Entscheidungsstichwort (Thema)

Befristung des Wiederaufnahmeantrags; verfahrensrechtlicher Irrtum eines Rechtsanwalts

 

Leitsatz (NV)

1. Ein durch Beschluß beendetes Verfahren über einen Antrag auf einstweilige Anordnung kann gemäß § 134 FGO i. V. m. § 578 ff. ZPO wieder aufgenommen werden, nicht dagegen das durch Beschluß abgeschlossene Verfahren der Tatbestandsberichtigung.

2. Beteiligte an einem Wiederaufnahmeverfahren können nur diejenigen Personen sein, die Beteiligte am vorangegangenen Verfahren waren, gegebenenfalls deren Gesamtrechtsnachfolger.

3. Der Wiederaufnahmeantrag ist vor Ablauf einer Frist von einem Monat zu stellen. Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem der Beteiligte Kenntnis von den Tatsachen erhält, die zur Erhebung des Wiederaufnahmeantrags berechtigen.

4. Der Irrtum eines Rechtsanwalts über den Beginn der Wiederaufnahmefrist begründet keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil ein Rechtsanwalt das Verfahrensrecht kennen bzw. es aufgrund des Gesetzes und der dazu ergangenen Rechtsprechung prüfen muß.

 

Normenkette

FGO § 56 Abs. 1, §§ 57, 108, 134; ZPO §§ 578, 586

 

Tatbestand

Den (wiederholten) Antrag der Antragstellerin auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung dahingehend, daß die Mitteilung von Einheitswert- und Grundsteuermeßbescheiden auf den 1. Januar 1978, den 1. Januar 1980 und den 1. Januar 1981 betreffend ein ihr und der X-KG je zur Hälfte gehörendes Grundstück an die Stadt L in der Weise eingeschränkt wird, daß hieraus vorläufig keine Grundsteuern vollstreckt werden dürfen und begonnene Vollstreckungsmaßnahmen aufzuheben sind, hat das Finanzgericht mit Beschluß vom 3. Mai 1991 abgelehnt. Die gegen diesen Beschluß von der Antragstellerin eingelegte Beschwerde hat der Senat mit Beschluß vom 18. Dezember 1991 als unbegründet zurückgewiesen. Den mit Schriftsatz vom 14. Februar 1992 durch die Antragstellerin gestellten Antrag auf Berichtigung des Senatsbeschlusses nach § 108 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hat der Senat mit Beschluß vom 2. Dezember 1992 verworfen.

Auf entsprechenden Antrag wurde der Antragstellerin über ihren Prozeßbevollmächtigten im März 1992 der im Zeitpunkt des Ergehens des Beschlusses vom 18. Dezember 1991 maßgebende, gemäß § 4 FGO, § 21g Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) von der Vorsitzenden am 26. Juli 1991 (von der Antragstellerin stets mit 28. Juli 1991 angegeben) wegen Veränderungen in der Zusammensetzung des Senats für das restliche Geschäftsjahr 1991 aufgestellte Mitwirkungsplan übersandt. Der Prozeßbevollmächtigte teilte mit Schreiben vom 14. Mai 1992 mit, er habe vorsorglich Auftrag, die Wiederaufnahme zu betreiben.

Mit am 12. Januar 1993 beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenem Schriftsatz hat die Antragstellerin die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt und die Nichtigkeit der Senatsbeschlüsse vom 18. Dezember 1991 und vom 2. Dezember 1992 wegen nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des Gerichts geltend gemacht. Hinsichtlich des Wiederaufnahmeantrags betreffend den Beschluß vom 18. Dezember 1991 beantragt die Antragstellerin unter Vorlage einer eidesstattlichen Erklärung ihres Ehemannes Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In dieser Erklärung heißt es, die Antragstellerin habe Anfang Januar 1993 erstmals Kenntnis davon erhalten, daß davon auszugehen sei, die Vorsitzende hätte die beiden Beschlüsse herbeigeführt, ohne den Berichterstatter, den Mitberichterstatter und die Richterbank für die Beschlußtage überhaupt, gegebenenfalls ordnungsgemäß zu bestimmen. Er selbst, der Ehemann der Antragstellerin, habe diese Kenntnis aus seiner während der Weihnachts- und Neujahrsfeiertage vollzogenen Aufarbeitung des Akteninhalts anläßlich des Beschlusses vom 2. Dezember 1992 auf der Grundlage der Rechtsprechung und Literatur der Jahre 1991 und 1992 zum gesetzlichen Richter in Beschlußsachen beim Bundesfinanzhof gewonnen, deren Ergebnisse er in den ersten Tagen des Januar 1993 der Antragstellerin vermittelt hätte.

Mit Schriftsatz vom 14. Mai 1993 zeigte der Prozeßbevollmächtigte an, daß der Ehemann der Antragstellerin aufgrund Vereinbarung vom 20. Januar 1993 mit seiner Ehefrau "rechtsnachfolgend in die Befugnisse und Verpflichtungen zum Verstei gerungserlös" aus dem Zwangsverstei gerungsverfahren über das Grundstück eingetreten und den Rechtsstreit übernommen habe, die Antragstellerin allerdings soweit unerläßlich am Verfahren beteiligt bleibe. In der Folgezeit verdeutlichte der Ehemann der Antragstellerin, seine Befugnis zur Betei ligung am Verfahren rechtfertige sich aus seiner Rechtsnachfolge in den Versteigerungserlös als Surrogat des Besteuerungsgegenstands, sie lasse sich aus der Systematik der Abgabenordnung (AO 1977) nicht als Nebenintervention einordnen, wie § 182 Abs. 2 (wohl i. V. m. § 353) AO 1977 zu entnehmen sei, im übrigen rechtfertige sie sich aus § 155 FGO i. V. m. §§ 265, 266 der Zivilprozeßordnung (ZPO).

 

Entscheidungsgründe

A. Der Eintritt des Ehemanns der Antragstellerin in das Verfahren bzw. dessen Beitritt zum Verfahren ist unzulässig.

Beteiligte an einem Wiederaufnahmeverfahren können nur diejenigen Personen sein, die Beteiligte am vorangegangenen Verfahren waren, gegebenenfalls deren Gesamtrechtsnachfolger. Das waren neben dem Finanzamt nur die Antragst ellerin (§ 57 FGO). Der gewillkürte Parteiwechsel, der Klageänderung ist, ist nicht nur im Revisionsverfahren (vgl. § 123 Satz 1 FGO), sondern in jedem Rechtsmittelverfahren unzulässig, zumal dann, wenn der Ein- oder Hinzutretende nicht in seiner Person durch die angegriffene Entscheidung im Entscheidungszeitpunkt beschwert ist. In diesem Zusammenhang ist jedenfalls das Wiederaufnahmeverfahren, das ebenfalls Beschwerde desjenigen voraussetzt, der es betreibt, als (außerordentliches) Rechtsmittel anzusehen. Da die Finanzgerichtsordnung den Kreis der Beteiligten an einem finanzgerichtlichen Verfahren abschließend regelt (§ 57 FGO), kommt auch eine sinngemäße Anwendung (§ 155 FGO) derjenigen Vorschriften der Zivilprozeßordnung nicht in Betracht, die die Beteiligung Dritter am Rechtsstreit betreffen (vgl. BFH-Beschluß vom 18. September 1974 II R 129/73, BFHE 113, 350, BStBl II 1975, 40).

B. 1. Der Antrag der Antragstellerin auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist, soweit er sich gegen den Beschluß des Senats vom 18. Dezember 1991 richtet, wegen Versäumung der Antragsfrist unzulässig. Ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht zu entsprechen.

a) Der Nichtigkeitsantrag ist statthaft. Ein rechtskräftig beendetes Verfahren kann gemäß § 134 FGO nach den Vorschriften der §§ 578 ff. ZPO wieder aufgenommen werden. Zwar setzt die Wiederaufnahme nach dem Wortlaut des § 578 ZPO ein rechtskräftiges Endurteil voraus, jedoch kann auch ein durch einen Beschluß, der ein selbständiges Verfahren abschließt und der materiellen Rechtskraft fähig ist, beendetes Verfahren wieder aufgenommen werden (ständige Rechtsprechung, vgl. u. a. BFH-Beschlüsse vom 29. Januar 1992 VIII K 4/91, BFHE 165, 569, BStBl II 192, 252, und vom 8. Dezember 1994 VII K 1/94, BFH/NV 1995, 795, m. w. N.). Beschlüsse im Verfahren über einstweilige Anordnungen sind der materiellen Rechtskraft fähig (BFH in BFHE 166, 114, BStBl II 1992, 250).

b) Nach § 134 FGO i. V. m. § 586 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 ZPO ist der Wiederaufnahmeantrag vor Ablauf eines Monats zu stellen, wobei die Frist mit dem Tage beginnt, an dem die Partei von dem Anfechtungsgrund Kenntnis erhalten hat. Abzustellen ist dabei auf die Kenntnis der Tatsachen, die zur Erhebung des Wiederaufnahmeantrags berechtigen. Nicht erforderlich ist die Kenntnis davon, daß die bekanntgewordenen Tatsachen das Wiederaufnahmeverfahren ermöglichen, also deren zutreffende rechtliche Würdigung (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. November 1961 VI ZR 246/60, Versicherungsrecht 1962, 175; BFH-Beschluß vom 17. Dezember 1987 V B 80/87, BFHE 152, 35, BStBl II 1988, 290).

Der Antragstellerin wurden die Tatsachen, auf die sie ihren Wiederaufnahmeantrag stützt, nämlich der im Zeitpunkt der Beschlußfassung am 18. Dezember 1991 maßgebliche senatsinterne Mitwirkungsplan vom 26. Juli 1991, aus dem sie die nicht vorschriftsmäßige Besetzung bei der Beschlußfassung herleitet, über ihren Prozeßbevollmächtigten im März 1992 infolge Zusendung des Mitwirkungsplans bekannt. Im Zeitpunkt der Stellung des Wiederaufnahmeantrags war die Frist des § 586 Abs. 1, 2 Satz 2 ZPO i. V. m. § 134 FGO längst abgelaufen.

c) Nach § 56 Abs. 1 FGO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag (vgl. dazu § 56 Abs. 2 FGO) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten muß sich der säumige Prozeßbeteiligte nach § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO anrechnen lassen (ständige Rechtsprechung seit BFH-Beschluß vom 27. Januar 1967 VI R 155/66, BFHE 88, 106, BStBl III 1967, 290; vgl. auch BFH-Beschluß vom 10. August 1977 II R 89/77, BFHE 123, 14, BStBl II 1977, 769).

Mag auch die Antragstellerin selbst der rechtsirrigen Annahme gewesen sein, die Frist zur Einlegung des Wiederaufnahmeantrags könne erst zu laufen beginnen, wenn für sie feststehe, daß die bekanntgewordenen Tatsachen auch die Wiederaufnahme ermöglichen, sich also über den Beginn der Frist schuldlos geirrt haben, so verbietet jedoch der möglicherweise gleichermaßen bei ihrem Prozeßbevollmächtigten bestehende verfahrensrechtliche Irrtum die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Denn ein Rechtsanwalt muß das Verfahrensrecht kennen bzw. es aufgrund des Gesetzes und der dazu ergangenen Rechtsprechung prüfen (ständige Rechtsprechung, vgl. u. a. BFH-Urteil vom 21. Oktober 1987 IX R 129, 131/84, BFH/NV 1988, 437, sowie BFH-Beschlüsse vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546, und vom 29. Mai 1992 VII B 14/92, BFH/NV 1993, 33, m. w. N.). Daß die Antragstellerin ununterbrochen von dem nämlichen Prozeßbevollmächtigten vertreten wurde, ergibt sich schon aus dessen Schriftsätzen vom 11. März und 14. Mai 1992.

2. Soweit sich der Wiederaufnahmeantrag gegen den Senatsbeschluß vom 2. Dezember 1992 richtet, ist er nicht statthaft und deshalb ebenfalls als unzulässig zu verwerfen. Mit dem Beschluß über die Tatbestandsberichtigung (§ 108 FGO) wird nicht ein gerichtliches Verfahren rechtskräftig abgeschlossen. Einem solchen Beschluß kommt keine selbständige verfahrensbeendende Wirkung zu (BFH-Beschluß vom 19. Mai 1992 VII S 5--6/92, BFH/NV 1993, 302).

C. Da sich der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen einen rechtskräftigen, ein Beschwerdeverfahren abschließenden Beschluß richtet, entscheidet der Senat über diesen Antrag durch Beschluß (BFH-Beschluß vom 16. August 1979 I K 2/79, BFHE 128, 349, BStBl II 1979, 710, m. w. N.). Er entscheidet in der Besetzung, die sich aus dem gemäß § 4 FGO, § 21g Abs. 2 GVG für das Geschäftsjahr 1996 vor dessen Beginn aufgestellten Geschäftsverteilungsplan ergibt (s. dazu BFH-Beschluß vom 10. August 1994 X K 4/94, BFH/NV 1995, 141). Danach wirken in Beschlußsachen neben der Vorsitzenden bei Entscheidungen über Sachen aus dem Bereich des Finanzgerichts ... die Richter am Bundesfinanzhof A und B mit.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421904

BFH/NV 1997, 193

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