Entscheidungsstichwort (Thema)

Unzulässige Untätigkeitsklage; kein Verböserungsverbot für Finanzamt nach Erhebung einer Untätigkeitsklage; Grenzen der Aussetzung eines Verfahrens wegen Musterprozeß vor dem BVerfG

 

Leitsatz (NV)

1. Eine Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO ist unzulässig, wenn das Finanzamt dem Kläger vorher mitgeteilt hat, daß es wegen eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Musterprozesses keine Einspruchsentscheidung treffen könne, und wenn nach der Rechtsprechung des BFH (Beschluß vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408) die Voraussetzungen für eine Verfahrensaussetzung vorliegen.

2. Die Erhebung einer Untätigkeitsklage hindert das Finanzamt nicht an einer Verböserung des angegriffenen Steuerbescheides im Einspruchsverfahren.

3. Eine Aussetzung eines gerichtlichen Verfahrens wegen eines beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Musterprozesses ist nicht möglich, wenn es in dem Musterprozeß nicht um die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm, sondern um die Auslegung dieser Norm durch ein Gericht oder um die Frage des gesetzlichen Richters geht.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 363, 367 Abs. 2 S. 2; FGO § 46 Abs. 1, § 74

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Gründe

1. Die Beschwerde ist unbegründet.

a) Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung.

Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) aufgeworfenen Rechtsfragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) geklärt und daher nicht klärungsbedürftig. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) hat den Klägern vor Erhebung ihrer Untätigkeitsklage mitgeteilt, daß es über den Einspruch u.a. wegen der anhängigen Verfassungsbeschwerden (zum Grundfreibetrag) noch nicht entscheiden könne. Diese Mitteilung hat das Finanzgericht (FG) in dem angegriffenen Urteil zutreffend wiedergegeben, so daß die von den Klägern insoweit erhobene Rüge des Verstoßes des FG-Urteils gegen den klaren Inhalt der Akten ins Leere geht. Der vom FA mitgeteilte Grund rechtfertigt es nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß über den Einspruch der Kläger noch nicht entschieden worden ist (vgl. Beschluß des erkennenden Senats vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Da das FA den Klägern somit einen ausreichenden Grund für seine Untätigkeit mitgeteilt hatte, hat das FG daher schon aus diesem Grunde die von den Klägern erhobene Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als unzulässig abgewiesen (vgl. BFH-Beschluß vom 31. August 1971 VII R 36/70, BFHE 103, 381, BStBl II 1972, 20; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 46 Anm.20, m.w.N.).

Unabhängig davon war die Erhebung der Untätigkeitsklage auch mißbräuchlich. Der Mißbrauch liegt u.a. darin, daß die Klage zu einem Zeitpunkt erhoben worden ist, als weder das FA noch das FG eine Entscheidung in der Sache treffen konnten. Die Klage verfehlt daher den Zweck des § 46 Abs. 1 FGO, bereits vor der außergerichtlichen Rechtsbehelfsentscheidung einen Erfolg in der Sache durch das Gericht zu ermöglichen, wenn das FA das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren unangemessen verzögert. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf seinen Beschluß vom 8. Mai 1992 III B 123/92, BFH/NV 1993, 244, Bezug.

Der in einem Wiederaufnahmeantrag und anscheinend auch in einer Verfassungsbeschwerde gegen diesen Beschluß vorgebrachte Einwand, die Erhebung der Untätigkeitsklage sei im Hinblick auf das im Klageverfahren bestehende Verböserungsverbot sinnvoll, verkennt grundlegend die Rechtslage. Das Verböserungsverbot im finanzgerichtlichen Verfahren, das in der FGO nicht ausdrücklich geregelt ist, sondern aus der allgemeinen Rechtsschutzfunktion des gerichtlichen Verfahrens abgeleitet wird (vgl. Gräber/von Groll, a.a.O., § 96 Rdnr.5, m.w.N.), gilt nur für das Gericht. Die Besonderheit eines Untätigkeitsklageverfahrens nach § 46 Abs. 1 FGO liegt aber darin, daß vom FA noch keine Einspruchsentscheidung getroffen worden ist und daher während des Klageverfahrens jederzeit nachgeholt werden kann. Dabei kann das FA den angegriffenen Steuerbescheid selbstverständlich im Rahmen des § 367 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) noch verbösern, da das Verböserungsverbot nur das Gericht betrifft.

Die von den Klägern im Streitfall für erforderlich gehaltene Aussetzung des Untätigkeitsklageverfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages müßte für den Fall einer vom BVerfG für erforderlich gehaltenen Neuregelung durch den Gesetzgeber sogar so lange erfolgen, daß dem FA nach der gesetzlichen Neuregelung noch angemessene Zeit für die Einspruchsentscheidung oder einen Änderungsbescheid zur Abhilfe des Einspruchs verbliebe. Auch dann wäre also noch eine Verböserung möglich. Die Rechtsposition der Kläger hinsichtlich der Verböserungsgefahr durch den eingelegten Einspruch wird durch die Erhebung der Untätigkeitsklage daher in keiner Weise verbessert.

b) Im übrigen ergeht die Entscheidung gemäß Art.1 Nr.6 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 1991, 2288) ohne Angabe von Gründen.

2. Die von den Klägern begehrte Aussetzung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG über die gegen den Senatsbeschluß vom 8. Mai 1992 III B 123/92 und weitere Parallelfälle erhobenen Verfassungsbeschwerden konnte nicht erfolgen. Nach der o.g. Entscheidung des Senats in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 setzt die Aussetzung eines Verfahrens wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens u.a. voraus, daß sich das Musterverfahren gegen die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm richtet. Nach dem Vortrag des Prozeßbevollmächtigten der Kläger geht es bei den genannten Verfassungsbeschwerden nicht um die Verfassungsmäßigkeit einer im Streitfall anzuwendenden Norm, sondern im wesentlichen um die Auslegung des § 46 Abs. 1 FGO durch den Senat und die Frage des gesetzlichen Richters.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418665

BFH/NV 1993, 311

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