Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldauszahlung an nur einen Berechtigten und Obhutsprinzip verfassungsgemäß

 

Leitsatz (amtlich)

1. Es verstößt nicht gegen das GG oder sonstiges Recht,

- dass das Kindergeld gemäß § 64 Abs. 1 EStG an nur einen

Berechtigten zu zahlen ist und

- dass es gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG an denjenigen Berechtigten zu zahlen ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Obhutsprinzip).

2. Der Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ist unter Berücksichtigung seines Zwecks dahin auszulegen, dass ein Kind, welches sich in den Haushalten beider Elternteile in einer Besuchscharakter überschreitenden Weise aufhält, demjenigen Elternteil zuzuordnen ist, in dessen Haushalt es sich überwiegend aufhält und seinen Lebensmittelpunkt hat.

 

Normenkette

EStG § 64 Abs. 1-2; GG Art. 3, 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1; EMRK Art. 8, 14; EuGrdRCh Art. 7, 20, 23 Abs. 1, Art. 24

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf (Urteil vom 17.10.2002; Aktenzeichen 15 K 2481/01 Kg; EFG 2003, 401)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 10.05.2005; Aktenzeichen 2 BvR 483/05)

 

Tatbestand

A. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Vater von zwei 1993 bzw. 1995 geborenen Töchtern. Er lebt seit 1996 von deren Mutter getrennt. Die Ehe wurde im März 2001 geschieden. Die Töchter leben im Haushalt der Mutter und sind dort mit ihrem Hauptwohnsitz gemeldet. Die Mutter zog nach der Trennung von F nach E. Durch Beschluss des zuständigen Familiengerichts vom Mai 1997 wurde der Mutter das alleinige Sorgerecht übertragen.

Der Kläger darf im Rahmen seines Umgangsrechts die Töchter jedes zweite Wochenende von Freitagnachmittag bis Montagmorgen zu sich nehmen. Die Schulferien verbringen sie zur Hälfte bei dem Kläger und zur Hälfte bei ihrer Mutter, so dass sich die Töchter zu 65 v.H. ihrer Zeit bei der Mutter und zu 35 v.H. bei ihrem Vater aufhalten.

Auf Antrag der Mutter setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) mit Bescheid vom 24. Juli 1997 das Kindergeld rückwirkend ab Dezember 1996 zu ihren Gunsten fest. Gleichzeitig hob das für den Kläger an seinem damaligen Wohnort zuständige Arbeitsamt (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung zugunsten des Klägers auf. Die Klage des Klägers gegen diesen Aufhebungsbescheid hatte keinen Erfolg.

Am 24. November 2000 beantragte der Kläger, der im November 1998 ebenfalls nach E gezogen war, beim Beklagten, ihm Kindergeld für seine beiden Kinder zu gewähren. Der Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, dass die Kinder nicht in den Haushalt des Klägers aufgenommen worden seien. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Mit seiner Klage begehrte der Kläger, den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Zeit ab 1. November 1996 für seine beiden Töchter das hälftige Kindergeld zu bewilligen. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es entschied, bei getrennt lebenden Eltern sei eine Haushaltsaufnahme des Kindes i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und damit ein Kindergeldanspruch nur bei dem Elternteil gegeben, von dem das Kind überwiegend betreut und versorgt werde und in dessen Haushalt es seinen Lebensmittelpunkt habe. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 401 veröffentlicht.

Das FG hat die Revision mit der Begründung zugelassen, dass der Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG trotz mehrerer hierzu ergangener Entscheidungen höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärt sei.

Der Senat hat dem Kläger mit einem am 20. Dezember 2003 zugestellten Beschluss Prozesskostenhilfe (PKH) für das Revisionsverfahren bewilligt. Der Kläger hat am 29. Dezember 2003 Revision eingelegt und wegen Versäumung der Frist für die Einlegung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begeht. Er rügt, dass die Auslegung des § 64 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 EStG durch das FG fehlerhaft und nicht verfassungskonform sei und gegen Art. 8 und 14 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 ―EMRK― (BGBl II 2002, 1054) sowie Art. 7, 20, 23 Abs. 1 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― 2000 Nr. C 364/1) verstoße.

Er beantragt,

die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidungen vom 4. April 2001 und vom 8. Januar 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm, dem Kläger, ab dem 1. November 1996 für seine beiden Töchter jeweils das hälftige Kindergeld zu gewähren,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vorzulegen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

B. Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.

Der Senat entscheidet gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Beschluss. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Die Beteiligten sind unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung schon deshalb nicht für erforderlich, weil die endgültige Entscheidung über die vom Kläger aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen dem BVerfG vorbehalten ist (Art. 93 des Grundgesetzes ―GG―) und dem Kläger die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde einzulegen (§§ 90, 93 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes ―BVerfGG―), auch dann nicht abgeschnitten ist, wenn der Senat im Verfahren nach § 126a FGO entscheidet (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 11. März 1992 II R 129/88, BFHE 167, 266, BStBl II 1992, 707).

I. Die Revision ist zulässig. Dem Kläger ist wegen der Versäumung der Frist für die Einlegung der Revision (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO zu gewähren. Er war an der Einhaltung der Frist ohne Verschulden gehindert, da er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht tragen konnte. Er hat nach der Bewilligung der PKH (§ 142 Abs. 1 FGO, § 114 der Zivilprozessordnung ―ZPO―) innerhalb von zwei Wochen und damit rechtzeitig Revision eingelegt. Darüber besteht auch kein Streit.

II. Die Revision ist aber unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

1. Soweit der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für die Zeit bis zum Erlass des Aufhebungsbescheides vom 24. Juli 1997 beantragt, steht seinem Begehren bereits die Bestandskraft dieses Bescheides entgegen (vgl. zur Bindungswirkung von Ablehnungsbescheiden Urteile des BFH vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88; VI R 164/98, BFHE 196, 257, BStBl II 2002, 89; vom 23. November 2001 VI R 125/00, BFHE 197, 387, BStBl II 2002, 296; BFH-Beschluss vom 9. Juli 2003 VIII B 40/03, BFH/NV 2003, 1422). Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz hat das Hessische FG die Klage gegen den Aufhebungsbescheid abgewiesen. Deshalb kann die Klage insoweit schon wegen der Bindungswirkung des Aufhebungsbescheides keinen Erfolg haben. Letztlich kommt es darauf aber nicht an.

2. Denn das Kindergeld ist auch deshalb nicht an den Kläger zu zahlen, weil die beiden Töchter nach zutreffender Auffassung der Vorinstanz nicht i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG in den Haushalt des Klägers, sondern in denjenigen ihrer Mutter aufgenommen sind, in dem sie sich überwiegend aufhalten und ihren Lebensmittelpunkt haben.

a) Sowohl der Kläger als auch seine geschiedene Ehefrau erfüllen die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG für einen Anspruch auf Kindergeld für die beiden gemeinsamen Töchter. Gemäß § 64 Abs. 1 EStG wird jedoch für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Aus diesem Grund sind in § 64 Abs. 2 und 3 EStG Regelungen dafür getroffen, an welchen Berechtigten das Kindergeld bei konkurrierenden Ansprüchen mehrerer Berechtigter zu zahlen ist. Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG wird das Kindergeld bei mehreren Berechtigten demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat.

b) Nach der Rechtsprechung des BFH ist eine Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG dann gegeben, wenn das Kind in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist; neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (Urteile vom 20. Juni 2001 VI R 224/98, BFHE 195, 564, BStBl II 2001, 713; vom 26. August 2003 VIII R 91/98, BFH/NV 2004, 324; vom 16. Dezember 2003 VIII R 67/00, BFH/NV 2004, 934). Dabei muss die Betreuung des Kindes im Haushalt eines Berechtigten einen zeitlich bedeutsamen Umfang haben und die Aufenthalte des Kindes dürfen nicht nur Besuchs- oder Feriencharakter haben. Eine den Besuchscharakter überschreitende Dauer liegt auf jeden Fall bei einem Aufenthalt des Kindes im Haushalt des Berechtigten von mehr als drei Monaten im Jahr vor (vgl. BFH-Urteile in BFHE 195, 564, BStBl II 2001, 713; in BFH/NV 2004, 324).

Der BFH hat das Obhutsprinzip des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG für verfassungsgemäß gehalten. Es trägt der Lebenserfahrung Rechnung, dass derjenige am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet ist, der das Kind betreut, erzieht und versorgt (vgl. Urteil vom 19. August 2003 VIII R 60/99, BFH/NV 2004, 320, m.w.N.). Außerdem dient die Anknüpfung an die Haushaltszugehörigkeit der Verfahrensvereinfachung, weil sich diese im Regelfall leicht feststellen lässt (BFH-Beschluss vom 10. November 1998 VI B 125/98, BFHE 187, 477, BStBl II 1999, 137).

Wendet man danach die vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall an, so könnte eine Aufnahme der beiden Töchter sowohl in den Haushalt ihrer Mutter als auch in den des Klägers zu bejahen sein. Denn die Töchter halten sich etwa 35 v.H. ihrer Zeit und damit mehr als drei Monate im Jahr im Haushalt des Klägers auf und werden dort von ihm betreut und versorgt.

c) Bei der Auslegung des Begriffs der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ist aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Merkmal der Haushaltsaufnahme dazu dienen soll, nur einem von mehreren Kindergeldberechtigten gegenüber den anderen eine Vorrangstellung einzuräumen. Denn gemäß § 64 Abs. 1 EStG ist das Kindergeld an nur einen Berechtigten zu zahlen. Das hat zur Folge, dass entgegen dem Begehren des Klägers eine Aufteilung des Kindergeldes auf mehrere Berechtigte nicht zulässig ist (vgl. BFH-Beschluss vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98, BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231; BFH-Urteil vom 16. Dezember 2003 VIII R 76/99, BFH/NV 2004, 933).

aa) Die Regelung, dass das Kindergeld an nur einen Berechtigten zu zahlen ist und nicht aufgeteilt werden darf, ist nach zutreffender Auffassung der Vorinstanz verfassungsgemäß. Sie ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt, weil sie dazu dient, eine Doppel- oder Mehrfachgewährung von Kindergeld zu vermeiden (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231; Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, Kommentar, § 64 Rn. 5). Außerdem führt es zu einer Verwaltungsvereinfachung, wenn das Kindergeld an nur einen Berechtigten ausgezahlt wird.

Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit des § 64 Abs. 1 EStG besteht auch unabhängig davon, ob das Kindergeld im konkreten Fall der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes (§ 31 Satz 1 EStG) oder der Förderung der Familie (§ 31 Satz 2 EStG) dient.

(1) Im erstgenannten Fall besteht zwischen den unterhaltsverpflichteten Eltern grundsätzlich ein zivilrechtlicher Ausgleichsanspruch (vgl. § 1612b des Bürgerlichen Gesetzbuchs ―BGB― n.F., § 1615g BGB a.F.). Dieser führt im wirtschaftlichen Ergebnis zu einer Gleichbehandlung der Elternteile (vgl. auch Greite, a.a.O., § 64 Rn. 5). Soweit nach § 1612b Abs. 5 BGB die Anrechnung des Kindergeldes unterbleibt und dies zu verfassungswidrigen Ergebnissen führt (vgl. dazu den Vorlagebeschluss des Senats vom 30. November 2004 VIII R 51/03, juris), betrifft die Verfassungswidrigkeit die §§ 31 Satz 5 und 36 Abs. 2 Satz 1 EStG und nicht die Regelung, dass das Kindergeld an nur einen Berechtigten zu zahlen ist.

(2) Für den letztgenannten Fall der Förderung der Familie ist der Staat nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG durch das Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG nicht gehalten, jegliche die Familie treffende Belastung auszugleichen oder die Familie ohne Rücksicht auf andere öffentliche Belange zu fördern. Aus der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip lässt sich zwar die allgemeine Pflicht des Staates zu einem Familienlastenausgleich entnehmen, nicht aber die Entscheidung darüber, in welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist. Aus dem Verfassungsauftrag, einen wirksamen Familienlastenausgleich zu schaffen, lassen sich konkrete Folgerungen für die einzelnen Rechtsgebiete und Teilsysteme, in denen der Familienlastenausgleich zu verwirklichen ist, nicht ableiten. Insoweit besteht vielmehr grundsätzlich Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (BVerfG-Urteile vom 7. Juli 1992 1 BvL 51/86, 50/87, 1 BvR 873/90, 761/91, BVerfGE 87, 1, 35 f.; vom 3. April 2001 1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242, 259 f.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 6. Mai 2004 2 BvR 1375/03, juris; Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 2004, 692).

Der danach dem Gesetzgeber zustehende weite Gestaltungsspielraum für staatliche Leistungen gestattet es ihm, das Kindergeld, soweit es eine soziale Transferleistung ist, so auszugestalten, dass es aus Vereinfachungsgründen und zur Vermeidung von Mehrfachzahlungen an nur einen Berechtigten ausgezahlt werden darf. Davon geht auch das BVerfG als selbstverständlich aus. Zwar hat es in einem Beschluss vom 29. Oktober 2002 1 BvL 16/95, 1 BvL 17/95, 1 BvL 16/97 (BVerfGE 106, 166; HFR 2003, 292) § 3 Abs. 3 Satz 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) i.d.F. des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1.SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2353) für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar gehalten. Es hat es als nicht gerechtfertigt angesehen, dass die gesetzlich eingeräumte Möglichkeit, durch einvernehmliche Berechtigtenbestimmung die gesetzliche Zuordnung zu ändern, auf verheiratet zusammenlebende Eltern beschränkt ist. Es hat dabei jedoch nicht die Regelung in Frage gestellt, dass bei mehreren Anspruchsberechtigten das Kindergeld nur an einen Berechtigten gezahlt wird.

bb) Ist die gesetzliche Vorgabe des § 64 Abs. 1 EStG, dass das Kindergeld an nur einen Berechtigten zu zahlen ist, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dann ist sie auch bei der Auslegung der in den beiden nachfolgenden Absätzen des § 64 EStG getroffenen Konkurrenzregelungen zu berücksichtigen.

d) Bei der Konkretisierung des Begriffs der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ist außerdem der gesetzlichen Grundentscheidung Rechnung zu tragen, dass bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an denjenigen Berechtigten gezahlt werden soll, der am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet ist. Dies ist nach der Vorstellung des Gesetzgebers derjenige, der das Kind in seiner Obhut hat, es also betreut, erzieht und versorgt (BTDrucks 13/1558, S. 165, zu § 3 Abs. 2 BKGG; Senatsurteil in BFH/NV 2004, 324, unter 2.b. der Gründe). Das Obhutsprinzip ist durch das Jahressteuergesetz 1996 (JStG 1996) vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) ausdrücklich auf die Anspruchskonkurrenz zwischen Vater und Mutter erstreckt worden (vgl. dazu BTDrucks 13/1558, S. 165, zu § 3 Abs. 2 BKGG).

Der Gesetzgeber hat den Gedanken, dass derjenige Berechtigte das Kindergeld erhalten soll, der die höchsten Lasten für den Kindesunterhalt trägt, in § 64 Abs. 2 und 3 EStG folgerichtig umgesetzt. So erhält nach § 64 Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG dann, wenn ein Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen worden ist und mehrere Berechtigte eine Unterhaltsrente zahlen, derjenige das Kindergeld, der dem Kind die höchste Unterhaltsrente zahlt.

e) Die Vorschrift, dass das Kindergeld an nur einen Berechtigten gezahlt und nicht aufgeteilt wird, und der gesetzliche Grundgedanke, dass bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an denjenigen gezahlt werden soll, der die größte Belastung trägt, führen in ihrem Zusammenspiel dazu, dass der Begriff der Haushaltsaufnahme i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht für alle Sachverhalte gleichermaßen, sondern nur fallgruppenspezifisch konkretisiert werden kann. Er ist für die Fallgruppe, dass die Dauer der Aufenthalte des Kindes in den Haushalten beider Elternteile über einen Besuchs- oder Feriencharakter hinausgeht, einschränkend auszulegen. Bei diesem Sachverhalt ist für die Annahme einer Haushaltsaufnahme zusätzlich zu den oben (unter B.II.2.b. der Gründe) dargestellten Merkmalen erforderlich, dass sich das Kind dort überwiegend aufhalten und seinen Lebensmittelpunkt haben muss. Dies beruht auf der typisierenden Annahme, dass derjenige Kindergeldberechtigte die größeren Unterhaltslasten für das Kind trägt, der es überwiegend in seinem Haushalt betreut und versorgt (vgl. auch BFH-Urteil vom 14. April 1999 X R 11/97, BFHE 188, 330, BStBl II 1999, 594, zu §§ 10e, 34f EStG). Wie zu entscheiden wäre, wenn ein Kind in beiden Haushalten annähernd gleich viel Zeit verbringt, kann im Streitfall offen bleiben.

3. Die Auslegung des Gesetzes durch den Senat führt entgegen der Auffassung der Revision auch bei einem bedürftigen und auf Sozialleistungen angewiesenen Elternteil nicht zu einer Beeinträchtigung seiner Grundrechte. Da ein solcher Elternteil aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse nicht zur Einkommensteuer herangezogen wird, erstrebt er die Auszahlung des Kindergeldes als einer Leistung zur Förderung der Familie i.S. des § 31 Satz 2 EStG. Für diesen Fall sind nach der Rechtsprechung des BVerfG die Maßstäbe zum Gebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums nicht anzuwenden; vielmehr steht dem Gesetzgeber insoweit eine größere Gestaltungsfreiheit zu (vgl. Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 6. November 2003 2 BvR 1240/02, nicht veröffentlicht, betreffend das Senatsurteil VIII R 68/00; vom 6. Mai 2004 2 BvR 1375/03, juris, betreffend das Senatsurteil VIII R 76/02). Wegen dieser unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Ausgangslage kann es entgegen der Auffassung der Revision nicht zu einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG führen, dass bei Elternteilen, die zur Einkommensteuer herangezogen werden, im Rahmen der sog. Günstigerprüfung (§ 31 Satz 4 EStG) jeweils ein (hälftiger) Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 EStG) anzusetzen und ggf. abzuziehen ist, während das Kindergeld nur an einen Elternteil gezahlt wird.

Ob die vom Senat befürwortete Gesetzesauslegung dann gegen Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG verstoßen könnte, wenn die Versagung eines ―im Gesetz nicht vorgesehenen― anteiligen Kindergeldes im Einzelfall zur Folge hätte, dass es einem bedürftigen Elternteil unmöglich gemacht würde, von seinem Umgangsrecht mit seinem Kind (vgl. § 1684 BGB) tatsächlich Gebrauch zu machen, kann offen bleiben. Denn dies ist nicht der Fall. Einem Elternteil ohne ausreichend hohes eigenes Einkommen oder Vermögen wird die Ausübung seines Umgangsrechts mit seinem Kind dadurch ermöglicht, dass die dadurch entstehenden Kosten ein Teil des notwendigen Lebensunterhalts sind und daher einmalige oder besondere Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) rechtfertigen können (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 25. Oktober 1994 1 BvR 1197/93, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht ―FamRZ― 1995, 86; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 22. August 1995 5 C 15.94, FamRZ 1996, 105). Außerdem hat der Kläger in seinem Schriftsatz vom 6. Dezember 2004 selbst vorgetragen, dass bei der Bewilligung des Wohngeldes seine beiden Töchter bedarfserhöhend berücksichtigt worden seien.

4. Die Regelung, dass nur ein Berechtigter das Kindergeld erhält (§ 64 Abs. 1 EStG), und die Konkretisierung des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG dahin, dass das Kindergeld an denjenigen Elternteil auszuzahlen ist, in dessen Haushalt sich das Kind überwiegend aufhält und in dem es seinen Lebensmittelpunkt hat, verstoßen entgegen der Rüge des Klägers auch nicht gegen Art. 8 Abs. 1 und 14 EMRK. Nach der erstgenannten Vorschrift hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Aus dieser Regelung kann sich ein Sorge- und Umgangsrecht der Eltern nach der Trennung oder Scheidung ergeben (vgl. Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., Art. 8 Rn. 23). Ansprüche gegen den Staat auf eine wirtschaftliche Förderung der Familie durch Kindergeld begründet diese Vorschrift jedoch nicht. Deshalb kann die Versagung des Anspruchs auf Kindergeld auch nicht zu einem Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK oder das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK führen. Denn das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK bezieht sich nur auf Rechte und Freiheiten, die in der Konvention anerkannt sind.

5. Auch der Hinweis des Klägers auf Art. 7, 20, 23 Abs. 1 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vermag der Revision nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn der Charta der Grundrechte der Europäischen Union kommt in den Mitgliedstaaten keine rechtsverbindliche Wirkung zu, weil sie zwar proklamiert, von den Mitgliedstaaten aber nicht ratifiziert worden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 28. April 2004 VII B 44/04, BFH/NV 2004, 1297). Darüber hinaus steht das deutsche Recht aber auch mit den genannten Vorschriften im Einklang. Denn aus ihnen ergibt sich kein Anspruch auf Kindergeld als Sozialleistung und für den Fall, dass ein Mitgliedsstaat die Zahlung eines Kindergeldes vorsieht, auch kein Anspruch auf seine hälftige Aufteilung auf beide Elternteile. Dem durch Art. 24 Abs. 3 der Charta garantierten Anspruch eines Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen würde selbst dann, wenn diese Vorschrift mittelbar einen Anspruch auf finanzielle staatliche Förderung gewähren sollte, durch die oben dargestellten Ansprüche auf Leistungen nach dem BSHG und dem Wohngeldgesetz ausreichend Rechnung getragen.

6. Bei Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall hat das FG die Klage zu Recht abgewiesen. Die Aufenthalte der Töchter in dem Haushalt des Klägers beschränken sich gemäß dem Umgangsrecht des Klägers auf jedes zweite Wochenende und die Hälfte der Ferien. Da die Töchter somit die weit überwiegende Zeit im Haushalt ihrer sorgeberechtigten Mutter verbringen, haben sie dort ihren Lebensmittelpunkt, so dass sie i.S. des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG in deren Haushalt aufgenommen sind. Das Kindergeld ist damit zu Recht an die Mutter und nicht an den Kläger gezahlt worden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1326324

BFH/NV 2005, 616

BStBl II 2008, 762

BFHE 208, 220

BB 2005, 649

DB 2005, 591

DStRE 2005, 446

DStZ 2005, 210

HFR 2005, 429

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