daß durch die Unterschrift des Sachgebietsleiters auf dem Empfangsbekenntnis zwar der Eingang des Urteils bei diesem, nicht aber die Zustellung des Urteils an die Behörde bestätigt wurde und läßt sich das genaue Zustellungsdatum nicht ermitteln, so muß der Zustellungsempfänger gegen sich gelten lassen, daß die Zustellung an dem Tag erfolgt ist, an dem das Schriftstück nach dem normalen Verlauf der Dinge erstmals in die Hände eines zeichnungsberechtigten Bediensteten gelangt sein konnte. Dieser Tag kann im Streitfall - selbst bei großzügigster Beurteilung des vom FA dargestellten internen Postverteilungsablaufs - kein späterer als Freitag der 15. November 1974 gewesen sein, wie sich aus der Aufeinanderfolge der vom FA vorgetragenen Daten ergibt: Freitag, 8. November, Absendung des Urteils durch Boten vom FG an die OFD, am selben Tag, spätestens aber am Montag, dem 11. November, Ankunft bei der OFD; Dienstag, 12. November, Ankunft beim FA, Posteingangsstelle; Mittwoch, 13. November, Ankunft bei der zentralen Rechtsbehelfsstelle; Donnerstag, 14. November, Ankunft beim Vorsteher des FA. Um den Fall einer möglichen, durch besondere Ereignisse eingetretenen Verzögerung miteinzubeziehen, kann ein weiterer Tag als Toleranz hinzugerechnet werden, so daß von einer Vorlage des zuzustellenden Urteils beim Vorsteher des FA am Freitag, dem 15. November, auszugehen ist. Daraus folgt der Ablauf der Rechtsmittelfrist am Montag, dem 16. Dezember 1974. Die erst am 18. Dezember 1974 beim FG eingegangene Revision ist mithin verspätet.

Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich, entsprechende Tatsachen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO) auch nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere kann die Vorlage der Revisionsschrift an die OFD zur Überprüfung und die offenbar dadurch (mit-)bedingte Verzögerung der Revisionseinlegung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht rechtfertigen (vgl. BFH-Beschluß vom 23. August 1967 I R 55/67, BFHE 90, 93, BStBl III 1967, 785).

 

Fundstellen

Haufe-Index 71583

BStBl II 1976, 46

BFHE 1976, 11

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